Weihnachten naht und damit ertönt in vielen Konzertsälen das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach mit seinem »Jauchzet! Frohlocket!«. Natürlich hat nicht nur Bach ein Weihnachtsoratorium geschrieben, sondern auch eine Reihe anderer Komponist:innen wie der in der Musikszene bekannte Kurt Thomas aus Leipzig in den 1930er Jahren. Doch wer war Kurt Thomas und was macht ihn zu einer umstrittenen Figur in der NS-Zeit? Dominik Dungel ist dieser Frage im heutigen Artikel nachgegangen.

Das Weihnachtsoratorium von Kurt Thomas

»Im Anfang war das Wort« – Mit diesen Worten beginnt das Evangelium nach Johannes (Joh 1,1).

Und mit genau diesen Worten beginnt auch das Weihnachtsoratorium (Op. 17) des aus der Schule des Kirchenmusikalischen Instituts in Leipzig hervorgegangenen Komponisten Kurt Thomas. Die Uraufführung des Werkes fand am 6. Dezember 1931 gleichzeitig in Berlin, Leipzig, Dresden, Nürnberg, Bremen und Flensburg statt.1 Thomas war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt.

Aus musikalischer Perspektive ist das Weihnachtsoratorium ein faszinierendes Werk. Es ist ein kompositorisches Zeugnis historisierender Rückgriffe in einer Zeit, in der das Postulat der »Erneuerung« nicht nur die Kirchenmusik, sondern auch die gesamte Gesellschaft berührt. In sechs Teile gegliedert, beginnt es in einer einleitenden Motette mit eben diesen Worten: »Im Anfang war das Wort«. Auf Grundlage dieser Phrase wird zu Beginn des Werkes eine einstimmige Passage vorgetragen, die in Charakter und Linienführung an gregorianische Idiomatik erinnert. Unisono gipfeln die Worte des Evangeliums dann in »[…] und Gott war das Wort«. Besonders effektvoll und modern, ganz im Gegensatz zu den vorherigen Archaismen, wirkt an dieser Stelle der harmonische Wechsel von As- nach C-Dur. Moderne Elemente werden mit einer traditionellen kirchenmusikalischen Gattung – der Motette – verbunden.

Kurt Thomas – ein Tabuthema?

Seinen ersten kompositorischen Erfolg bestritt Kurt Thomas mit der sieben Jahre vor dem Oratorium entstandenen Missa in a. In der Fachpresse der zwanziger und dreißiger Jahre als »erste große Erneuerungstat« in der Geschichte der evangelischen Kirchenmusik gewürdigt, verhalf sie dem Komponisten zu nachhaltigem Erfolg.2 Bereits 1928, einem Jahr nach Uraufführung der Messe, wurde er durch Vermittlung Karl Straubes, Thomaskantor und Leiter des Kirchenmusikalischen Instituts in Leipzig, als Professor an das Institut berufen. Wer sich gegenwärtig mit Thomas beschäftigt, der wird feststellen, dass der Komponist bis heute eine umstrittene Figur ist. Insbesondere seine Rolle in den 1930er Jahren zur Zeit des Nationalsozialismus wurde immer wieder Gegenstand höchst kontroverser Auseinandersetzungen.

Jüngere Artikel und Beiträge zum Komponisten stammen beispielsweise aus der FAZMusensöhne für die Propaganda«3 vom 10. September 2023 oder etwas älter »Der Fall des Kurt Thomas: Ein Musiker zwischen Anpassung und Selbstbehauptung«4 vom 18. Mai 2004). Eine Sendung vom 2. Juni 2023 mit dem plakativen Titel »Zwischen Anpassung und Widerstand: Der Thomaskantor Kurt Thomas« findet sich beim SWR.5 Gemeinsam ist all diesen Beiträgen doch immer wieder die eine aufflammende Frage: War Thomas Täter oder Opfer? Dieser Konflikt setzt sich bis in die Gegenwart fort. Von 1939 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges war Thomas Leiter des Musischen Gymnasiums in Frankfurt am Main. Das Musische Gymnasium sollte das nationalsozialistische Äquivalent bereits existierender musikalischer Eliteeinrichtungen werden. Ob Thomas den Posten aus eigenem Antrieb oder unter Druck annahm, ist bis heute ein Konfliktfeld. Auch ein Blick auf die von Peter Hofmann verfasste Website zum Komponisten gewährt Einblicke in das sensible Thema.6 Auf eine Anklage erfolgt die Strategie der Verteidigung. Ist der Impetus vieler ehemaliger Schüler:innen von Thomas zwar logisch nachvollziehbar, den früheren Lehrer verteidigen zu wollen, so ist er aber bei der sachlichen Aufarbeitung dennoch nicht hilfreich; ebenso wenig wie die Anbringung des Etiketts »überzeugter Nationalsozialist«. Eine wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte sollte immer auch zu einer umfassenden Aufarbeitung ideologischer Verlinkungen verpflichten. Die Kirchenmusikgeschichte, sieht sich – wie andere Disziplinen auch – mit der Herausforderung konfrontiert, ihre eigene Fachgeschichte aufzuarbeiten. So lehrt das ambivalente und hochkomplexe Spannungsfeld zwischen Subjekt und politischer Doktrin doch immer wieder eines: Man kann sich nicht unpolitisch verhalten. Anlässlich der Olympischen Spiele 1936 beispielsweise komponierte Thomas eine Kantate, die von Goebbels mit einer Silbermedaille prämiert wurde.7

