Bald ist es wieder so weit – bald kann Weihnachten werden! Wie? Das erfahrt ihr in unserer druckfrischen Neuerscheinung Weihnachten kann erst werden, wenn… Mit dieser kurzen Leseprobe lassen wir euch vorab schon einmal daran teilhaben, welche Gedanken sich Raphaela Soden dazu gemacht hat.

Die Frage, wann und wie eigentlich Weihnachten wird, begleitet mich schon eine ganze Weile. In meiner Kindheit wurde mir suggeriert, es hinge von mir, von meinem Zutun ab. Ich glaube, es war meine in der römisch-katholischen Kirche tief verwurzelte Großmutter, die in einem Jahr auf die Idee kam (ich kann nicht älter als sechs Jahre gewesen sein), ein schon bei ihren Kindern, u. a. meiner Mutter, angewandtes adventliches Ritual zu reaktivieren. Sie platzierte den Miniaturfuttertrog aus Holz, den sie an Weihnachten zwischen Maria und Joseph in die Krippe stellte und der dann nach dem Heiligabendg*ttesdienst das Christkind beherbergen würde, schon in der Adventszeit gut sichtbar in einem Regalfach in der Küche. Sie erklärte mir, dass ich, immer wenn ich „etwas Gutes“ getan hätte, einen Strohhalm in den Trog legen dürfe, damit das Jesuskind an Weihnachten auch weich liegen könne. Ich konnte für Jesus Strohhalme verdienen, indem ich artig und folgsam war, keine Widerworte gab, beim Tischdecken half, Schokolade mit meinen jüngeren Geschwistern teilte und ähnliches. Die Deutungshoheit über strohhalmwürdiges Verhalten lag bei den mich umgebenden Erwachsenen. Mir wurde unter anderem auch mein Lieblingsspielzeug für „die armen Kinder in Afrika“ abgepresst mit der mein Gewissen quälenden Beschuldigung, dass das Christkind wegen mir hart liegen und frieren müsse. Falls es überhaupt in eine Krippe ohne Strohhalme käme.

Ich lernte also, wie ich zu sein hatte und was zu tun war, damit Weihnachten werden konnte, damit G*tt Mensch werden konnte in dieser Welt: Es kam auf mich an, vor allem aber auf meine Selbstverleugnung, auf das Erfüllen von mir vorgegebenen Normen und auf das Zufriedenstellen von Menschen, die Macht über mich hatten und zu wissen schienen, wer G*tt ist und was er*sie von Menschen verlangte. Learnings aus der Hölle des emotionalen und geistlichen Missbrauchs – gepaart mit toxischen G*ttesbildern, christlich-kolonialistischen Narrativen und Adultismus.

Dabei stellt die Botschaft von Weihnachten doch gerade Machtverhältnisse – sowohl explizit politische als auch gesellschaftlich normative – fundamental in Frage. Das G*ttliche soll laut biblischer Erzählung in einem Kind Mensch geworden sein, das gerade nicht im gut gepolsterten und warmen Luxuskinderbettchen im Königspalast des Herodes liegt. Die Abstammung des Kindes ist vielmehr unklar. Der soziale Vater soll nicht der biologische sein. Das Kind entsteht im Bauch der Mutter, bevor sie mit dem Vater verheiratet und sexuell aktiv gewesen sein soll. Dennoch bleibt er bei der Mutter und dem werdenden Kind. Die ersten, die von der Geburt erfahren, gehören nicht zu den oberen Zehntausend. Sie hüten Schafe, vermutlich nicht einmal die eigenen. Ihnen erscheinen die Engel G*ttes und verkünden Freude, Befreiung und Frieden. Alles in allem kein Szenario, mit dem sich gut heteronormativ-familistische, patriarchale, klassistische, adultistische und machtpolitische Strukturen sowie geistlicher Missbrauch legitimieren lassen.

Inkarnation impossible?

Als jugendliche Person ist mir irgendwann der Gedanke wichtig geworden, dass Weihnachten, dass Menschwerdung nicht irgendetwas ist, was vor 2000 Jahren irgendwo in Bethlehem (oder vielleicht doch in Nazareth?) – auf jeden Fall weit weg – geschehen ist, sondern etwas, was mich selbst betreffen könnte. Ich weiß nicht mehr wo, aber irgendwo ist mir der viel zitierte und in Weihnachtspredigten gerne bemühte Spruch „Mach’s wie G*tt. Werde Mensch!“ begegnet. Ich glaube, ich habe diesen damals weniger als Aufforderung denn als Erlaubnis verstanden, die Person werden und sein zu dürfen, die ich bin. Nicht so sein zu müssen, wie es elterlichen, kirchlichen und/oder gesellschaftlichen Normen entspricht, sondern authentisch zu sein, ich zu sein. Einerseits eine Weihnachtsbotschaft, die ich als befreiend erlebt habe. Andererseits gar kein so leichtes Unterfangen, wenn mensch noch gar nicht weiß, wer mensch ist und genau damit zu kämpfen hat, möglicherweise den Rahmen des Denkbaren und vermeintlich G*ttgewollten zu sprengen. Auch wenn mir dies damals noch gar nicht explizit bewusst gewesen ist, hatte ich doch immer das Gefühl, nicht richtig zu sein.

Heute weiß ich, dass es viele Menschen gibt, die es schwer haben in dieser römisch-katholischen Kirche (aber auch in manch anderen christlichen Denominationen), sich so, wie sie sind, in ihrem Menschsein anzunehmen. Wie sollen Menschen wie ich, die z. B. (gender)queer, nichtbinär, agender, trans- und/oder intergeschlechtlich sind, auch Mensch werden, uns inkarnieren, uns einfleischen in unsere Körper, in die Welt, in diese römisch-katholische Kirche, die sich als Leib Christi begreift und deren (Körper-)Teil doch eigentlich alle werden durch die Taufe, wenn wir den lehramtlichen Vorstellungen, wie mensch zu sein hat, gar nicht entsprechen können? Das römisch-katholische Lehramt weiß offenbar genau, wie G*tt sich Menschsein gedacht hat, vor allem, welche Geschlechter- und Sexualitätsnormen Menschen zu verkörpern haben, damit sie ihr g*ttgewolltes Menschsein nicht verfehlen.

Was es bedeutet, Binarität als Schöpfungsordnungsprinzip zu behaupten

Dies lässt sich z. B. im „Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in Kirche und Welt1 aus dem Jahr 2004 nachlesen. Dort wird die erste Schöpfungserzählung in Genesis 1 so interpretiert, dass G*ttes Schöpfungshandeln darin bestünde, aus dem Chaos den Kosmos, also die geordnete Welt, zu machen, indem G*tt das eine vom anderen scheidet und so Binarität schafft: „Licht und Finsternis, Meer und Land, Tag und Nacht, Pflanzen und Bäume, Fische und Vögel, alle ‚nach ihrer Art‘“2, schließlich auch den Menschen als Mann und Frau.3 Auf diese von der Glaubenskongregation konstatierte komplementäre und binärgeschlechtliche Verfasstheit des Menschen wird dann auch die G*ttebenbildlichkeit bezogen.4 Im Dokument „Als Mann und Frau schuf er sie“ aus dem Jahr 2019 wird sogar behauptet, dass „Mann und Frau die beiden Modalitäten [seien, Ergänzung R. S.], in denen sich die ontologische Wirklichkeit der menschlichen Person ausdrückt und verwirklicht“.5 Damit wird allen Menschen, die keine (cis) Männer oder Frauen sind, Menschen wie mir, letzt-endlich das Personsein, das Menschsein abgesprochen. Ein ausdrücklicheres Beispiel für die Feststellung der*des prominenten Gendertheoretiker*in Judith Butler, dass Geschlecht damit zusammenhängt, „wer für das anerkennbar Menschliche in Frage kommt und wer nicht“, lässt sich schwer finden.6 Genauso schwer erträglich ist die normative und spirituelle Gewalt, die von solchen Aussagen ausgeht und die verhindert, dass Menschen sich selbst als wunderbar von G*tt gemacht, als G*ttes Bild wahrnehmen können.

Transition als Inkarnation

Kann angesichts dessen Weihnachten werden? Ich bin geneigt, dies zu verneinen. Doch: Ich habe schon Weihnachten werden sehen. Nicht nur einmal. Allerdings habe ich erst verstehen lernen müssen. Denn es war kein Weihnachten, an dem alles gut ist, an dem Gewalt, Diskriminierung und Angst tatsächlich ein Ende haben. Ich habe es endgültig verstanden, als ich 2020 kurz vor Weihnachten das Video zum Song „The Star of Bethnal Green7 von Bear’s Den gesehen habe. Es spielt an Heiligabend. Eine Person sitzt einsam in ihrer halbdunklen Wohnung und macht sich schließlich auf in eine Kneipe mit dem Namen „The Star of Bethnal Green“. Dort setzt sie sich an
die Theke und bestellt ein Getränk. Auf der Bühne fängt eine trans Frau an zu singen. Die Person scheint wie vom Blitz getroffen. Der Liedtext erklärt, warum. Sie kann sich in der Sängerin wiederfinden und es fühlt sich an, als würde sie in diesem Moment in der Bar getauft werden.[8] Der Augenblick scheint lebensverändernd für sie zu sein. Sie fühlt sich plötzlich mitten in ihrem Schmerz G*tt nahe und erkennt, dass sie ihr ganzes Leben lang versucht hat, zu ignorieren, wer sie ist. Der Refrain setzt ein:

„But love, I’m alive / And maybe the Star of Bethnal Green / Could lead us back to Bethlehem / Lord, I have tried / And maybe the Star of Bethnal Green / Could lead us back to Bethlehem.“9

Nachdem die Gesangsdarbietung in der Bar zu Ende ist, gehen die beiden gemeinsam in die leere dunkle Wohnung der Protagonistin. Dort hilft ihr die Sängerin, die Kleider, die in ihrem Schrank hängen, anzuziehen und sich zu schminken. Der Liedtext macht deutlich, wie heilsam diese unterstützende Begegnung für die Frau ist. Sie lächelt befreit und glücklich angesichts dessen, endlich sein zu können, wer sie ist: sich offensichtlich das erste Mal im Spiegel zu erkennen, sich in sich behausen zu können. Auf einmal sitzt sie allerdings wieder alleine in ihrer Wohnung. Sie eilt zum Fenster und sieht die Sängerin weggehen. Diese dreht sich noch einmal um. Blut läuft über ihr Gesicht. Der Anblick erinnert an Bilder des dornengekrönten Jesus. Die Frau am Fenster erschrickt. Die Sängerin zuckt entschuldigend mit den Schultern, winkt und läuft weg. Die Musik endet. Ein Text wird eingeblendet. Es ist zu lesen, dass im Jahr 2019 weltweit mindestens 331 trans Menschen ermordet wurden. Das Bild wird schwarz. In der Schlussszene öffnet die Frau als sie selbst mit frohem Gesicht die Tür und verlässt das Haus. Im Hintergrund sind Kirchenglocken zu hören, die zum Weihnachtsfestg*ttesdienst rufen.

Der Preis der Menschwerdung

Als Person, die selbst die Kategorie überschreitet, in die sie andere bei Geburt gesteckt haben, also auch trans ist, hat mich dieses Video tief im Inneren berührt. Gerade der Augenblick, in dem die Frau mit sich selbst in Kontakt kommt, sich mit ihrem Transsein verbindet, wird zum Moment der G*ttesbegegnung und der Menschwerdung. Sie wird sie selbst. Sie wagt, der Mensch zu sein, der sie ist. Sie nimmt Wohnung in sich, wird sichtbar, inkarniert. Ich glaube, so kommt etwas vom G*ttlichen in diese Welt. Dabei wird deutlich, dass Weihnachten, dass Menschwerdung nichts mit Marktbudenbeschaulichkeit zu tun hat. Menschwerdung hat ihren Preis. Sie bedeutet, sich berührbar zu machen, verletzlich zu werden, sich auszusetzen, angreifbar zu sein und womöglich auch verletzt zu werden. Wir kommen nicht ungeschoren davon. Wenn ich an Karfreitag denke: auch G*tt nicht.

Ich habe schon Weihnachten werden sehen. Im Mut zur Transition. In Momenten, in denen sich Menschen wahrhaftig voreinander gemacht haben mit dem Risiko, verletzt zu werden. In dem Workshop, in dem eine Person sich vor allen sichtbar gemacht und sich als trans geoutet hat. Als eine Überlebende physischer, psychischer und spiritueller Gewalt sich selbst als g*ttverkörperungsfähig und -würdig verstehen konnte.

Vielleicht werden uns ganz andere Orte, Erfahrungen und Menschen zu Betlehem, zum Ort der Menschwerdung, als wir vermuten. Weihnachten wird zum Glück nicht erst, wenn die römisch-katholische Kirche nicht mehr diskriminierend, missbräuchlich und gewaltvoll ist. Doch wie schön wäre es, wenn sie nicht länger der Grund dafür wäre, dass Menschen sich wünschen, es möge doch endlich Gerechtigkeit regnen über alle?!

Hashtag der Woche: #transitionalsinkarnation

© Mit freundlicher Genehmigung der Herder Verlag GmbH


(Beitragsbild: Nikola Janovic)

1 U. a. Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Vatikanstadt 2004.
2 Ebd., Nr. 5.
3 Dass im hebräischen Text nicht von „Mann“ und „Frau“ die Rede ist, sondern von „männlich“ und „weiblich“ und jüdische Auslegungen durchaus die ersten Menschen in Gen 1 als androgynoi verstehen, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Auch dass Exeget*innen darauf hingewiesen haben, dass es sich bei der Nennung der Paare um Merismen handelt, einem Stilmittel, welches zwei Elemente nennt, um auf eine Gesamtheit zu verweisen, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden.
4 Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Nr. 5.
5 Kongregation für das katholische Bildungswesen: „Als Mann und Frau schuf er sie“. Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen, Vatikanstadt 2019, Nr. 34.
6 J. Butler, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a. M. 2011, 11.
7 Bear’sDen/J.Graf(Regisseur),The Star of Bethnal Green,YouTube 2019, https://youtu.be/aUDJqKgjEDU, (Zugriff: 15.05.2022).
8 Ebd., „When I heard you sing/It felt like a christening/A baptism at the back of the bar/I fell under your spell/You sang my life so well.“
9 Ebd.

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raphaela soden

ist Referent*in für Junge Erwachsene, Sozialpädagog*in und Theolog*in, Trainer*in für Diversity und Social Justice, Mitglied der Steuerungsgruppe von #outinchurch. Mehr von Raphaela (Insta: feuerfunkenflug) unter www.feuerfunkenflug.de.

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