Die lichterreiche Weihnachtszeit ist schon zu Ende gegangen, doch bei Benedikt Collinet leuchtet sie noch nach. Statt einem Vollstart ins neue Jahr hat er das Buch „Vom Verschwinden der Rituale“ gelesen und reflektiert in seinem Artikel die (weihnachtlich) ritualgeprägte Zeit.
Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen fiel mir ein Buch in die Hände: „Vom Verschwinden der Rituale“ (2019). Ich stand wieder einmal vor der Frage, wie man als Christ:in eigentlich „richtig“ Weihnachten feiern kann, also die kindliche Stimmung von Nostalgie und Faszination mit dem verbinden, was ich im Theologiestudium gelernt habe und gläubig vollziehen will. Das Buch hat mich dabei auf unerwartete Weise in dieser Grundfrage abgeholt.
Auf gut 100 Seiten schildert Byung-Chul Han Kernthesen seiner größeren Bücher und orientiert sich dabei an der Frage, ob Form (Ritual) oder Inhalte (Informationen) heutzutage mehr Relevanz erhalten sollten (S.41). Wurden Rituale vor allem in spät- und postmoderner Theorie als leer verabschiedet, sieht er gerade darin ihre große Stärke. In diese Richtung dürfte auch sein neustes Buch „Die Krise der Narration“ (2023) zielen.
Kurz zum Autor: Byung-Chul Han, längst nicht mehr ein Geheimtipp der populären deutschen Philosophie, versucht in seinem nüchtern kritischen Stil Gegenwartsanalysen. Seine kurzen Sentenzen sind eingängig, sodass ich versucht bin, das halbe Buch zu markieren, um mir alles zu merken. Als deutsch-koreanischer Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor bezeichnet er sich, seine Methode als Mischung aus kontinentaler Philosophie und Zen, wobei er sein Studium katholischer Theologie je nach Anlass erwähnt. Mit „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010) gelang ihm der Durchbruch auf dem Buchmarkt, seitdem spricht er über Entschleunigung, kritisiert big data und Digitalisierungstendenzen, zeigt sich kapitalismuskritisch und neigt zu einer m.E. pessimistischen bis zynischen, häufig verabsolutierenden und elitären Sicht auf Kultur und Gegenwart.
Der Zeit entgegen stehen
Im Buch beginnt Byung-Chul Han mit der Idee, dass Rituale – etwa der Sabbat – der Zeit eine ähnliche Struktur geben, wie Wohnungen dem Raum, sie „machen die Zeit bewohnbar“ (S.10). Das Gegenbild ist für ihn eine Zeit, die unkontrolliert und im Fluss ist und in der wir uns keine „Räume“ für Pausen mehr einplanen (können). Dies schlage sich auch in unseren vier Wänden nieder: Wenn man lange Zeit den gleichen Tisch, die gleichen Stühle oder das gleiche Bett verwendet, altbekannte Fotografien an den Wänden findet oder seit Jahren die gleiche Zimmerpflanze hat, so stehen diese Gegenstände der Zeit entgegen (S.11-12).
Sie widerstehen dabei einer Welt des Kapitalismus, die auf Konsum und Produktion im möglichst schnellen Wechsel setzt, d.h. nicht-wertige Gegenstände produziert und per Werbung suggeriert, alt sei schlecht und neu sei wichtig.
Denke ich an Weihnachten, dann sind solche fast unvergänglichen Gegenstände für mich die weitergegebenen Christbaumkugeln meiner Urgroßeltern, die Krippe bei meinen Eltern oder die Schale mit den Tannenzweigen in der Adventzeit. Als ritualisierte Zeit können wohl der Advent und die arbeitsfreie Zeit zwischen den Jahren, die einen immer größeren Stellenwert gewinnt, gelten.
Alles oder nichts
Ein Sinnbild für den Verlust an Gegenständen liegt für Byung-Chul Han in der Rede von Daten und Informationen, die ebenfalls im permanenten Fluss gesammelt und verarbeitet werden. Sie scheinen auf den ersten Blick die Welt greifbar zu machen und ihr eine Ordnung zu geben, doch sie sind eigentlich nur Produkte von Prozessen, die wiederum in neuen Prozessen verarbeitet werden und so einen unendliche Regress an Daten hervorbringen, die letztlich alles und nichts aussagen (S.10). Doch schlimmer noch, sie suggerieren, der menschliche Geist brächte letztlich alle Erkenntnis hervor, d.h. Erkenntnis ist nicht mehr , sondern nur mehr Konstrukt oder Produkt einer Erschließung (S.98). Mit dieser Aussage richtet er sich vermutlich gegen Positionen wie der von Yuval Harari, welcher als Populärphilosoph in die gegenteilige Richtung argumentiert und Daten noch vor Atomen zu Grundlagen aller Erklärungen und allen Lebens machen will.
Die Konsequenz eines solchen Denkens stellt dann auch die Inkarnation in Frage. Gibt es einen Gott und offenbart Gott sich oder ist dies alles ein psychophysisches Konstrukt einer anderen – wenn nicht sogar niederen – menschlichen Erkenntnisstufe? Was und wozu feiern wir dann noch religiöse Feste?
Das Handy als (Un-)Ding?
In einem nächsten Schritt fokussiert Byung-Chul Han auf die Unterscheidung Ding und Un-Ding, wobei letzteres der Zeit nicht widerstehen kann oder zur Produktion beiträgt;
wenig überraschend ist das Smartphone für ihn der Inbegriff dieses Un-Dings, da es häufig gewechselt wird, die „Zeit vertreibt“ und keine Ruhe einkehren lasse.