Vereinnahmung von musikalischen Gattungen

Dabei steht der Komponist Kurt Thomas paradigmatisch für eine Gratwanderung mit all ihren Konsequenzen. Diese dürfen uns aber auch heute nicht von der Frage abhalten, was sich »damals« zugetragen hat. Dass zeitgenössische Komponisten ihre Werke dem NS-Staat anbiederten oder sich diese im Sinne der nationalsozialistischen Kulturpolitik vereinnahmen ließen, beweisen unzählige Aufsätze und Beiträge in der musikalischen Fachpresse der 1920er und 1930er Jahre. In der Chormusikzeitschrift Die Musikpflege wurde die Uraufführung des Oratoriums »Saat und Ernte« von Kurt Thomas wie folgt kommentiert:

»Es war ein ganz großer Erfolg für den Komponisten, sein Werk und seine Interpreten. Der Ruf nach dem ›Oratorium unserer Zeit‹ ist gehört worden, der heiße Wunsch nach einem gegenwartsnahen, zeitverbundenen Chorwerk ist in Erfüllung gegangen. In einer Zeit, da der Begriff ›Blut und Boden‹ innerste und ureigenste Bedeutung für unser Volk erlangt hat, liegt es gewiß nahe, die textliche Unterlage für ein Oratorium nach dieser Richtung zu gestalten.«8

Am Beispiel des Komponisten Thomas wird auch heute noch eines deutlich: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus bleibt trotz einzelner medialer Beachtung auch in der Musikwissenschaft ein Tabuthema. Ob Kantate, Motette oder Oratorium: Die NS-Ideologie reichte weit. Aus musikwissenschaftlicher Perspektive ist erst ein Anfang gemacht. Um die Verflechtungen zwischen Komponisten und ihren musikalischen Werken im Kontext des NS-Staates zu untersuchen und die Mechanismen der Instrumentalisierung von Musik – im Besonderen im Bereich der Kirchenmusik – besser zu verstehen, ist es notwendig weiter Fragen zu stellen. Wer glaubt, dass dieses Themenfeld nur annährend hinreichend aufgearbeitet wurde, der irrt. Auch hier gilt: »Mit Worten fängt es an!«

Hashtag der Woche: #musikundideologie


(Beitragsbild @David Beale auf Unsplash)

1 Vgl. Neithard Bethke, Kurt Thomas. Studien zu Leben und Werk, Kassel 1989, S. 349.

2 Vgl. Thomas Schinköth, »War alles nur ein Mythos? Karl Straube, die junge Komponistengeneration und das Leipziger Musikleben der zwanziger Jahre«, in: Festschrift Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig. 150 Jahre Musikhochschule 1843 – 1993, hrsg. von Johannes Forner, Leipzig 1993, S. 104.

3 Siehe: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/kultur/frankfurt-in-der-ns-zeit-musisches-gymnasium-als-eliteschule-der-nazis-19150754.html (10.11.2023).

4 Siehe: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/der-fall-des-kurt-thomas-ein-musiker-zwischen-anpassung-und-selbstbehauptung-1158582.html (10.11.2023).

5 Siehe: https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/der-thomaskantor-kurt-thomas-zwischen-anpassung-und-widerstand-swr2-thema-musik-2023-06-07-100.html (10.11.2023).

6 Siehe: http://www.kurtthomas.de/?l=52 (10.11.2023), Peter Hofmann war Sänger in der Frankfurter Kantorei, die Thomas später leitete.

7 Vgl. Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2007, S. 611f.

8 Hermann Niemeyer, »Uraufführung des Oratoriums ›Saat und Ernte‹ von Kurt Thomas«, in: Die Musikpflege 9/11 (1938), S. 508.

Literatur

Bethke, Neithard, Kurt Thomas. Studien zu Leben und Werk, Kassel 1989.

Klee, Ernst, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2007, S. 611–612.

Schinköth, Thomas, »War alles nur ein Mythos? Karl Straube, die junge Komponistengeneration und das Leipziger Musikleben der zwanziger Jahre«, in: Festschrift Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig. 150 Jahre Musikhochschule 1843 – 1993, hrsg. von Johannes Forner, Leipzig 1993, S. 102–138.

Niemeyer, Hermann, »Uraufführung des Oratoriums ›Saat und Ernte‹ von Kurt Thomas«, in: Die Musikpflege 9/11 (1938), S. 508–509.

dominik dungel

hat das Fachlehramt Musik und Kommunikationstechnik in Ansbach studiert. Danach studierte er von 2016 bis 2022 Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Leipzig. Seit 2021 ist er Stipendiat des Cusanuswerkes und promoviert aktuell im Fachbereich der Kirchenmusikgeschichte. In seiner Dissertation thematisiert er Fragen zu Stilbildung und Instrumentalisierung von Kirchenmusik in den 1920er und -30er Jahren aus wissenssoziologischer Perspektive.

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