Wie lässt sich die Essenz des Christentums unter den Bedingungen der Postmoderne noch zum Ausdruck bringen? Und welche Auswirkungen hat die ehrliche Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Begebenheiten auf das Gottesbild? Simon Schmid plädiert für ein demokratisiertes Gottesbild und zeigt Konsequenzen auf, die für Theologie und Kirche damit einhergehen.

Reflektierten die Frankfurter Schule und Jürgen Moltmann1 noch über den Gottesglauben angesichts des Holocausts – was weiterhin zu tun ist – so addiert sich nun der kirchliche sexuelle und spirituelle Missbrauch zur Glaubenskrise.

„Der Missbrauch ist daher auch so etwas wie die Ausnüchterungszelle jedes vollmundigen theologischen Berauschens an Gott“2.

Die aufgeklärte Christ*in heute ist weit entfernt von einer Gehorsamsreligion, sondern ist aufgefordert, eigenmächtig zu denken und den individuellen Glauben vor sich und vor der liberalen Gesellschaft zu verantworten. Gerade dies wird aber durch die vorherrschende kirchliche Praxis erschwert. Solange kirchlich verfasste Religion hier also keine andere Sprache und keine anderen Formen aufweist, hat Slavoj Žižek recht: Dann muss sie sterben, um die eigentliche subversive Essenz des Christentums zu bewahren.3 Wie aber kann eine solche subversive und der aufgeklärten Gesellschaft angemessene Verkündigung aussehen? Bei aller Notwendigkeit von Dekonstruktion geht die vermeintlich links-liberale Postmoderne dennoch Hand in Hand mit dem zerstörerischen kapitalistischen Neoliberalismus. Die katholische Religion muss gerade hierzu einen kritischen Beitrag leisten, ansonsten ist sie bereits obsolet. Welches Gottesbild kann also noch vermittelt werden in der Welt der Postmoderne, um als Kirche hier und jetzt einen Beitrag leisten zu können? In Europa leben wir heute in mehr oder weniger demokratischen Gesellschaften. Ein monarchischer und obendrein patriarchaler Gott scheint aus der Zeit gefallen.

In der Postmoderne ist es nicht mehr das Volk am Sinai, das von Gott erwählt wird, es ist der einzelne Mensch, der sich Gott erwählt, der sich für seinen Glauben entscheidet. Es ist also Zeit für eine Demokratisierung des Gottesbildes. Die Postmoderne ist da. Setzen wir uns also mit ihr auseinander.

Plädoyer für ein vages Gottesbild

Die Essenz der Religiosität entscheidet sich laut Magnus Striet am Menschenbild, das auch auf das Gottesbild rückspiegelt und umgekehrt – als Ebenbilder sozusagen:

„So wie der Mensch über sich denkt, so denkt er auch über seinen Gott“.4

Durch die Dekonstruktionen der Postmoderne, die ohrenbetäubende Theodizeefrage sowie die Unglaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung angesichts des vertuschten und strukturellen Missbrauchs ist der Gottesglaube immer fraglicher geworden. Eine Reaktion hierauf könnte ein vorsichtiger und zurückhaltender Glaube sein, mit vagem Gottesbild in Form einer Fokussierung auf den Hauch der Hoffnung. Vielleicht können verantwortlich glaubende Christ*innen heute nicht mehr sein als Agnostiker*inen, die noch hoffen. Der bzw. die Agnostiker*in ist aufgrund der empirischen Datenlage indifferent gegenüber einem Gottesbild. Die leise Hoffnung auf Befreiung und Erlösung können sie aber dennoch als Glaubende erscheinen lassen. Bereits ein Deismus, der dem einmaligen Einbrechen Gottes in die Geschichte in Christus traut, ist gewagt. Ein solcher Gottesglaube erscheint angesichts der postmodernen Realität heute kohärenter, logisch haltbarer, zeitgemäßer und somit angemessener und glaubhafter – er ist auch schon gelebter Glaube großer Teile des (Noch-)Kirchenvolkes. Der kirchlichen Verkündigung würde daher eine Betonung des Geistes im Säuseln – nicht in Donner und Sturm – guttun (Vgl. 1.Könige 19,12). Gemeint ist eine Theologie, ein (Nicht-)Gottesbild, das nicht Gehorsam einfordert und einschüchtert, sondern erhebt ohne „triumphalistisch“ zu sein5, das nicht abhängig macht, sondern emanzipiert und befreit – gerade auch im materiellen Sinne.6 Eine entsprechende Verkündigung würde auch Täter*innen weniger „zur Verfügung stehen“7, weil sie weniger Anknüpfungspunkte böte für Klerikalismus, Machtmissbrauch, spirituellen Missbrauch, sexuellen Missbrauch und dessen Vertuschung. Eine solche Verkündigung würde Kirche auch besser zu Gesichte stehen, will sie im vorpolitischen Raum als Körperschaft öffentlichen Rechts weiterhin einen Beitrag zur demokratischen Gesellschaft leisten.

