Die Katholische Kirche war und ist vielfach ein Ort der Traumatisierung. Nicht erst das jüngst veröffentlichte Münchner Missbrauchsgutachten und die Initiative #outinchurch haben dies gezeigt. Die Zeit pragmatischer Entschuldigungen und Rechtfertigungen muss vorbei sein, meint Michael Pflaum und plädiert dafür, den Betroffenen des Missbrauchs eine primäre theologische Relevanz einzuräumen. Felix Fleckenstein hat sich diesen Entwurf für eine „trauma-existentiale Theologie“ genauer angeschaut.

Nicht länger dürfe es darum gehen, nur auf das System Kirche zu blicken, Täter und Strukturen zu rechtfertigen, vielmehr müssten konsequent diejenigen in den Blick genommen werden, die Überlebende dieser Verbrechen sind. Genau diesen Perspektivwechsel vollzieht Pflaum in seinem Buch. Kontinuierlich bricht er den wissenschaftlichen Duktus seiner Überlegungen auf und flechtet Berichte sowie autobiographische Zeugnisse von Betroffenen ein. Zwei dieser Überlebenden hat er jahrelang seelsorgerisch begleitet. Ihre persönlichen Schicksale zu lesen, ist erschreckend und lassen den Atem stocken.1 Gleichzeitig sind sie ein Mahnmal, das es unmöglich macht zu vergessen, welch reale Grausamkeiten Pflaum zu seinem Buch veranlasst haben. Pflaums Beitrag „Für eine trauma-existentiale Theologie“ bearbeitet das Thema ‚Missbrauch‘ somit nicht als abstraktes Phänomen, sondern als konkretes Zeichen der Zeit, das uns alle in unserem täglichen (kirchlichen) Leben betrifft. Keine Zusammenfassung der 372 Seiten starken Monografie kann daher die Lektüre ersetzen. Deshalb sollen nur die zwei Brennpunkte seines Gedankengangs skizziert werden:

1. Wenn Theologie und Kirche von Traumaforschung lernen, dann verändert dies ihr Menschenbild und ihre Praxis

Sexueller Missbrauch in der Kirche hat Menschen traumatisiert. Daher ist die Beschäftigung von Theologie und Kirche mit den Erkenntnissen der Traumaforschung notwendig.2 Die Möglichkeit von Traumata wird von Pflaum als Existential des Menschen bestimmt. Mit anderen Worten sei also die Möglichkeit von Traumata eine Grundverfassung, die das menschliche Wesen unhintergehbar prägt. Denn der Mensch ist das einzige Säugetier, das durch seine ‚reflexive Natur‘ in der Lage ist, traumatisiert zu werden.3 Die Begründung dafür liefert die Polyvagaltheorie4 in Kombination mit der Traumatheorie Peter Levines5: Muss sich ein Wildtier, um sein Leben zu retten, totstellen, entlädt es sich der eingefrorenen Energie aus dem abgebrochenen Flucht- & Kampf-Modus entweder durch starkes Zittern oder durch ein Nachholen der Fluchtbewegung – die Bedrohung wird abgeschüttelt. Auch wir Menschen haben diese Möglichkeit, jedoch haben wir uns von dieser natürlichen Begabung entfremdet. Unser Neokortex, unsere Vernunft und unsere Gesellschaftskonventionen blockieren das Ausschütteln:

Man darf nicht einfach hemmungslos schluchzen oder wild um sich schlagen, um sich aus der Schockstarre zu befreien. Stattdessen muss man sich gefasst und gesittet verhalten. Unser kulturelles Wissen ist auf Verdrängung statt auf ‚Entladung‘ angelegt und genau hier kann Traumatisierung entstehen.

Diese Verdrängung kann dann zu einer Disharmonie unseres Inneren-Familien-Systems (IFS) und zur Verdrängung gewisser mit dem Trauma verknüpfter Persönlichkeitsteile (‚verletzte Verbannte‘) führen. Ziel der Traumatherapie ist es nun, sich einer solchen Verdrängung zu stellen, die aufgestaute Energie zu entladen, und die ‚Verbannten‘ zu integrieren – nur dann ist Heilung möglich.6 Exakt diese Verdrängung und Verbannung von Betroffenen des Missbrauchs ist in der Kirche geschehen und geschieht auch in den heutigen Auseinandersetzungen mit Missbrauch noch häufig. Der Missbrauch wird dadurch potenziert: Betroffene werden sie vielfach ausgeklammert, verdrängt und ihnen wird nicht geglaubt. Diesem Paradox kann man nicht länger ausweichen. Eine solche Infragestellung der Menschenwürde darf gemäß Pflaum kein Seitenthema mehr sein, sondern ist ein Zeichen der Zeit.7. Daraus erwächst das Plädoyer für eine entlastende trauma-sensible Form von Theologie und Kirche

Mit Bezug auf die Entwicklungstheorie der Spiral-Dynamics plädiert Pflaum für eine Kirche, die Klerikalismus, prekäre Formen der Pastoralmacht und traumatisierende Lasten überwindet.8 Pflaum gelingt es dabei, nicht vorschnell den Rubikon zwischen belastender Trauma-Analyse und entlastender Handlungskonsequenzen zu überschreiten. Vielmehr schafft es Pflaums Buch, genau diesen Rubikon-Moment in den Blick zu nehmen, um die Notwendigkeit aber auch das Potenzial für eine trauma-sensible Theologie, Spiritualität und Pastoral aufzuzeigen. Hierfür lassen sich acht Entlastungsprozesse benennen:9

Erdrückende und vergiftende Gottes- und Menschenbilder müssen theologisch überwunden werden.

