Dass die Welt von John Ronald Reul Tolkien gerade heute wieder ein Revival hat, vor allem bei Fantasy-Liebhabern, ist offensichtlich; dass besonders auch christliche Kreise seit Jahrzehnten ihn als klassische Literatur für sich entdeckt haben, ebenso. Am 25. März ist „offizieller“ Tolkien-Lesetag – Daniela Köder nennt für y-nachten.de ein paar der Gründe, warum es sich heute immer noch lohnt, ihn aufs Neue zu lesen und zu entdecken

John Ronald Reul Tolkien wurde 1892 in Südafrika geboren und anglikanisch getauft; schon dreijährig zog er mit Mutter und Bruder nach England, wo die Mutter nach dem Tod des Vaters mitsamt den Kindern in die katholische Kirche eintrat. Als auch sie starb (John war erst 12 Jahre alt), übernahm ein Oratorianer, P. Francis Xavier Morgan, der ein enger Weggefährte von John H. Newman war, die Vormundschaft über ihn. Dessen christliche Weltsicht und liturgische Verwurzelung prägte Tolkien tief – er wird zeitlebens täglich zur Messe gehen. Der theologiegeschichtliche Hintergrund sei auch kurz erwähnt: Die schweren Auseinandersetzungen des Modernismusstreits mit all seinen Implikationen des Verhältnisses des ‚christlichen Lebens‘ zum ‚säkulären Leben‘ beschäftigten auch Tolkien stark. Seine Weltanschauung ist im Neuthomismus des beginnenden Jahrhunderts begründet und bleibt im Hintergrund seines ganzen Werkes spürbar: „For Tolkien and Newman alike, the substantial body of their work is ‚catholic‘ in so far as it represents an orthodox christian response to the cynisism and materialism of the age.“ (Pears: Tolkien: A celebration)

Wahrheit muss sich subtil zeigen

Der „Fantasy“-Autor Tolkien war zunächst und hauptsächlich Sprachwissenschaftler. In seinem Aufsatz „On Fairy-Stories“ (1939) wird deutlich, dass er Literatur als „Zweitschöpfung“ versteht: Phantasie ermöglicht es dem Menschen, über die überall um ihn herum wahrgenommene (gefallene) Welt hinaus zu sehen, die Dinge so zu sehen, wie sie ihrem Wesen nach gemeint sind, wie sie ursprünglich sein sollten. Für ihn ungewöhnlich ausgesprochen beschreibt er hier die Evangelien als Wirklichkeit gewordenes Märchen (Eukatastrophe); das Märchenhafte in aller guten Literatur sieht er als menschliche Annäherung an die Vollendung der göttlichen Schöpfung. Allzu deutliche – christliche –  Analogien waren nicht sein Geschmack, man erinnere sich an seine Narnia-Kritik an C.S. Lewis. Er war der Überzeugung, dass sich die Wahrheit über die Welt in seiner Literatur subtil zeigen müsse – ebenso, wie es sein Verständnis des Christentums war, dass es weniger eine Religion als mehr eine Sicht auf die Welt sei, die alle Aspekte des Lebens durchdringt, ähnlich wie auch Romano Guardini vom „christlichen Bewusstsein“ als Standpunkt in der Welt schrieb.

Christliche Grundthemen

Als Verdeutlichung dieser These seien nun einige christliche Grundthemen erwähnt, die sich in Tolkiens bekanntesten Werken, der Welt des Hobbits und des Herrn der Ringe, in Mittelerde, finden lassen:

Schauen wir zunächst auf die Art, wie Dunkelheit und Licht in diesen Werken einander gegenüberstehen. Wie in allen epischen Werken der Weltgeschichte (da Dunkel und Licht universelle Symbole sind) ist das Thema zentral für die Geschichte. Sauron ist der „dark lord“, welcher in Mordor, wo die Schatten liegen, über die „dark riders“ herrscht, denen gegenüber beispielsweise Gandalf, der „white rider“ oder Galadriel, die „white Lady of Loth Lorien“1 stehen. Sam Gamgee findet durch einen Stern in der absoluten Dunkelheit seine Hoffnung wieder: „Sam saw a star twinkle for a while. The beauty of it smote his heart, as he looked up of the forsaken land, and hope returned to him. For like a shaft clear and cold, the thought pierced him that in the end the Shadow was only a small and passing thing: there was light and high beauty forever beyond his reach.“ Diese Stelle ist bezeichnend: Dunkel und Licht sind bei Tolkien nie dualistisch gleichwertige Kräfte (anders als beispielsweise im Starwars-Universum), sie stehen einander zwar gegenüber, sind aber nicht auf der gleichen Ebene. Das Licht steht weit über der Dunkelheit und hat bereits gewonnen – auch wenn in jedem Leben und in jeder Zeit das Dunkle neu bekämpft und besiegt werden muss. Das ist ein immanent biblischer Gedanke, denkt man an den bereits endgültig gewonnenen Sieg Christi über Sünde und Tod, ungeachtet der Tatsache, dass wir noch immer in einer Welt leben, in der dieser Sieg je in unsere Zeit, in unserem Leben verwirklicht werden muss.

Die Stärke der Schwäche

Ein zweites Beispiel ist das „Prinzip der Stärke der Schwäche“. Selbstverständlich gibt es in Mittelerde die großen Helden wie Elrond, Gandalf, Galadriel, Aragorn und viele andere. Ihr Beitrag zur Rettung dieser Welt ist wesentlich für die Geschichte – aber nicht letztlich entscheidend für den Sieg. Die kleinen, zufriedenen und zurückgezogenen Hobbits, die Gemütlichkeit und Unabenteuerliches über alles schätzen, werden die eigentlichen Helden der Geschichte – ohne ihr Wesen als „Kleine“ dabei aufzugeben. Elrond sagt über ihren Auftrag, den Ring des Bösen zu vernichten, beim Rat der Großen: „The road must be trod, but it will be very hard. And neither strenght nor wisdom will carry us far upon it. This quest may be attempted by the weak with as much hope as the strong. Yet it is oft the course of deeds that move the wheels of the world: small hands must do them because they must, while the eyes of the great are elsewhere.“ Und die Wendung der Geschichte geschieht nicht dadurch, dass die Kleinen plötzlich zu Großen, Mächtigen werden – sie bleiben klein, und der letzte Teil ihrer Reise scheint nichts als Scheitern zu sein: Frodo schafft es nicht, Gollum zum Guten zu wenden; Sam schafft es nicht, Frodo am Mount Doom vor Gollum zu schützen, und der vielleicht entsetzlichste Teil der Geschichte: Frodo schafft es letztlich nicht, den Ring zu zerstören und seine Macht aufzugeben; die Dunkelheit hat bereits zu sehr von ihm Besitz ergriffen. Und doch wird der Sieg gerade durch all dies Scheitern am Ende errungen. Auch hier findet sich das biblische Motiv, dass Gott Großes aus der menschlichen Schwäche oder Kleinheit erschafft – angefangen von Abraham bis hin zur Erwählung Israels: „Denn du bist ein Volk, das dem Herrn, deinem Gott, heilig ist. Dich hat der Herr, dein Gott, ausgewählt, damit du unter allen Völkern, die auf der Erde leben, das Volk wirst, das ihm persönlich gehört. Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern.“ (Dtn 7,6f.) Der Sieg Christi, der sich in den Evangelien als Herr über den Wind, die Wellen, Krankheiten und sogar den Tod zeigt, wird nicht durch diese Machttaten, sondern durch sein Opfer am Kreuz errungen.

