From rags to riches – Sinnbild für das Versprechen vom gesellschaftlichen Aufstieg für alle, die hart genug daran arbeiten. Ist das Leistungsprinzip ein angebrachter gar fairer Maßstab dafür? Elisa Golks hat für uns Michael Sandel gelesen und geht der Frage auf den Grund.

Der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel gilt als einer der Wegbereiter der kommunitaristischen Kritik, die im Gegensatz zum Liberalismus stärker die Verantwortung des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen betont. Außerdem beschäftigt er sich mit der politischen Kultur der Demokratie. In seinem 2020 erschienenen Werk „Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt“ beschreibt Sandel, warum die Leistungsgesellschaft und ihr Versprechen „Jeder kann so weit aufsteigen, wie seine Talente ihn oder sie tragen“ fatale Folgen für eine Gesellschaft und ihren inneren Zusammenhalt haben kann.

Ist die Meritokratie moralisch zufriedenstellend?

Die Meritokratie ist eine politische Ideologie, die besagt, dass Personen aufgrund ihrer individuellen Leistungen oder besonderen Verdienste ausgewählt werden, um führende Positionen in Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft einzunehmen.1

Auf den ersten Blick scheint das Anliegen der Meritokratie naheliegend und einleuchtend: Menschen, die etwas leisten, sollen dafür belohnt werden.

Im Gegensatz zur Monarchie oder Aristokratie werden Privilegien nicht über das Blut vererbt, sondern müssen immer wieder individuell erarbeitet werden. Ebenso scheint die Meritokratie auch eine Lösung der Diskriminierung von Minderheiten oder Frauen zu sein, da, wenn nur die Leistung zählt, äußere Faktoren wie Geschlecht und Hautfarbe nebensächlich werden. Doch Sandel zeigt in seinem Buch auf, dass die Meritokratie ihr großes Versprechen der Fairness nicht einhalten kann, schlimmer noch, selbst wenn sie es einhalten könnte, wäre sie moralisch fragwürdig. Wie kommt er zu dieser Schlussfolgerung?

Die Schwachstellen der Meritokratie

Eine erste Schwachstelle der Meritokratie zeigt sich darin, dass sich nach Sandel die Meritokratie in eine „Erbaristokratie“ gewandelt hat. Dies begründet er zum einen mit der Bevorzugung von Bewerber*innen an Universitäten (Sandel konzentriert sich in seinen Beschreibungen auf den US-amerikanischen Raum), die Kinder ehemaliger Universitätsabsolvent*innen sind. Besonders heikel wird diese Priorisierung, wenn die akademischen Standards gesenkt werden, um auch die Kinder von reichen Spender*innen aufzunehmen.2 Hierbei zeigt sich, dass die eigentliche Intention der Meritokratie, nach Leistung zu belohnen, durch Geld umgangen werden kann, dennoch bleibt die Anerkennung für die „Leistungen“ der Kinder von Spender*innen gleich. Somit ist die Erbaristokratie oder Erbmeritokratie für Unibewerber*innen, welche ihre Chancen durch finanzielle Mittel nicht aufwerten können, doppelt schmerzhaft, denn das System verspricht von solchen Faktoren unabhängig zu sein, ist es in Realität jedoch nicht. Es gibt den erfolgreichen Unibewerber*innen mit dem meritokratischen Versprechen jedoch gleichsam das Gefühl selbst für ihre Situation verantwortlich zu sein. Dieser Eindruck wird zudem von der Gesellschaft gespiegelt. Die fehlende Fairness, welche durch (fehlendes) Geld entsteht, bezieht sich nicht nur auf mögliche Spendensummen, sondern auch auf teure Frühförderung der Kinder wie Nachhilfe, Sporttraining, private Zulassungsberater*innen oder Auslandsaufenthalte.3 Dieser Vorteil im Kampf um einen Platz an einer Eliteuniversität hat aber auch Schattenseiten. Die Kinder und Jugendlichen, denen diese Förderung zukommt, stehen unter einem enormen Druck und sind häufig extrem unglücklich und verschlossen, was zu steigenden Raten von Depressionen und Angststörungen bei Studierenden geführt hat.4

