Was kann die Theologie in den großen Krisen der Gegenwart beitragen? Anne-Kathrin Fischbach die diesjährige Gewinnerin des Publikumspreises bei den Salzburger Hochschulwochen, geht dieser Frage für uns nach.

Krisen überall – das allerorts um sich greifende Gefühl, dass die Welt schneller brennt als wir zu löschen vermögen. Die Einsicht, dass auf perfide Weise vielerorts sogar noch Öl ins Feuer geschüttet wird. Dass da eine Welle anhebt, die uns verschlingen wird. Die verständliche Reaktion darauf: Angst. Eine andere, zunächst sehr viel weniger verständliche: anhaltende Orientierungslosigkeit. Sind wir bereits im umfassenden Fatalismus gestrandet – haben wir die Hoffnung schon verloren oder ist uns der Ernst der Lage immer noch nicht ausreichend bewusst? Greta Thunbergs nachvollziehbarer Wunsch „I want you to panic“1 scheint für unsere Gesellschaft, sofern sie denn überhaupt schon „panicked“, nicht unmittelbar in sinnvolle Handlungsoptionen umsetzbar zu sein. Betrachtet man die Funktionsweise logischen Denkens jedoch eingehender, so wird deutlich, dass die beiden oben benannten, zunächst widersprüchlich erscheinenden, Reaktionen – Angst und Orientierungslosigkeit – intrinsisch miteinander zusammenhängen könnten – und ein „panicking“ womöglich gar nicht wünschenswert ist.

Eine Folge von Angst ist zunächst nämlich weniger Produktivität, sondern vielmehr Schockstarre; sie lähmt das Denken und führt dazu, dass Menschen instinktiv handeln – was wiederum dazu führt, sich lieber in altbewährten, breit ausgetretenen Denkschemata zu bewegen.2 Das Dilemma daran: Diese führen offensichtlich gerade dann nicht weiter, wenn die Herausforderungen an unser Denken sich so massiv ändern, wie dies gegenwärtig der Fall ist.3

Um den Herausforderungen unserer Zeit begegnen zu können, geht es allerdings weniger darum, immer neue Wissensinhalte anzusammeln, an denen es uns vermeintlich (noch) fehlt, bevor wir Bewältigungsstrategien für die Probleme unserer Wissensgesellschaft finden können – niemals stand uns potenziell mehr enzyklopädisches Wissen auf Abruf zur Verfügung.4

Was wir jedoch benötigen, ist eine Strategie, mit Wissen selbst umzugehen.

Was kann die Theologie?

An dieser Stelle soll – vielleicht etwas überraschend – eine Lanze für die Theologie gebrochen werden: Theologie ist diejenige Wissenschaft, die traditionell eine Ausrichtung auf Orientierung im Ganzen beibehalten hat – zumindest dem Anspruch nach und wenn sie Gott (auf welche Weise auch immer) als mit allem verbunden versteht.

Wir sind gesellschaftlich aus ganz unterschiedlichen Gründen an einen Punkt gekommen, an dem Theologien die Urteilshoheit darüber, welche Deutung der Wirklichkeit die richtige ist, zu Recht abgesprochen wird. Ich möchte jedoch dafür plädieren, dass eine durch diese Erfahrung demütig und kritikoffen gewordene Theologie einmal mehr – auch unter postmodernen Bedingungen – als eine Orientierungswissenschaft für eine Gesellschaft zwischen Angst und Orientierungslosigkeit fungieren kann.

Der Schlüssel dazu, ob Theologie, auch und vielleicht vor allem vermittelt über die Religionen, diese „Base Camp“-Funktion für die Gesellschaft (mit-)übernehmen kann, liegt in ihrem Umgang mit der Angst verborgen. Greifen wir zur Erläuterung dieser Behauptung kurz zurück: Unsere Angst führt, so war die Anfangsthese – individuell wie gesamtgesellschaftlich – dazu, dass wir uns tendenziell an dem orientieren, was wir bereits kennen. In der Angst setzen wir vorrangig auf Eindeutigkeit und nutzen Methoden, mit denen diese hergestellt und in klare Handlungsoptionen übersetzt werden kann.

