Anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung fordern Julia Rath und Johannes Mallow, dass Diversität und Inklusion endlich zur Normalität werden.

Ableismuserfahrungen

Aufgrund unserer Behinderungen werden wir, die Autorin und der Autor, anders betrachtet, anders behandelt, anders wahrgenommen. Beispielsweise werden wir einfach geduzt oder man versucht, uns gegen unseren Willen irgendwohin zu schieben. Mittlerweilen kennen wir eine Bezeichnung für derartige Erfahrungen: „Ableismus“.

Tanja Kollodzieyski definiert diesen als „gewisse Erwartungshaltung von nicht-behinderten Menschen gegenüber behinderten Menschen“. Er tritt auf, „wenn nicht-behinderte Menschen es als gesetzt erachten, dass ihre Vorstellungen die Realität abbilden.“1

Behinderung wird in der Gesellschaft oft nicht mitgedacht. „Egal ob in den Nachrichten, der Politik oder auf Veranstaltungen: Menschen mit Behinderung werden selten gezeigt und so gut wie nie angesprochen, egal ob als Leser*innen, Kund*innen oder Wähler*innen.“2

Gottesebenbildlichkeit und Gleichheit

Diese Markierung der Andersartigkeit, die auch als Othering bezeichnet wird, widerspricht der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Wir alle sind Abbild des einen Gottes.3 Daher sollten wir nicht zwischen den Menschen unterscheiden, sondern ihnen allen die je eigene Würde zuerkennen.

Aus philosophischer Sicht hilft ein Rückgriff auf René Descartes: Der cartesische Dämon gaukelt unserem Ich möglicherweise alles, was existiert, nur vor. Unser Ich kann nicht wissen, ob es das einzige Ich auf der Welt ist oder nicht. Um ein sinnerfülltes Leben führen zu können, scheint es jedoch angebracht zu sein, auch allen anderen Menschen ein Ich zuzuschreiben. Alle diese Ichs unterscheiden sich von unserem ganz persönlichen Ich und sind dennoch ihrem Wesen nach gleich. Die Erkenntnis der Konsistenz des eigenen Ichs, welche jede*r von uns über die gesamte Lebensspanne erfährt, muss zwangsläufig zu dem Schluss führen, dass eine Veränderung des Körpers nicht das Ich austauscht, sondern wir im Grunde immer dieselben sind.

Inklusion als Grundlage

Wenn Inklusion schon im Kindergarten Alltag ist, warum sollte ein Kind dem Ich eines anderen Kindes, ob behindert oder nicht, jeweils eine andere Beschaffenheit zuordnen? Es wächst heran mit folgender Selbstverständlichkeit: Jede*r ist anders. Niemand ist besonders anders.

Was aber tun wir mit einer bereits geprägten Gesellschaft? Hier kann die Kraft der Erkenntnis helfen. Also sollten wir dafür sorgen, dass wir Menschen lernen, nachzudenken. Wir sollten uns Zeit nehmen und Gelegenheiten schaffen, die uns erkennen lassen, dass jedes Ich im Kern gleich ist.

Umsetzung der Menschenrechte

Seit 1993 wird am 3. Dezember der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung gefeiert. Mit seiner Hilfe soll das „Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderung“ gestärkt werden.4 Dabei geht es um die Achtung und Umsetzung der Menschenrechte. Die UN-Behindertenrechtskonvention baut unter anderem auf folgenden Grundsätzen auf: Achtung der Menschenwürde, Nichtdiskriminierung, gleichberechtigte Teilhabe sowie Chancengleichheit (Art. 3 UN-BRK).5 Ihr liegt das soziale Modell von Behinderung zugrunde. Das heißt, dass „Behinderung nicht als medizinisches oder individuelles Problem der betroffenen Menschen, sondern als Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Barrieren“ verstanden wird.6

Folglich müssen diese Barrieren abgebaut werden, um die Menschenrechte gewährleisten zu können. Dadurch werden behinderte Menschen sichtbarer. Sie beanspruchen mehr und mehr den Platz in der Mitte der Gesellschaft, der ihnen eigentlich zusteht. Ob barrierefreie Busse oder Bahnen, ob Fahrstuhl im Club oder Rampen im Museum, jede*r sollte gleichberechtigt am Leben teilhaben können.