Eine weitere Problematik, die sich für Sandel aus der Meritokratie ergibt, ist die offene Verachtung derer, die keine angesehenen Bildungsabschlüsse vorzeigen können. Tragisch ist zudem, dass nicht nur die Bildungseliten diese Vorurteile teilen, sondern auch die geringer Gebildeten diese verinnerlicht haben und sich verantwortlich für ihre eigene Lage sehen.5 Dieses negative Selbstbild der geringer Gebildeten kann bis zum Suizid führen.6

„Menschen mit weniger Bildung sind seit langem stärker gefährdet, durch Alkohol, Drogen oder Suizid zu sterben, als diejenigen mit einem akademischen Grad.“7

Deutlich wird diese Diskrepanz daran, dass 2017 die Wahrscheinlichkeit, „einen Tod aus Verzweiflung zu sterben, für Männer ohne Bachelor dreimal höher als für einen Uni-Absolventen“8 lag.

Desweitern stellt sich die Frage, ob es gerecht ist, für Talente (z. B. enorme Sportlichkeit, herausragende Stimme, fotographisches Gedächtnis), welche einem Menschen quasi in die Wiege gelegt werden (auch wenn sie nachträglich gefördert und ausgebaut werden müssen), belohnt zu werden.9

„Der Weltmeister im Armdrücken mag in seinem Sport genauso gut sein wie LeBron James im Basketball. Es ist nicht sein Fehler, dass mit Ausnahme einiger Kneipenwirte keiner dafür bezahlen will, ihm dabei zuzusehen, wie er den Arm eines Gegners auf den Tisch drückt.“10

Befördert die Meritokratie populistische Tendenzen?

Besonders problematisch wird es nach Sandel, wenn der Wert eines Menschen und seiner Leistung verwechselt wird.

Eine meritokratische Gesellschaft fördert nach Sandel ein Verschwimmen bei der Unterscheidung zwischen Bildungsleistung und sozialer Wertschätzung.11

Die individuelle Kränkung gegenüber geringer Gebildeten kann aber verheerende Folgen für eine Gesellschaft haben, da sie zu einer Spaltung zwischen den Bürger*innen führen kann. Das ist beispielsweise daran zu erkennen, dass Donald Trump bei den Vorwahlen 2016 dort am meisten Erfolg hatte, wo es die meisten Todesfälle aus Verzweiflung gab.12 Sandel greift in seiner Erklärung, warum das meritokratische Leistungsprinzip populistische Tendenzen verstärken kann, auf die Erkenntnisse von Barbara Ehrenreich zurück. Sie erklärt den Mechanismus folgendermaßen: Dass es beispielsweise im 20. Jahrhundert noch üblich war, dass weiße Arbeiter zwar einen niedrigen Lohn erhielten, jedoch durch öffentlichen und psychologischen Lohn entschädigt wurden. Dieser Lohn ist heute unter dem Stichwort „weiße Privilegien“ bekannt.13 Nachdem die Rassentrennung wegfiel, brach der Lohnersatz, nach Ehrenreich, weg, und damit das tröstliche, wenn auch unmoralische Wissen, dass jemand schlechter gestellt war und stärker verachtet wurde als man selbst.14 Daraus folgt keine Aufforderung alte Rassismen wieder aufleben zu lassen, jedoch wird eine Bewusstwerdung der Kränkung und des Kampfes, den weiße Männer der Arbeiterklasse durchleben, gefordert.15 Dieser Mechanismus des Populismus kann nur unterbrochen werden, wenn auch die Arbeit von Nichtakademiker*innen gewürdigt wird.16 Zudem darf der Wert eines Menschen nicht nach seiner Leistung bemessen werden.

