Was haben Theologie und Pandemie miteinander zu tun? Lässt sich die Theologie von der Pandemie infizieren und kann sie sogar zu einer Immunreaktion beitragen? Diese Fragen greift „Theologie infiziert“ in metaphorischer Rede auf. Christoph Naglmeier-Rembeck hat sich für y-nachten ein Bild von dem Essay gemacht.

Im siebten Band der Reihe „Theologische Interventionen“ machen sich die evangelischen Theolog*innen Dorothea Erbele-Küster, Volker Küster und Michael Roth auf die Suche nach Interpretationsmustern und Bewältigungsstrategien der Pandemie. Mit der Trias Anthropologie – Theologie – Ethik spüren sie dem Virus nach und kommen zu dem Schluss, dass Probleme der globalen Gerechtigkeit und des neoliberalen Kapitalismus durch das Virus verschärft wurden.

Zu Beginn (S. 7-28) erschließen die Autor*innen Zugänge zur interkulturellen Theologie, anschließend werden bibelwissenschaftliche Perspektiven als „Auslegungsräume des Textes“ vorgestellt (17). Im zweiten Abschnitt (S. 29-50) bildet der infizierte Körper den Ausgangspunkt der Reflexion, anhand dessen die Dimensionen Leiblichkeit, Vulnerabilität und Narrativität durchdacht werden. Der dritte Abschnitt (S. 51-68) schlägt eine Theologie vor, die sich – metaphorisch gesprochen – infizieren lässt und „so zu einer Stimulation des Immunsystems der menschlichen Gemeinschaft gegen die Infektion mit dem Virus beiträgt“ (27). Das vierte Kapitel fragt nach ethischen Orientierungen angesichts der Pandemie, wobei für einen „dialogischen Habitus“ plädiert wird, „der durch Respekt, Anerkennung und Empathie gekennzeichnet ist“ (27).

Der Essay wird dem Selbstanspruch der Reihe Theologische Interventionen, nämlich „aktuelle Themen und Fragestellungen aus theologisch-philosophischer Perspektive in essayistischer Form, fachlich fundiert und allgemeinverständlich“1 zu erklären, gerecht und reiht sich in aktuelle theologische Auseinandersetzungen mit der Pandemie ein.2 Gerade das Zusammenspiel von exegetischem, systematisch-theologischem und theologisch-ethischem Denken zeigt spannende Möglichkeiten auf, wie die Theologie für die Gesellschaft relevant werden kann. Anhand von vier Kernfragen sollen die Gedanken wiedergegeben und weitergedacht werden.

 Warum sich theologisch mit der Pandemie beschäftigen?

Weil Theologie nicht im luftleeren, abstrakten, a-realen Raum betrieben wird. „Theologie ist immer kontextuell, eine kontextfreie Theologie redet nicht alle, sondern niemanden an“ (23). In reformatorischer Tradition haben Inhalte des Glaubens eine „pragmatisch-performative Funktion. Zu glauben heißt, sich und sein Leben mit bestimmten Inhalten […] zur Sprache zu bringen“ (25). Der Glaube ist immer kontextuell, Menschen versuchen immer schon, „sich ihre Lebenswelt verstehend und analogisierend anzueignen“ (25). Anders gesagt: Der Glaube bewährt sich im Alltäglichen, was momentan nahezu vollumfänglich von den Auswirkungen der Pandemie beeinflusst ist. Aus katholischer Perspektive kann dieses Argument mit der Pastoralität des Zweiten Vatikanums unterstützt werden: „Wo Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1) als die eigenen wahrgenommenen werden, verpflichtet sich die Theologie einer lebensweltlichen Kontextualität. Dieser Gedanke setzt sich im exegetischen Teil des Essays fort.

 Warum überhaupt Bibel?

Biblische Schriften sind Zeugnisse ihrer Zeit und damit auch zu einem beträchtlichen Teil Krisenliteratur (vgl. 51). Im Buch werden verschiedene Sprachformen rund um das Phänomen der Krise identifiziert (vgl. 52-53).

So findet z. B. dass Klagen und Suchen mitten in der Krise seine Entsprechung im Psalter, der dieser „klagenden Suche Raum“ gibt (53).  Durch die Klage wird „Erfahrung nicht zum Verstummen gebracht“, sondern das „Verlangen nach Heilung und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit“ wachgehalten (55). Oder die im Buch Kohelet vorzufindende vulnerabilitätssensible Resilienzstrategie, bei der es nicht „um die Funktionstüchtigkeit oder die Optimierung eines […] Systems“, sondern „um die Handlungsfähigkeit trotz bzw. angesichts der vulnerablen Situation“ geht (61-62).