Das Handy diene nicht mehr dazu, Beziehungen aufzubauen, sondern nur mehr Verbindungen herzustellen – ein erster Punkt wo ich nicht grundsätzlich aber doch entschieden widersprechen muss: für digital natives und Social-Media-User*innen ist das Smartphone eine wichtige Art der Kommunikation, die nicht nur einseitig und aufgesetzt sein muss, sondern über die selbst in weiter Entfernung Nähe und Beziehung geschaffen und erhalten werden kann.
Da ich in einem anderen Land als der Großteil meiner Familie lebe, ist für mich an Weihnachten der Online-Raum oft die einzige Möglichkeit der Begegnung; und auch wenn es fein ist, Fernseher und Spotify mal ruhen zu lassen, möchte ich doch Bachs Weihnachtsoratorium, Rolf Zuckowskis „Dezemberträume“ oder die Weihnachtsklassiker wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, oder „Der kleine Lord“ nicht missen.
Der Blick hinter die Kulisse
All dies klingt ein wenig nach Kitsch und ließe sich auf Social Media sicher lukrativ anbringen – würde Byung-Chul Han wohl einwenden. Er bemerkt im Blick auf die Kurzlebigkeit und emotionale Aufgeladenheit gegenwärtiger Diskurse zurecht, dass weniger die Vernunft als kurzfristige Affekte öffentliche Debatten beherrschen (S.21): was ich fühle ist schon deshalb wahr, weil es ja mein echtes Gefühl ist. Diese Ichbezogenheit führe auch zu einem Problem mit der vielbeschworenen Authentizität: „[Sie] stellt eine neoliberale Produktionsform dar. Man beutet sich freiwillig in dem Glauben aus, dass man sich verwirklicht.“ (S.27)
Dieser Zwang (zur Authentizität) bezieht sich nicht nur auf perfekt inszenierte wie „die ungeschminkte Influencerin“ oder „der pizzaessende Trainer“, er fordere auch eine Form von Toleranz, die jegliche Grenze und Schwelle in uns auszulöschen suche (S.46). Als Beispiele für Extremformen nennt Byung-Chul Han den Versuch, die Lebensgrenze des Todes medizinisch und kosmetisch wegzuproduzieren (S.63) und die weite Verbreitung und Verfügbarkeit von Pornographie, die alles unzweideutig und transparent darstellt, also jede Form von (Körper-) Grenze und Verborgenheit wegbeleuchtet (S.105).
Diese Kritik fordert zu Widerspruch heraus. Doch stattdessen erinnert mich dieses Skandalöse an die klassische Krippendarstellung. Ein ärmlicher Stall, ein leuchtendes Jesuskind in einer Krippe, ein kleines Kruzifix und die durchbrochene vierte Wand, sodass wir diese Szene sehen können. Gott wird Mensch und gerade in dieser unzweideutigen Aussage liegt der Anfang des unfassbaren Geheimnisses, welches mit dem Tod am Kreuz den Kern des Christentums ausmacht. Christ:in sein bedeutet, Geheimniskompetenz zu haben und auch im scheinbar Offenbaren das Verborgene zu erkennen und stehen lassen zu können.
Form statt Inhalt
Byung-Chul Han sieht als Lösungsansatz gegen das contentüberladene Leben eine „durchritualisierte“ Welt nach japanischem Vorbild (S.73). Dort zähle einzig die Form und die stetige Wiederholung, es gehe nicht um die Inhalte. Dabei verweist er auf die Kunst des Geschenkeinpackens, die Teezeremonie oder strenge Höflichkeitsrituale, die eine Lust des Regeleinhaltens hervorbrächten, die dem Konsumzwang entgegenstünde (S.73; 82). Im Westen habe sich der homo ludens als vergleichbares Bild entwickelt, der absichtslos und doch Spielregeln verschriebene Mensch, der nicht produktiv und konsumorientiert lebt (S. 49; 70).
Diese Perspektive erscheint mir insofern problematisch, als sie übersieht, dass absichtsloses Tun einen gewissen Lebensstandard voraussetzt, der nicht auf Subsistenz gerichtet ist. Auch ist Höflichkeit kein leeres Signifikat, sondern eine Beziehungsaussage, die mehr ist als nur spielerisch – gerade auch in Süd-Ost-Asien. Im Hintergrund stehen bei ihm wohl Gedanken der Ent-Werdung im Stile des Zen, die auf eine Abstraktion aller Inhalte hin zur bloßen/entblößten Form abzielen. So endet auch das Büchlein mit der Aussage „zuviel macht krank“ (S.109).
Mit Blick auf meine Frage nach Weihnachten, kommt hier die liturgische Tradition in den Blick.
Nicht nur das Krippenspiel, sondern der ganze Weihnachtsgottesdienst und sogar jegliche Liturgie – so Romano Guardini – ist ein Spiel der Menschen vor Gott. Wir drücken in diesen Ritualen unser Gottesbild, unser Verhältnis zu Gott und unser Selbstverständnis als Kirche aus.
Ob ich nun einmal oder vielmals im Jahr bete oder in die Messe gehe, es kann aus dem richtigen Geist geschehen: der Suche nach Gott.
Byung-Chul Hans Buch rührt an meinen existentiellen Fragen, auch wenn seine Antworten mich überwiegend nicht überzeugen. Als Anstoß für ein neues (Kirchen-) Jahr dienen sie aber allemal; nicht im Geist der Ent-Werdung als Gegenbild zu einem krankmachenden Konsumismus, sondern als Suche nach dem Leben in Fülle, das weder zuviel – noch zu wenig ist, einem Leben in Genügsamkeit.
Hashtag der Woche: #rituale
(Beitragsbild: @anniespratt)
Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 52021 [2019].