Stattdessen braucht es die Kultivierung eines Bilds vom Menschen, der im Grunde gut ist. Das benötigt die Etablierung einer pastoralen Schrifthermeneutik, die die Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch inhaltlich aufgreift. Zugleich muss die Grundüberzeugung, dass Gottes Liebe bedingungslos, aber nicht folgenlos ist, in den Mittelpunkt gerückt werden. Darüber hinaus ist es eine analytische Aufgabe, problematische Kirchen- und Amtsmodelle zu identifizieren und zu dekonstruieren. Dies muss mit einer Vertiefung der Frage nach der Gleichheit der Menschenwürde innerhalb des kirchlichen Lebens zusammengehen. All diese Entlassungsprozesse sind vom Anliegen getragen, für ein Ende diskriminierender und traumatisierender Lehren und Praktiken in Theologie und Kirche einzustehen. Die Theologie habe hierfür eine Vorreiterrolle: Es braucht eine trauma-existentielle Theologie, die diesen Rubikon-Moment zwischen belastender Trauma-Analyse und Entlastungsprozessen fruchtbar macht:

„Eine trauma-existentiale Theologie wäre im wissenschaftlichen Dialog mit Traumatheorien, mit Traumatherapien, mit Philosophien, die sich mit Macht und Sex beschäftigen, […] mit den Erfahrungen von Traumatisierten und Hilfsorganisationen für Missbrauchsopfer zu entwickeln. Sie würde sensibel machen für verletzende, retraumatisierende Sprache. Sie würde auch soziologisch, juristisch, psychologisch, therapeutisch vernetzt die Prozesse von Missbrauch untersuchen und Empfehlungen für Aufdeckungsprozesse geben. Sie würde die Arbeit von Präventionsmaßnahmen reflektieren und unterstützen. Sie würde kirchliche Strukturen und Vorgänge auch kritisch darauf hin untersuchen, ob sie Machtmissbrauch ermöglichen bzw. fördern.“10

Michael Pflaum beschwört weder ein Ende von Theologie und Kirche im Angesicht des geschehenen Missbrauchs, noch verfällt er in einen Alles-wird-gut-Modus. Vielmehr versucht er im Geiste von Gaudium et Spes 4 einen theologischen (Neu-)Ansatz zu entwerfen, der aus der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Zeichen der Zeit entsteht.

Dies ist jedoch kein Selbstheilungsprogramm für Kirche. Stattdessen soll Kirche den Betroffenen des sexuellen Missbrauchs eine vorrangige Option einräumen. Es geht darum, ihre Stimme aktiv zu hören, konkrete Verantwortungen zu benennen und zu übernehmen, Täter zur Verantwortung zu ziehen und Betroffene angemessen zu entschädigen.

Hashtag der Woche: #traumasensibel


(Beitragsbild: Janko Ferlič)

[1] Vgl. beispielhaft Pflaum, Für eine trauma-existentiale Theologie, 180-187. Einige der geschilderten Gewaltberichte könnten für traumatisierte Menschen sehr belastend sein.

[2] Neben Pflaum hat sich auch der evangelische Theologe Andreas Stahl in seiner Dissertation für eine traumasensible Seelsorge stark gemacht. Vgl. dazu: Stahl, Andreas, Traumasensible Seelsorge. Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen, Stuttgart 2019. Sowie den Einblick in Stahls Dissertation hier auf y-nachten.

[3] Vgl. Pflaum, Für eine trauma-existentiale Theologie, 64.

[4] Vgl. Ebd., 53-61. Vgl. zudem: Porges, Stephen, Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung, Paderborn 22010.

[5] Vgl. Ebd., 62-67. Vgl. zudem: Levine, Peter, Vom Trauma befreien. Wie Sie seelische und körperliche Blockaden lösen, München 2015.

[6] Vgl. Ebd., 64-74.

[7] Vgl. Ebd., 48.

[8] Vgl. Ebd., 247-278. Vgl. zur grundlegenden Theorie der Spiral-Dynamics: Beck, Don E./ Cowan, Christopher C., Spiral Dynamics. Leadership, Werte und Wandel: Eine Landkarte für Business und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007.

[9] Vgl. Ebd., 292-311.

[10] Ebd., 304.

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felix fleckenstein

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Zurzeit arbeitet er an einer Promotion zur hermeneutischen Frage der Interpretation biblischer Texte zwischen Exegese und Dogmatik.

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