Abduktives Denken

Ein kleiner Ausflug in die Welt der formalen Logik veranschaulicht dies: Das angstbehaftete Denken in Eindeutigkeit bedient sich vor allem vorgespurter Muster deduktiver bzw. induktiver Denkweise, die dem Sortieren bereits bekannten Wissens dienen. Allerdings können wir offensichtlich nicht erwarten, dass diese Orientierung am Überkommenen uns die benötigten neuen Orientierungsmuster bereitstellt.5 Es gibt allerdings einen anderen Schluss, der gerade dazu prädestiniert ist, solche neuen Orientierungsmuster zu entdecken – und dieser Schluss, so möchte ich argumentieren, ist interessanterweise auch der Schluss, der paradigmatisch für theologisches Denken ist: der sogenannte abduktive Schluss. Das Spezialgebiet dieser Schlussform ist es, Orientierung zu schaffen, indem sie durch eine Form des intelligenten Ratens neue Verknüpfungen etabliert.

Das abduktive Denken schließt von einer irritierenden Tatsache auf eine Erklärung, mit der Absicht, die Irritation des Momentums zu befrieden. Mit der Erklärung greift der Schluss auf etwas Neues aus, das sich eben gerade nicht aus der dem Schluss vorgegebenen Regel selbst (wie bei der Deduktion) oder der unmittelbar empirischen Umwelt (Induktion) ergibt, sondern aus einer kreativen Verknüpfungsmöglichkeit, die auf Analogie beruht. Dies führt dazu, dass abduktives Schließen nicht notwendig ist, manchmal nicht einmal besonders wahrscheinlich, sondern letztlich rein assoziativ. Abduktives Denken schöpft sozusagen aus einem Möglichkeitsraum, und schafft in diesem Verbindungen, die zuvor noch nicht existent waren. Möglichkeit wird dabei in Realität überführt. Dies passt auch zur Wortbedeutung von Abduktion: „ab-ducere“ – „Entführung“ oder „Wegführung“.

Was das mit Kaffee zu tun hat

Das analogische Element ist dabei wesentlich dafür, dass diese neuen Verbindungen geknüpft werden können. Denn es verschiebt die Abbildbarkeit bzw. Kongruenz von Begriffen aufeinander. Während das univoke Denken des deduktiven bzw. induktiven Schließens von einer zumindest denkerisch zu veranschlagenden Selbigkeit von Begriffen ausgeht, spielt das analoge Denken gerade mit einer graduellen und daher relativen Unähnlichkeit von Begriffen. So fungiert ein Begriff plötzlich absichtsvoll als eine Art „Container“, dem diverse unterschiedliche Begriffe zugesellt werden können. „Schrank“ könnte so über „Kleidungsstück“ über „Tragbarkeit“ schließlich mit „Ohrring“ assoziiert werden; Begriffe kommen zusammen, die an sich überhaupt nicht verbunden sein müssten. Abduktive Schlüsse, die über Analogien funktionieren, verketten Assoziationen kreativ zu Erklärungen für akute Problemstellungen.6 Indem zunächst relationslosen Ereignissen mithilfe von Interpretation(sketten) Sinn gegeben wird, werden sie in bereits vorhandene Sinnstrukturen eingefügt. Durch diese Einfügung entsteht Innovation.

Deutlich machen lässt sich dieser Innovationscharakter an einem ganz alltäglichen Beispiel: Bestelle ich jeden Tag ungefähr zum gleichen Zeitpunkt zuverlässig meinen Espresso bei meiner Barista, verlange dann aber eines Tages plötzlich einen Cold Brew-Kaffee, wird sie, um mein Verhalten zu erklären, vermutlich darauf schließen, dass es draußen sehr heiß ist, selbst wenn ich ihr diese Information explizit nie gegeben habe. Ihr Schluss generiert also eine neue Information für sie. Natürlich kann dieser Schluss auch falsch sein, aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht für ihn. Würde ich jeden Tag Cold Brew-Kaffee bestellen, oder würde die Barista mich kaum kennen, dann läge der Schluss weit weniger auf der Hand. Der Interpretationsrahmen ist also ganz wesentlich dafür, wie die Einfügung eines unerwarteten Ereignisses vorgenommen wird, d.h. welche neue Information generiert wird.