Ein drittes, damit zusammenhängendes Beispiel ist die Rolle des Opfers (im Sinn von sacrifice, nicht victim!) im Werk Tolkiens. Die Proexistenz Jesu für die Erlösung der Welt hat keine genaue Parallele in Mittelerde – Tolkien hat bewusst keine „Christus-Figur“ geschaffen – anders als z.B. Lewis mit Aslan –, wohl aber das Motiv auf verschiedene Charaktere verteilt. Das beginnt mit einer kleinen Szene, in welcher Pippin seine Elben-Brosche in den Dreck wirft auf die Hoffnung hin, dass jemand sie findet und die entführten Hobbits rettet. Er sagt dazu: „It was a wrench to let it go, but what else could I do?“ Und Aragorn antwortet: „One who cannot cast away a treasure at need is in fetters. You did rightly.“ Weit tiefer gehend ist Arwens Opfer, die ihre Unsterblichkeit aufgibt, um mit dem Menschenkönig Aragorn zu leben. Auch Frodos Opfer, durch welches er das Auenland retten will, hat einen schrecklichen Preis, den er erst nach vollbrachter Tat ganz erkennt: „I have been too deeply hurt, Sam. I tried to save the Shire, and it has been saved, but not for me. It must often be so, Sam, when things are in danger. Someone has to give them up, lose them, so that others may keep them.“ Die christliche Wahrheit vom Wert des stellvertretenden Leidens um anderer willen wird für Frodo konkret – er darf am Ende zu den unsterblichen Landen reisen; das Leben im Auenland, der Welt, die er kennt, ist jedoch für ihn zu Ende.

Ein Weckruf aus der Selbstbezüglichkeit

Diese Beispiele zeigen, dass für Tolkien Mittelerde – und somit auch und vor allem die Welt, in der wir leben – eine gefallene Welt ist. Er schreibt: „Dies ist eine gefallene Welt, und zwischen Geist, Leib und Seele herrscht kein Einklang. Das Wesen einer gefallenen Welt ist es nun aber, daß das Beste nicht durch freien Genuß erlangt werden kann, durch ‚Selbstverwirklichung‘, wie man das nennt […], sondern durch Leiden und Entsagung.“ Für ihn war es ein Anliegen, durch seine Literatur die Menschen aus ihrer Selbstbezüglichkeit aufzuwecken und auf ein größeres Ziel des Lebens hinzuweisen, die Sehnsucht nach etwas Heilem, Großen, Guten zu wecken. „Denn trotz des Leids, trotz des Bösen und Schlechten in der Welt gilt, was Sam, mit dem sich Tolkien wohl am ehesten selbst identifizierte, sagt: „There is some good in this world, Mr. Frodo, and it’s worth fighting for.“


1 Dass es sich hierbei wirklich um das Motiv Licht und Dunkelheit und nicht etwa um ethnische Beschreibungen handelt, wie es Tolkien mancherorts vorgeworfen wird, ist für ihn selbstverständlich und ist auch schon von der Beschreibung selbst offensichtlich: Die „dark riders“ werden als unter ihrem Mantel „pale“ beschrieben.

 

Zitierte und weiterführende Literatur:

Ilgner, Oliver: Biographische, theologische und literaturpsychologische Analysen zur Person und zum Werk J.R.R. Tolkiens. Dortmund 2004.

Williams, Donald T.: An encouraging thought. The christian worldview in the Writings of J.R.R. Tolkien, Ohio 2018.

 

Bildquelle: Madalyn Cox / Unsplash

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daniela köder

ist Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Historische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und promoviert im Fachbereich Theologie der Spiritualtiät.

One Reply to “Tolkien und Theologie”

  1. Die vermutlich besten theologischen Werke zu Tolkien sind folgende beiden:

    Freeman, Austin M. Tolkien Dogmatics. Theology through Mythology with the Maker of Middle-earth. Bellingham: Lexham, 2022. (Ein gut zugänglicher umfänglicher Überblick, der verschiedene dogmatische Traktate von der Schöpfung bis zur Eschatologie behandelt und dabei auch viele posthum erschienene Schriften Tolkiens berücksichtigt.)

    McIntosh, Jonathan S. The Flame Imperishable. Tolkien, St. Thomas, and the Metaphysics of Faërie. Angelico Press: Kettering, OH, 2017. (Basierend auf einer Dissertation, daher anspruchsvoller zu lesen, und mit einem starken Fokus auf Tolkiens „Schöpfungsmythos“, der Ainulindale, aber für die zugrundeliegenden metaphysischen Fragen sehr hilfreich.)

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