Nichtakademiker*innen und deren fehlende offizielle Repräsentation

Ein weiterer Weg die Spaltung der Gesellschaft zu verringern, wäre die Selbstwirksamkeit der Arbeiter*innen zu stärken, indem sie in wichtigen Ämtern repräsentiert werden. Diese Repräsentation ist in den vergangenen Jahren durch das meritokratische Leistungsprinzip verloren gegangen. Sandel meldet den Zweifel an, dass praktische Klugheit nicht zwangsläufig etwas mit akademischen Zeugnissen zu tun hat.17 Der akademische Grad scheint heute ein ausschlaggebender Faktor für eine politische Kariere zu sein, da 95 Prozent der amerikanischen Abgeordneten des US-Kongresses einen akademischen Grad aufweisen können, bei den Senatsmitgliedern sind es sogar 100 Prozent.18 Dieser Fakt ist in Bezug auf die politische Repräsentanz besonders prekär, da nur etwa ein Drittel der erwachsenen Amerikaner*innen einen Uni-Abschluss hat.19 Die Geschichte zeigt jedoch, dass dies nicht der Fall sein muss. Zwar waren Kongressmitglieder mit guter Bildung immer schon überproportional vertreten, jedoch wurden in den 1960er etwa ein Viertel der Senator*innen und ein Viertel der Parlamentsabgeordneten ohne einen akademischen Abschluss gewählt.20 Sandel zieht den Schluss, dass auch Menschen ohne einen akademischen Abschluss zur praktischen Klugheit fähig sind und sie somit nicht kategorisch als politische Repräsentant*innen ausgeschlossen werden sollten. Vielmehr sollten alle Bürger*innen in ihrer Reflexionsfähigkeit geschult werden, um probate demokratische Bürger*innen werden zu können.21 Durch vermehrte politische Repräsentanz könnte sich das Selbstwertgefühl der Menschen ohne Uni-Abschlüsse verbessern. Wenn die These Sandels sich als korrekt erweist, könnten die daraus entstehenden „politischen Trotzreaktionen“ wie Rassismen oder das Unterstützen von Parteien, welche Minderheiten herabsetzen, vermindert werden.

Abschließend ist zu sagen, dass Sandels Ansatz in der heutigen Gesellschaft, in der wir sowohl mit Populismus, Chancenungleichheiten sowie den Grenzen des Kapitalismus konfrontiert sind, meiner Meinung nach, hochaktuell ist.

Auch wenn das Denken, das jede*r alles schaffen kann, wenn sie*er sich nur genügend anstrengt und im US-amerikanischen Raum sicherlich stärker verbreitet ist als hierzulande, sind wir in Deutschland auch nicht frei von diesem Denken und seinen Folgen.

Gerade erleben wir anhand der Corona-Pandemie, wie wichtig Solidarität und Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft sind und was für tragische Folgen eine Polarisierung einzelner gesellschaftlicher Gruppen mit sich bringt. Natürlich löst sein Ansatz nicht alle Probleme, scheint aber eine Anregung zum Umdenken zu sein und eine neue Wertschätzung gegenüber der*m Andere*n zu fördern.

Hashtag der Woche: #fromragstoriches


(Beitragsbild: @jordanwhitfield)

1 Vgl. Sandel, Michael J., Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt, Frankfurt 2020³, 40.

2 Vgl. ebd., 271.

3 Vgl. ebd., 284.

4 Vgl. ebd., 286.

5 Vgl. ebd., 155.

6 Vgl. ebd., 318.

7 Ebd., 318.

8 Ebd., 318.

9 Vgl. ebd., 196.

10 Ebd., 197.

11 Vgl. ebd., 278.

12 Vgl. ebd., 320f.

13 Vgl. ebd., 322.

14 Vgl. ebd., 323.

15 Vgl. ebd., 323.

16 Vgl. ebd., 330.

17 Vgl. ebd., 145.

18 Vgl. ebd., 155.

19 Vgl. ebd., 155f.

20 Vgl. ebd., 156.

21 Vgl. ebd., 306.

 

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elisa golks

studiert katholische Theologie und Geschichte in Freiburg und arbeitet als Hilfskraft am Arbeitsbereich Fundamentaltheologie und Philosophische Anthropologie an der Uni Freiburg.

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