Chancengerechtigkeit als Ziel

Dazu benötigen wir außerdem Gesetze, Quoten und Nachteilsausgleiche. Derzeit betrifft die Ungleichbehandlung alle Bereiche des Lebens.7 Obwohl es beispielsweise ein Recht auf inklusive Bildung gibt,8 stellt das Deutsche Institut für Menschenrechte fest, „dass der Umsetzungsstand weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. In keinem Bundesland ist der notwendige gesetzliche Rahmen, eine inklusive Schule zu schaffen und zu gewährleisten, abschließend entwickelt worden.“9

Bildung ist der Schlüssel zur Chancengerechtigkeit: So ist auch eine inklusive lebenslange Bildung notwendig. Beispielsweise legt das Berliner Erwachsenenbildungsgesetz fest, dass der Zugang zur Erwachsenenbildung u. a. nicht aufgrund von Behinderung oder chronischer Erkrankung eingeschränkt werden darf. (§ 1 Abs. 2 EBiG)

Durch gegenseitige Erkenntnis und den Abbau von strukturellen Diskriminierungen können Ungerechtigkeiten überwunden werden. Die Menschenrechte müssen geachtet und vor allem auch umgesetzt werden. Dazu ist es notwendig, Menschen mit Behinderung als Expert*innen einzubeziehen. So kann das Motto „Nichts über uns ohne uns“ umgesetzt werden. Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, dass Diversität und Inklusion Normalität werden und alle Menschen ihre Potentiale ungehindert entfalten können.

Hashtag der Woche: #vielfalterkennen


(Beitragsbild: elevate)

1 Tanja Kollodzieyski, Ableismus (Aufklärung & Kritik 527), Berlin 2020, 4.

2 Ebd., 5.

3 Vgl. dazu auch die Aufforderung zu mehr Selbstliebe von Birgit Mattausch auf https://www.instagram.com/p/ClazP82tErV/ (27.11.2022).

4 https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/301408/internationaler-tag-der-menschen-mit-behinderung/ (22.11.2022).

5 Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung (Hrsg.), Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein, Stand: November 2018, veröffentlicht auf:https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/rechtliches/un-brk/un-brk.html (27.11.2022).

6 Swantje Köbsell, 50 behindertenbewegte Jahre in Deutschland, in: bpb, Menschen mit Behinderungen, APUZ 69 (6-7/2019), 24-30, hier: 28.

7 Mit intersektionaler Perspektive sei exemplarisch auf zwei Aspekte hingewiesen: Frauen mit Behinderung werden häufiger Opfer von Gewalt und Geflüchtete mit Behinderung werden oftmals nicht adäquat versorgt. Vgl. dazu Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum 1,8 (1998), 139–167; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Lebenssituation von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Kurzfassung, Bielefeld u.a. 2012, 60-61, veröffentlicht auf: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-beeintraechtigungen-und-behinderungen-in-deutschland-80576 (27.11.2022); https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/gefluechtete-menschen-mit-behinderungen (27.11.2022).

8 Vgl. dazu Art. 24 iVm Art. 4 Abs. 2 UN-BRK.

9 https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/rechte-von-menschen-mit-behinderungen/bildung (27.11.2022).

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julia rath und johannes mallow

Julia Rath studierte Katholische Theologie, Latein und Erziehungswissenschaften in Würzburg. Sie analysiert in ihrer Doktorarbeit die sogenannten Psalmen Salomos und arbeitet als Bereichsleiterin für Diversität, Integration und Inklusion am Servicezentrum der Berliner Volkshochschulen. Dr. Johannes Mallow wurde 2016 im Bereich Medizintechnik promoviert. Anschließend begann er als selbstständiger Gedächtnistrainer zu arbeiten und hilft seitdem Menschen beim erfolgreicheren Lernen. Grundlage hierfür ist sein zweimaliger Gewinn der Gedächtnisweltmeisterschaften 2012 und 2018.

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