Wie geht unsere Gesellschaft mit dem Scheitern um und warum treffen wir dabei Hartmut Rosa auf einer Rolltreppe? David Novakovits liefert Antworten für y-nachten.de und plädiert für ein #comebackstrongerNOT.

Wenn man über das Scheitern schreibt, ist man „entweder aus Erfahrung kompetent oder ein Hochstapler. Beides ist auf je eigene Weise ein bisschen peinlich.“1 Die Bemerkung von Matthias Opis suggeriert, dass es gar nicht so einfach ist, über das Scheitern zu sprechen: Entweder ist man bereits „am Ende“ und steht sprachlos vor dem großen Scherbenhaufen des eigenen Lebens oder man redet über etwas, wovon man bloß vorgibt, eine Ahnung zu haben.

Wobei: Ich finde, dass das oben beschriebene Dilemma hinkt. Über das Scheitern zu sprechen kann nur dann „peinlich“ sein, wenn wir uns in einer Kultur befinden, in welcher derartige Erfahrungen nicht zu Wort kommen können.

Und „Hochstapelei“ wird es erst, wenn die Abgründigkeit des Lebens übergangen wird; wenn sofort #comebackstronger gepostet wird, sobald auch nur das kleinste Anzeichen von Schwäche oder Versagen sichtbar wird, anstatt die Frage zu stellen: Was passiert hier gerade?

Es ist wie bei so vielem: Wenn über das Scheitern gesprochen wird, wird indirekt auch über den Geist gesprochen, der eine Zeit durchdringt. Scheitern ist keine zeitlose Angelegenheit, und wie wir damit umgehen, noch weniger. Um das präziser verdeutlichen zu können, müssen wir jedoch einen Ortswechsel vornehmen. Wo könnte heute besser über das Scheitern gesprochen werden, als … auf einer Rolltreppe? Genauer: Auf Rolltreppen, die nach unten fahren, während man selbst nach oben zu gehen versucht.

Achtung, es geht abwärts!

Trifft man auf diesem Weg nach unten (oder oben?) zufällig den Soziologen Hartmut Rosa, könnte man sogar das Glück haben, dass er uns so etwas wie „dynamische Stabilisierung als Strukturimperativ moderner Gesellschaften“ zuruft (wenn man Pech hat, sagt er „Konkurrenz als dominanter Allokationsmodus“, was noch schwieriger zu verstehen ist).

Was meint er mit „dynamischer Stabilisierung“, und was hat das mit unserem Verständnis des Scheiterns zu tun? Rosa zeigt, dass Menschen in modernen Gesellschaften von einem Grundgefühl angetrieben werden, das man in der kürzesten Formel so zusammenfassen kann: „Wenn wir nicht besser, schneller, kreativer, effizienter etc. werden, verlieren wir (…)“2.

Erst wenn man sich permanent steigert, sich andauernd optimiert und – hier kommt die Konkurrenz ins Spiel – kontinuierlich einen Schritt vor den anderen ist, hat man – ja, was eigentlich?

Im Grunde noch gar nicht so viel geschafft, so Rosa, sondern sich bloß dynamisch stabilisiert – da wir ja „immer und überall wie auf Rolltreppen nach unten stehen.“3

Kein Wunder also, dass manche im Fitnessstudio das Dispositiv unserer Zeit sehen, wie etwa der Philosoph Byung-Chul Han.4 Hier werden im Schweiße deines Angesichts zwar nicht Berge versetzt, aber doch schon einiges bewegt. Hauptsache: Glaub an dich! Oder, besser hat es die Kette FITINN vor einigen Jahren ausgedrückt: „Ich glaube an das ewige Heben“. Unschwer ist eine neue Religiosität hier erkennbar:

„Wir haben den Tempel. Du bringst die Opfer“.

Wir können hier an Walter Benjamins Bemerkung denken, dass der Kapitalismus als Religion ein verschuldender Kultus ist, aus dem es keinen Ausgang gibt.5 Andauernd sich steigern müssen, jeden Tag Gewichte nach oben drücken müssen… Sisyphos lässt grüßen. Erlösung sieht (hoffentlich) anders aus.

Wie sehr uns dieses Lebensgefühl der permanenten Leistungsmaximierung durchdringt (und auch als Theolog*innen zu denken geben kann) und als kulturelle Atmosphäre der Gegenwart gleichsam wie eine zweite Haut an uns klebt, zeigt sich im Übrigen besonders einprägsam im Umgang mit Kindern. Man könnte sagen: Im Anfang war… „die Hauptsorge und das Trachten der Eltern (…) der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Kinder. Kaum sind diese geboren, setzt (zumindest wenn sie den Mittel- oder Oberschichten angehören) eine geradezu erbarmungslose Förderung ihrer physischen, psychischen, musischen, kreativen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten ein, und die meisten Eltern kennen nur eine Angst: Das Kind könnte in irgendeiner Hinsicht zurückgeblieben sein oder Defizite haben; und umgekehrt kennen sie nur einen Stolz: Mein Kind ist, gemessen an seinem Alter, schon weiter, als zu erwarten war.“6