In der Hoffnung steckt das Erlösende

Wie also müsste eine solche postmoderne Theologie und Verkündigung aussehen? Magnus Striet schlägt vor, das Christusereignis als eine prophetische Symbolhandlung Gottes selbst zu deuten, nicht aber als Opfer, um einen Fluch bzw. eine alte Schuld auszulösen.8 Er offenbart sich so als der mitleidende und somit solidarische Gott – „Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7b). Eine solche Verkündigung ist erlösend, denn sie gibt Hoffnung, dass Er vielleicht doch noch etwas mit uns vorhat, dass vielleicht doch nicht alles vergeblich ist, was aktiviert zum Handeln. Die Theodizeefrage bleibt offen und muss ausgehalten werden. Das Christentum als „vager Deismus mit einmaligem Einbrechen Gottes in die Geschichte in Jesus“ bzw. die Offenbarung der Hoffnung als eigentlicher Erlösungstat verschiebt zwangsläufig das theologische Koordinatensystem: Keine klassische Erbsünde, keine Opfertheologie, keine leibfeindliche Sexualmoral, nicht dezidiert jenseitsbezogen. Geglaubt werden kann so sowieso schon lange, ohne dass dies das Katholischsein beeinträchtigen würde. Es stellt sich also nur die Frage, wie lange die Institution noch katholisch ist. So manche*r in der katholischen Kirche denkt bereits darüber nach, aus der Kirche auszutreten, um selbst katholisch bleiben zu können. Bereits Erich Fromm schrieb:

Diese Forderung nach einer neuen nichttheistischen, nicht-institutionalisierten Religiosität – ausgenommen für diejenigen Anhänger der traditionellen Religionen, die den humanistischen Kern ihrer Religion authentisch erleben – ist kein Angriff auf die bestehenden Religionen. Es ist jedoch ein Appell an die römisch-katholische Kirche, angefangen von der römischen Bürokratie, sich selbst zum Geist des Evangeliums zu bekehren.“9

Die Kirche ist dieser Aufforderung nach wie vor nicht nachgekommen. Befreiungstheologie, der synodale Weg und andere progressive Reformbewegungen werden trotz eines Papsts, der einer Art peronistischen10 Version der Befreiungstheologie anhängt, weiterhin blockiert. Religion rechtfertigt sich aber gerade in der Postmoderne durch den effektiven Beitrag in der Welt – an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen (Mt 7,16). Christ*innen müssen demnach Avantgarde sein in der Entwicklung der Menschlichkeit.

Postmoderne Verkündigung: Eine materialistische Metaphysik

Die logischen Konsequenzen eines antiautoritären und demokratischen Gottesbildes sind natürlich auch demokratische Strukturen in der Kirche. Das heißt nicht, dass wie mancher vielleicht befürchten könnte, katholische Kernkonzepte wie z.B. die Jungfrauengeburt oder die Sukzessionslehre aufgegeben werden müssen, aber entsprechende Ausdeutungen und Ämter müssten aus Kohärenzgründen demokratisch legitimiert und geschlechtergerecht organisiert werden. Denn in der liberalen Gesellschaft gehen mit gleicher Würde auch gleiche Rechte einher.

In diesem Text wurde versucht eine postmoderne Theologie vorzuschlagen, eine materialistische Metaphysik11 quasi, die sich einlässt 1) auf ein demokratisiertes (Nicht-)Gottesbild, das dessen Fraglichkeit einbezieht, 2) das ohne Opfermythos auskommt und stattdessen eine Hoffnung offenbart, die 3) einen historisch-materialistischen Anspruch erhebt angesichts der globalen sozial-ökologischen Herausforderungen. Auch aus dem Zusammenhang zwischen dem vertuschten sexuellen Missbrauch und einem als toxisch bzw. überkommen erkannten autoritär-patriarchalen Gottesbild müssen Konsequenzen gezogen werden. Denn trägt bisher theologisch gedachter und kirchlich verkündeter Glaube hieran eine Mitschuld, dann kann das offizielle Gottesbild nicht bleiben, was es ist. Es kann nur gehofft werden, dass eine solche materialistische Metaphysik innerhalb des kirchlichen Vollzugs einen präventiven Beitrag leisten kann.

Hashtag der Woche: #materialistischemetaphysik


Beitragsbild: Bild von Saad auf Unsplash.

1 Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München, 1972.

2 Hans J. Sander, Anders glauben, nicht trotzdem: sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen, Mainz. 2021, 100.

3 Vgl. Slavoj Žižek, The puppet and the dwarf: The perverse core of Christianity. Cambridge MS, 2003, 171.

4 Magnus Striet, Gottes Schweigen. Auferweckungssehnsucht – und Skepsis, Mainz, 2015, 75.

5 Sander, 204.

6> Gustavo Gutiérrez, A theology of liberation: History, politics, and salvation, New York, 1988.

7 Sander, 100.

8 Striet., 48.

9 Erich Fromm u.a., Haben oder Sein: die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München, 1979, 192.

10 Papst Franziskus ist geprägt durch die argentinische „Theologie des Volkes“, welche eine Spielart der Befreiungstheologie ist, die sich bewusst marxistischer Einflüsse verwehrt und anstelle einer historisch-materialistischen Analyse einen organischen bzw. „gesunden Volksglauben“ als Basis des befreiungstheologischen Dreischrittes „Sehen, Urteilen, Handeln“ nutzt, was als Einfluss des oder zumindest analog zur Bewegung des klassischen argentinischen Populismus gesehen werden kann, auch bekannt als Peronismus.

11 Materialistisch ist hier im doppelten Wortsinn gemeint: Das Ernstnehmen der Möglichkeit der Nichtexistenz Gottes, ergo dem Agieren als Christ* in einer Welt ohne direkten Zugriff auf Transzendenz UND als Reminiszenz an den historischen Materialismus, der für die ursprüngliche Befreiungstheologie grundlegend ist und für ein engagiertes Christentum immer noch sein kann.

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simon schmid

studierte Theologie an der KU Eichstätt-Ingolstadt sowie Sozialwissenschaften an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg. Zur Zeit arbeitet er in der kirchlichen humanitären Entwicklungszusammenarbeit.

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