Theologie kann Freiheitsräume eröffnen

Theologien, so meine These, betreiben diese Art der Einfügung von unerwarteten Ereignissen habituell, indem sie fortwährend Ereignisse sub ratione Dei, mit Bezug zu Gott, interpretieren und so Sinnstrukturen anbieten, die sich als Angebote von Gesamtperspektiven auf Wirklichkeit lesen lassen. Über diese abduktive „Arbeitsweise“ hinaus haben Theologien den Vorteil, dass sie denjenigen, die sich auf ihre Perspektive einlassen, einen Freiheitsraum eröffnen, in dem die Erfahrung von Freiheit von den Bedrängungen der spätmodernen Gesellschaft im Allgemeinen und der aktuellen Krisen im Besonderen gemacht werden kann.7

Weil – und insofern – Theologien von einem Gott ausgehen, der Menschen trägt, sie „sein lässt“ und dadurch freilässt, können sie zum „Base Camp“ werden, zu dem Menschen immer wieder zurückkehren, woher sie ihr Ressourcement schöpfen, um die Welt vertrauensvoll nach neuen, noch nicht gefundenen Sinnstrukturen zu befragen, von denen sie glaubend schon wissen, dass es sie geben muss.8

In dem Vertrauen darauf, dass keine Krise so groß sein kann, dass Gott sie nicht noch einmal umfängt, begleitet und durchwebt, dass es auf eine gewisse, wie auch immer prekäre und undurchsichtige Weise bereits gut ist, ist die Möglichkeit angelegt, auch in der Krise handlungsfähig zu bleiben. Dieses Vertrauen, auch Glaube genannt, ist nicht leicht zu gewinnen und nicht leicht zu behalten, es ist nicht selbstevident, dieser Hypothese zu folgen, die selbst abduktiv, d.h. assoziativ, vage, un- bzw. unterbestimmt ist. Doch kann sie womöglich bei näherer Betrachtung durch ihre nahezu unwiderstehliche Attraktivität bestechen: Wer wollte abstreiten, in unserer brennenden Welt ein solches „Base Camp“ dringend nötig zu haben?

Hashtag: #shw22


(Beitragsbild @FabricioMacedoPhotos)

1 Vgl. Greta Thunbergs Rede vor dem World Economic Forum in Davos am 25. Januar 2019: „I don’t want you to be hopeful. I want you to panic. I want you to feel the fear I feel every day.“
2 Bauer, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018.
3 Rasmussen, Larry, Veni Creator Spiritus! Eine ökologische Reformation, in: Biehl, Michael/Kappes, Bernd/Wartenberg-Potter. Bärbel (Hgg.), Grüne Reformation. Ökologische Theologie, Hamburg 2017, 7–26.
4 Vgl. Burkhard, Anne, Wir wissen genug, in: praefaktisch.de – ein Philosophieblog, [o. D.], www.praefaktisch.de/klimakrise/wir-wissen-genug/, [zuletzt online 15. August 2022].
5 Vgl. Charles Sanders Peirce, CP 7.219: „Now, that the matter of no new truth can come from induction or from deduction, we have seen.”
6 Charles Sanders Peirce, der die Schlussweise der Abduktion intensiv ausgearbeitet hat, würde hier aufgrund seiner Semiotik eher von Zeichenverweisstrukturen sprechen.
7 Zu diesen Bedrängungen, die nicht unwesentlich aus der kapitalistischen Durchdringung aller Lebensbereiche der Gesellschaft entstehen vgl. Fraser, Nancy/Jaeggi, Rahel, Capitalism. A Conversation in Critical Theory, Medford 2018, die von Kapitalismus als „form of life“ bzw. „institutionalized social order“ sprechen. Vgl. auch Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Bonn 2018.
8 Vgl. zu dieser Denkfigur des Musements, Charles Sanders Peirce, CP 6.488: „So hard is it to doubt God’s Reality, when the Idea has sprung from Musement, that there is great danger that the investigation will stop at this first stage, owing to the indifference of the Muser to any further proof of it.

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anne-kathrin fischbach

studierte Katholische Theologie und Philosophie in Freiburg und Jerusalem. Sie promoviert und arbeitet im Arbeitsbereich Dogmatik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Gemeinsam mit der Initiative Fossil Free und der KHG Edith Stein engagiert sie sich für einen Dialog über Divestment mit der Erzdiözese Freiburg.

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