Mariologie – als Ressource und Potential für eine zeitgemäße Theologie? Dieser Gedanke hebt so manche Augenbraue. In theologischen Diskursen und im Theologiestudium wird dem traditionellen Traktat meist nur behutsam bis stiefmütterlich begegnet. Davon überzeugt, dass sich mit einer kritischen und zeitgemäßen Mariologie entscheidende Themen und Debatten gegenwärtiger Theologie neu verbinden und konstellieren lassen, widmen sich Cornelia Dockter, Felix Fleckenstein, Hannah Judith, Thomas Sojer und Stephan Tautz neu zu verhandelnden Sichtweisen auf Maria. Vertieft wird diese Diskussion bei der diesjährigen Tagung des Nachwuchsnetzwerks Dogmatik und Fundamentaltheologie Ende März in Stuttgart.

Polyphones Streitpotential

Maria zeigt sich als Gallionsfigur verschiedenster Lager und dennoch bleibt die Tochter Israels sperrig, sei es innerhalb süßlicher Frömmigkeitsformen oder feministischen Protestgesten. Aus der Feder des 2019 verstorbenen Freiburger Dogmatikers Peter Walter erschien posthum bei Herder 2022 dessen Mariologie unter dem Titel „Maria in Geschichte und Gegenwart. Befreiende Perspektiven auf die Mutter Jesu.“ 1 Darin unterstreicht Walter in Zusammenarbeit mit Mirja Kutzer,

„dass die mariologischen Aussagen der Schrift wie die der kirchlichen Tradition nicht auf einer Ebene liegen, sondern dass man ihrer Vielfalt nur gerecht wird, wenn man diese Vielfalt anerkennt und in durchaus vielfältiger Weise zu interpretieren versucht.“ (S. 17)

Mit anderen Worten: Eine theologische Annäherung an die Gestalt Maria muss, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will, der Pluralität und Heterogenität der theologischen Debattenlage Rechnung tragen. Allein in den vielschichtigen Facetten einer klassischen Mariologie überschneiden sich wesentliche Grundkoordinaten der Anthropologie, Christologie, Gotteslehre, Ekklesiologie und Eschatologie und nuancieren sich wechselseitig.

Obwohl die ältesten neutestamentlichen Texte Maria keine wirkliche Bedeutung beizumessen scheinen – Paulus verzichtet im Galaterbrief (dem einzigen paulinischen Brief, der überhaupt die Mutter Jesu erwähnt) sogar auf die Nennung ihres Namens –, verzeichnet sie eine theologiegeschichtliche Erfolgsgeschichte sondergleichen. Diese bietet angefangen bei den ersten christologischen Reflexionen und ohne Alterserscheinungen bis heute Boden für Kontroversen und Polarisierungen. Mit den Initiativen Maria 2.0 und Maria 1.0 haben diese zuletzt auch medienwirksame und reibungsintensive Kristallisationspunkte in der deutschsprachigen Kirchenlandschaft erhalten. Über eine Fülle an Figurationen, Titeln und Funktionen verbindet sich mit Maria ein vielseitiges Identifikationspotential, das sowohl innerkonfessionell als auch in einer Kontrastierung des „Protestantismus“ eine symbolgestützte Abgrenzungsmöglichkeit einbringt. So scheint Maria auch heute noch sowohl für dezidiert traditionelle kirchliche Strömungen wie auch für Reformbewegungen Spiegel und Projektionsfläche zu bieten.

Schon Schalom Ben-Chorin unterstrich 1971 in seinem Buch „Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht“2 das theologieproduktive Streitpotential der jungen Frau aus Nazareth, das weit über den binnenkatholischen Disput hinausreicht. Davon zeugt schließlich auch das von Hans Küng und Jürgen Moltmann verantwortete Concilium-Themenheft „Maria in der Kirche“ vom Oktober 1983 als eine Antwort auf Ben-Chorin.3 Traditionelle Marienfrömmigkeit trifft in diesem Sonderheft auf politischen Befreiungskampf, feministische Theologie und ökumenischen Dialog.

Und wie lässt sich Maria in all dem am Ende positionieren? Wer kann sich legitimerweise auf ihren Namen berufen? Die unterschiedlichen Darstellungen Mariens bleiben in den zurückliegenden Debatten immer ambivalent, aber dadurch zugleich dialogbereit. Das darf als ein Indiz für ihre Qualität gelten.

Die Gestalt Mariens als religiöses Role Model und vielschichtiger Begegnungsort

Mit Maria spannt sich ein gewaltiges Spektrum religiöser Erfahrungen und Traditionen auf. Die Gottesmutter steht im Zentrum jahrhundertealter und ganz neuer Rituale der Volksfrömmigkeit, wie auch kontroverser dogmatischer Diskussionen, die zu den bislang einzigen neuzeitlichen päpstlichen Dogmenfestlegungen ‚ex cathedra‘ geführt haben. Schier endlose Assoziationsketten prägen die schillernde Aura um die Mutter Jesu: Mirjam als Jüdin, Maryam im Koran, Modell der Kirche, Vorbild einer (weiblichen?) Frömmigkeit, aber auch zentrale Ikone in der religiösen wie säkularen Popkultur und nicht zuletzt in der Politik.

Insbesondere die politischen Bezüge scheinen im Angesicht des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine rasant an Fahrt aufgenommen zu haben und wirken aktueller denn je: Die Weihe der ganzen Menschheit an das Unbefleckte Herzens Mariens als kirchliche Reaktion auf den Ukrainekrieg ebenso wie Wolodymyr Selenskyjs Ansprache vor einer Marienikone in Kiew lassen nach der Rolle und Funktion politischer Mariologien fragen.4

Maria eröffnet darüber hinaus kultur- und religionsübergreifend eine fruchtbare Dialogbasis.

So bietet die Prophetin, Jungfrau, Mutter Austauschmöglichkeiten persönlicher Frömmigkeit und Kulturtraditionen zwischen Jüd*innen, Christ*innen und Muslim*innen, die in Maria ein gemeinsames Vorbild eines gläubigen Menschen finden.

Aber auch quer durch religiöse wie säkulare Kontexte nimmt Maria – nicht nur theologisch – eine einflussreiche Rolle ein. Die Frau unterm Kreuz, die stillende Mutter mit dem Gottessohn auf dem Arm, die Siegerin auf der Weltkugel die Schlange zertretend schmückt unzählige Kathedralen, Museen und private Haushalte und spricht nicht nur Christ*innen an. Sie erklingt musikalisch, z. B. als Ave Maria, quer über den Erdball. Als Tattoo ziert sie so manchen Rücken.

Diese Beobachtungen führen zu den Fragen, wie marianische Frömmigkeitskultur und Theologie zusammenhängen und welches Potential eine derart ausdifferenzierte Motivik birgt. Um auf diesen langen Schatten der Gallionsfigur Maria neues Licht zu werfen, organisiert das Nachwuchsnetzwerk Dogmatik und Fundamentaltheologie vom 29. bis 31. März in der Akademie Stuttgart eine Tagung rund um die Spannungsfelder einer kritischen und facettenreichen Mariologie. Den Flyer dazu findet ihr hier.

Hashtag der Woche: #mariafeminista


Beitragsbild: Bild von Dirk auf Pixabay

1 Kutzer, Mirja/ Walter, Peter. 2022. Maria in Geschichte und Gegenwart. Befreiende Perspektiven auf die Mutter Jesu (hg. v. M. Hauber), Freiburg i. Br.: Verlag Herder.

2 Schalom Ben-Chorin. 1972. Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht. München: Verlag Paul List.

3 Küng, Hans/ Moltmann, Jürgen. 1983. Concilium. Maria in der Kirche. Heft 10.

4 Auf die Rolle politischer Mariologien im Rahmen der politischen Theorie des 21. Jahrhunderts verweist im Anschluss an das Natalitätsdenken Hannah Arendts insbesondere Adriana Cavarero (vgl. Caverero, Adriana. 2014. Inclinazioni. Critica della rettitudine. Milano: Raffaello Cortina Editore).

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Nachwuchsnetzwerk Dogmatik und Fundamentaltheologie

Das Nachwuchsnetzwerk Dogmatik und Fundamentaltheologie bildet als fachwissenschaftliches und berufsbezogenes Netzwerk angehender Fundamentaltheolog*innen und Dogmatiker*innen und verwandter Disziplinen ein interdisziplinäres Dialogforum besonders für Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich mit einer Qualifikationsarbeit befassen. Die jährlich stattfindenden Treffen dienen dabei v.a. dem Austausch von Ideen, der Vorstellung eigener Projekten und dem wissenschaftlichen sowie hochschulpolitischen Diskurs.

One Reply to “Maria – Zwischen Identitätsmarker und Pluralitätsfigur”

  1. Ich freue mich sehr über ein neues Nachdenken über Maria. Vergangenes Jahr haben wir in der Katholischen Akademie Hamburg in einem Studientag die feministische und interreligiöse Sicht auf Maria stark gemacht. Beteiligt waren: Sr. Maria Magdalena Jardin, Imamin Halima Krausen, Prof. Klaus v. Stosch, Prof. Muna Tatari.
    Siehe dazu auch den Podcast in vier Folgen https://www.podcast.de/episode/595618829/katholisch-muslimisch-feministisch-maria

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