Diese Fülle an in Beziehung zum Phänomen „Krise“ stehenden Diskursformen hat zweifelsfrei ihre Anknüpfungspunkte in der Covid-Pandemie. Mehr noch: Durch diese in der Bibel angelegten anthropologisch-existentiellen Grunderfahrungen wird die Theologie befähigt, sprachfähig zu bleiben. Gerne wird postuliert, dass die Kirche heutzutage die richtigen Antworten auf die Fragen der Menschen geben müsse, um relevant zu bleiben bzw. um wieder an Relevanz zu gewinnen. Die Fülle an Deutungsmustern, die in der Bibel vorzufinden sind, stellt diesen Ansatz in Frage: Sind es wirklich die Antworten, die es braucht? Und, noch viel wichtiger: Gibt es diese klaren Antworten überhaupt? Oder sind es oft die Fragen, denen Kirche nicht in einem abschließenden Modus des Antwortens, sondern in einem tiefergehenden, weiterführenden, moderierenden Modus des Gemeinsam-Fragens bzw. Weiter-Fragens, der sich in den oben genannten Sprachformen auffächern lässt, begegnen sollte?

 Was hat die Pandemie mit Gott zu tun?

Daran anschlussfähig ist die Rede vom verborgenen Gott. Zwar scheinen die Autor*innen aus der Perspektive der Evangelischen Theologie darüber uneins zu sein, wie diese Lutherische Denkfigur (und deren Barth’sche Rezeption) aufgegriffen werden kann, aber dennoch führt diese negative Bestimmung des Göttlichen einen notwendigen Widerspruch gegen eine anthropozentristische Überbestimmtheit des Göttlichen ein. Zur Gott-ist-mit-uns-Erfahrung gehört auch die Erfahrung der Unverständlichkeit, Abwesenheit oder Empörtheit. Es geht also nicht um ein Ausblenden, sondern um ein Integrieren der menschlichen Erfahrungen mit einem Gott, der in der Geschichte als unbegreiflich und unverständlich wahrgenommen wird, sich dem menschlichen Wunsch des Offenbarens entzieht. Das hat konkrete Konsequenzen für eine Theo-Logie in der Pandemie:

„Wer allgemein behauptet, dass Corona eine Strafe Gottes ist, gibt aber vor, den Willen Gottes zu durchschauen; ebenso übrigens wie der, der behauptet, es sei keine Strafe Gottes. Beides ist der religiösen Rede gegenüber unangemessen, es verharmlost Gottes Verborgenheit, will sie deutend still stellen und harmonisieren.“ (74)

Eine verabsolutierende Deutung simplifiziert komplexe und plurale Erfahrungen: Die Pandemie ist nicht einheitlich zu deuten, für die eine Person Freud, für die andere Leid:3 „Gott begegnet dem Einen so, dem Anderen so – teilweise in dem gleichen Ereignis“ (74).

 Was sollen wir tun?

Die Autor*innen skizzieren eine christliche Ethik, die nicht mit dem „Verweis auf christliche Glaubensaussagen und korrekten Ableitungen“ argumentiert, sondern mit dem „Verweis auf die Züge der Wirklichkeit, die sich im Glauben zeigen“ (98). Theologisch rückversichern lässt sich diese Ethik mit einer Befreiungstheologie, die

„die Intersektionalität hinter der Pandemie analysiert und einen Habitus entwickelt, der es erlaubt auf die intergenerationalen, interkulturellen und interreligiösen Herausforderungen im Umgang mit der Pandemie einzugehen und gleichzeitig den Mut hat, ihre prophetische Stimme zu erheben, um in Erinnerung zu rufen, dass Covid-19 nicht das einzige Risiko ist, dass unseren Planeten erschüttert“ (114).

Damit setzen die Autor*innen einen Schlusspunkt, der zugleich ein Anknüpfungspunkt für das weitere theologische Nachdenken während einer weiter andauernden Pandemie ist.

Hashtag der Woche: #infiziertetheologie


(Beitragsbild: @markuswinkler)

1 https://shop.kohlhammer.de/theologische-interventionen-aaxwm13.html, zuletzt aufgerufen am 9.2.2021.

2 Vgl. hierzu beispielsweise Striet, Magnus, Theologie im Zeichen der Corona-Pandemie. Ein Essay, Ostfildern 2021; Lebendige Seelsorge 71 (6/2020); Artikelreihe der Kath.-Theol. Fakultät Regensburg.

3 Als Beispiel führen die Autor*innen die Konzentration auf den Wohnort an: Für die eine Person ist es die (Wieder-)Entdeckung der familiären Idylle, für die andere ist das grausame Zuspitzung prekärer Wohnverhältnisse.

 

Erbele-Küster, Dorothea/Küster, Volker/Roth, Michael, Theologie infiziert. Religiöse Rede im Kontext der Pandemie, Stuttgart 2021.

Der Redaktion wurde von Seiten des Verlags ein Exemplar des Buches zur Rezension zur Verfügung gestellt.

Print Friendly, PDF & Email

christoph naglmeier-rembeck (er/ihm)

studierte von 2015 bis 2020 Katholische Theologie und ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik in Regensburg. Er ist Teil der Redaktion von y-nachten.de.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und bin mit dem Speichern der angegebenen Daten einverstanden: