Neue Rechte, zeitgenössischer Paganismus und religiöser Fundamentalismus eint dasselbe Motiv: ein tiefes Misstrauen gegen die Moderne und ihr Kampf für die ewige Wahrheit. Marleen Thaler nimmt den Radikalen Traditionalismus für uns näher unter die Lupe.

Im Jahre 1927 publizierte der französische Autor René Guénon (1886–1951) das Buch La Crise du Monde Moderne und begründete damit die Schule des philosophischen Traditionalismus.1 Wie der Titel von Guénons Buch bereits erahnen lässt, verurteilt der Traditionalismus die moderne Welt als krisenbehaftet und reaktionär und stellt dieser eine vermeintlich erhabene Vergangenheit gegenüber. Philosophische, gesellschaftliche oder technische Errungenschaften der Moderne werden von Vertretern2 des Traditionalismus Großteils abgelehnt. Der Traditionalismus befasst sich auch explizit mit religiösen Motiven für seine Traditionalistische Bilanz. Dieser Blogbeitrag bietet einen Einblick in die historische Entwicklung des religiösen Traditionalismus sowie dessen Anknüpfungspunkte an moderne Interpretationen.

Zutaten des religiösen Traditionalismus

Die philosophische Schule des Traditionalismus umfasst eine Vielzahl an Theorien, welche sich nicht nur durch regressive Ansichten und einem tiefen Misstrauen gegenüber der modernen Welt auszeichnen, sondern auch durch ihr religiöses Gewicht. Der Religionswissenschaftler Mark Sedgwick hat das wohl bedeutendste Werk zum religiösen Traditionalismus verfasst und beschreibt darin die Entwicklung der Traditionalistischen Schule anhand der Biografien seiner Gründerfiguren und deren Wegbegleiter.3 Dabei bleibt die Bedeutung von René Guénons Theorien und Büchern für die Entwicklung des Traditionalismus bis heute zentral.

Die Wurzeln seines Traditionalismus lassen sich im Okkultismus des fin-de-siècle finden, wobei gnostische Kirchen, Hermetik, Freimaurerei und Sufismus gleichermaßen sein Traditionalistisches Gedankengut inspirierten.

Ein weiterer einflussreicher Vordenker des Traditionalismus war der Italiener Julius Evola (1898–1974). Im Unterschied zu Guénon war Evola politisch aktiv, vor allem während des italienischen Faschismus.4 Es wäre jedoch zu kurz gedacht, Evola als rein politisch (bzw. faschistisch) zu interpretieren. Sein religiöses Interesse war breitgefächert und beeinflusste ebenfalls seine Traditionalistischen Theorien.5 Das Grundgerüst des religiösen Traditionalismus basiert daher auf Guénons und Evolas Bemühungen die Moderne als altmodisch und ignorant zu degradieren.

Verlorene, ewige Wahrheit

Die Kritik des Traditionalismus an der modernen Welt verbindet eine pessimistische und misstrauische Haltung mit nostalgischen, ja melancholischen Empfindungen eines verlorenen Paradieses. Ein wesentlicher Bestandteil des traditionalistischen Denkens ist der Glaube an eine ewige Weisheit, die in die philosophische Strömung der Philosophia Perennis eingebettet ist. Vertreter des Traditionalismus behaupten nun, dass die moderne Welt um des Fortschritts willen den Verlust dieser erhabenen Weisheit in Kauf genommen hat. Aus der Sicht des Traditionalismus steht es daher außer Zweifel, dass sich die moderne Welt in einer schweren spirituellen Krise befinde oder gar dem Untergang geweiht sei.6

Zurück zum Urzustand

Obwohl der Traditionalismus seit seiner Begründung stets eine eher lose Bewegung geblieben ist, gibt es zwei verbindende, sich wiederholende Elemente: den Glauben an die Philosophia Perennis und die Ansicht, dass der Niedergang der Moderne durch ihren fehlgeleiteten Glauben an den ständigen Fortschritt verursacht wurde. Die Wiedereinführung der Prinzipien einer paradiesisch anmutenden Vergangenheit sei nach Traditionalistischer Maxime das einzige Gegenmittel, um die moderne Welt zu retten. Einige Traditionalisten sahen es als ihre Aufgabe an, diese Prinzipien zu propagieren und so die vergiftete Natur der Moderne zu heilen.

Next Generation: Radikaler Traditionalismus

Ein wichtiger Vertreter des Traditionalismus in zweiter Generation war der britische Autor John Michell (1933–2009). Im Laufe seines Lebens verfasste Michell unzählige Bücher, Artikel und Pamphlete, wobei sich viele davon mit Traditionalistischen Themen beschäftigten. Besonders hervorzuheben sind dabei seine Radical Traditionalist Papers. In diesen kurzgehaltenen Pamphleten befasste sich Michell mit unorthodoxen Themen und bemühte sich um einen provozierenden und reaktionären Grundton. Ein schönes Beispiel wäre etwa seine Schrift A Defence of Sacred Measures (1972)7, welche sich gegen das metrische System ausspricht und vermeintlich traditionelle Maßeinheiten als essentielle Bausteine einer vorindustriellen paradiesischen Zivilisation präsentiert.

Wieder salonfähig

Michells wichtigster Beitrag für die Schule des Traditionalismus ist die Prägung des Begriffes „radikaler Traditionalismus“. Dessen Bedeutung bezieht sich auf die Traditionalistische Doktrin Evolas und beschreibt den allgemeinen Kontext von Michells Denken, Handeln und Schaffen. In einem von ihm verfassten Artikel beschreibt Michell dies folgendermaßen:

„There is a way of thinking that is both idealistic and rooted in common sense. It is called radical-traditionalism. It is my way of thinking […].“8

Michells radikaler Traditionalismus fusionierte Evolas ideologische Ausführungen mit nationalistischem Millenarismus und romantischen Naturvorstellungen. Durch diese Neuinterpretation gelang es Michell die Reputation des religiösen Traditionalismus zu erneuern, welche durch Evolas Naheverhältnis zum italienischen Faschismus erheblichen Schaden genommen hatte. Dadurch wurde der religiöse Traditionalismus wieder salonfähig und vor allem von zeitgenössischen Paganen und Neuen Rechten Gruppen aufgegriffen.9

Nährboden für Neue Rechte und neue religiöse Bewegungen

Michells radikaler Traditionalismus ist daher ein ausgezeichnetes Beispiel, um die anhaltende Einflussnahme früherer Traditionalisten auf moderne religiöse Gruppierungen zu illustrieren. Denn vor allem in Bewegungen, die sich der Neuen Rechten zuordnen, ist der Begriff nach wie vor en vogue. Elemente des frühen Traditionalismus wurden dabei mit nationalistischen und zeitgenössischen Paganen Theorien verwoben, wodurch sich ein bisher nur marginal erforschtes religiöses Konglomerat gebildet hat. Die Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung der philosophischen Schule des Traditionalismus und dessen religiösen Inspirationsquellen ist daher für die Kontextualisierung der religiösen Vorstellungen der Neuen Rechten und des zeitgenössischen Paganismus unumgänglich.

Hashtag der Woche: #KampfderModerne

(Beitragsbild:  Quasi Misha on Unsplash)


1 René Guénon, La Crise du Monde Moderne, Paris: Bossard 1927.

2 Die philosophische Schule des Traditionalismus stellt eine männlich dominierte Gruppierung dar. Aus diesem Grund wird auf die weibliche Form in diesem Beitrag verzichtet.

3 Mark Sedgwick, Against the Modern World. Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century, Oxford: Oxford University Press 2004.

4 Vgl. Amy Hale, “John Michell, Radical Traditionalism, and the Emerging Politics of the Pagan New Right”, The Pomegranate 13/1, 2011, 77-97: 79.

5 Vgl. Hans T. Hakl, “Julius Evola – Spiritualität und Politik”, in: Daniel Führing (ed.), Gegen die Krise der Zeit. Konservative Denker im Portrait, Graz: Ares Verlag 2013, 32-49: 37-39.

6 Vgl. Sedgwick 2004: 39-54.

7 John Michell, A Defence of Sacred Measures [Radical Traditionalist Papers No. 1], Cokaygne 1972.

8 John F. Michell, “A Rad-Trad Englishman, and an Italian”, in: Joscelyn Godwin (ed.), The John Michell Reader. WRITINGS and RANTS of a Radical Traditionalist, Rochester – Toronto: Inner Traditions, 22015 (1st ed. 2005 [2002]), 130-132: 130.

9 Vgl. Amy Hale, “John Michell, Radical Traditionalism, and the Emerging Politics of the Pagan New Right”, The Pomegranate 13/1, 2011, 77-97: 92.

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marleen thaler

studierte Kultur- und Sozialanthropologie, Orientalistik und Religionswissenschaft an der Uni Wien. Seit 2019 ist sie PhD Fellow am Institut für Religionswissenschaft und schreibt an ihrer Dissertation zu kundalini Diskursen in den USA.

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