Vor dieser Hintergrundfolie ist es kein Wunder, dass Sennett den folgenden Satz als verschämtes Schweigen des modernen Menschen ausmacht: „Ich bin nicht gut genug.“7

Ein Dasein im Offenen

Die Angst, nicht gut genug zu sein, kann paralysieren. Und klar: Im Scheitern „werden keine Petitessen verhandelt (…), im Scheitern wird nicht nur ein Ziel verfehlt, der Scheiternde selbst (…) nimmt dabei Schaden.“8 Es ist für mich klar, dass es dort, wo man unterzugehen droht und die „Chaoswasser“ (Psalm 69) über einen hereinbrechen, auch ungut ausgehen kann – trostlos und ohne happy end am Schluss. Dieses Moment zu vergessen wäre zynisch.

Dennoch möchte ich abschließend eine Beobachtung einbringen, die mir gefällt und die ich hilfreich finde, wenn es darum geht, der Rolltreppe nach unten etwas entgegenzusetzen. Arbeitstitel: Im Offenen schöpferisch tätig sein. Also, zurück zum Anfang…

Mit den Chaoswassern hat schon Gott sich beschäftigt; auch er hat sich gefragt, wie man aus dem tohuwabohu irgendwas Vernünftiges machen kann. Wie kann das (scheinbare) Nichts wieder zu etwas Schönem werden? Im Grunde also eine schöpfungstheologische Frage ersten Ranges, die auch für das Scheitern zu denken geben kann. Von der Gottheit können wir lernen: Man muss nicht alles auf einmal machen. Schritt für Schritt, Tag für Tag. Und immer wieder:

„Und siehe, es war gut“.

Um Längen wichtiger halte ich dann noch diese göttliche Idee: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.“ Die Frage nach Sein und Nichtsein wird erst erträglich, wenn gemeinsame und geteilte Welten zwischen uns entstehen. Wörter und Beziehungen ersetzen nicht materielle Grundsicherungen, aber erst sie ermöglichen auch Solidarität und damit auch Proteste gegen soziale Ungerechtigkeiten, sie sind so etwas wie Rettungstaue, die wir einander auf schwankendem Boden zuwerfen können, damit die Chaoswasser uns nicht davonspülen. Es kann daher eine wichtige Form des Protestes sein, immer wieder „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ (Adorno) zur Sprache zu bringen und sie damit in die geteilte Welt eintreten zu lassen. Das Nichtsein, die Fragilität und unsere Verletzlichkeit aus der Welt zu verdrängen, raubt uns die Menschlichkeit. Und auch unseren Mut.

Denn: Schöpferisch kann man erst tätig werden, wenn man den offenen Raum (unserer Zeit) nicht als Gefährdung ansieht, vor dem man sich zurückziehen muss. Gott gibt dem Abraham, den Segen, ins Offene aufzubrechen, ohne sich in einer „Ursprungsnähe“ einnisten zu müssen und zu glauben, so dem Wagnis des Scheiterns entgehen zu können. Die schönste Übersetzung dieser Stelle finden wir wohl bei Hölderlin:

„[…] denn wer / Möcht es hindern und wer möcht‘ uns die Freude verbieten? /Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! Daß wir das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ (Friedrich Hölderlin, Brod und Wein, Verse 38-42)

Das Offene, dem wir auch heute gegenüberstehen, erfordert auch, dass wir Sachen, Gedanken und letztlich uns selbst ausprobieren und gestalten. Ohne ein Wagnis des Scheiterns wird das nicht möglich sein. Vielleicht ergeht es uns dabei ja wie Dante: Seine divina commedia beginnt damit, dass er sich mitten am Weg in einem Wald verirrt. Und wie es ausgeht, wissen wir ja alle.

 

Hashtag der Woche: #comebackstrongerNOT

Beitragsbild: Photo by Alan King on Unsplash 


1 Opis, Matthias, Scheitern. Nichts sonst. Ein Annäherungsversuch in 7 Thesen, in: Steiner, Michael (Hrsg.), Schöner scheitern, Graz 2013, 88-94, 88.

2 Rosa, Hartmut, Unverfügbarkeit, Wien-Salzburg 2018, 15.

3 Ebd., 15.

4 Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2014, 19.

5 Vgl. Benjamin, Walter, Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, Walter Benjamin. Gesammelte Schriften (Band VI), Frankfurt a.M. 1991, 100-102.

6 Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019, 622.

7 Sennett, Richard, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2002, 159-160.

8 Rieger-Ladich, Markus, „Biografien“ und „Lebensläufe“: Das Scheitern aus der Perspektive der Pädagogischen Anthropologie, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 88/2012, 606-623, 610.

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dr. david novakovits

arbeitet derzeit als Universitätsassistent (post doc) am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien und als Religionslehrer an einem Wiener Gymnasium. Er promovierte 2021 mit einer Arbeit über das Scheitern.

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