Das gestern veröffentliche Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Bistum München und Freising hat Schockwellen in der römisch-katholischen Kirche ausgelöst und sitzt einigen Katholik*innen noch in den Knochen. Samuel Stauß hat über die Macht des Erinnerns nachgedacht und aufgeschrieben, was ihn gerade bewegt.

Ich erinnere mich nicht an alle Ereignisse meiner Kindheit, aber das ist wohl normal. Nur die besonderen, die emotionalen Ereignisse gravieren sich so ins Gedächtnis, dass ich mich auch zehn, zwanzig Jahre später daran erinnern kann. Mit Josef Ratzinger, der lieber papa emeritus genannt werden möchte, verbinde ich mehrere solcher Erinnerungen.

Ich weiß noch, wie ich aufgeregt Radio in meinem Kinderzimmer höre, als in Rom etwas schwer verständlich der Name ausgerufen wird: Josef Ratzinger, Papst Benedikt. Damals bin ich fast 12 Jahre alt und freue mich, dass ein Deutscher Papst geworden ist. „Wir sind Papst!“ titelt die Bild.

Noch im gleichen Jahr findet der Weltjugendtag in Köln statt. Um daran teilzunehmen bin ich eigentlich noch zu jung. Zufällig bin ich aber trotzdem in der Nähe, denn ich verbringe mit meinem Vater ein paar Tage im Fantasia-Land in Brühl. Er überredet mich einen Tagesausflug nach Köln zu unternehmen. Die Begeisterung der Menschen steckt mich an und ich halte den Papst als weißen Punkt auf meiner Kamera fest, als er im Boot auf dem Rhein an mir vorbeifährt. Ich bin stolz, dass ich den Papst gesehen habe.

Ein Jahr später komme ich dem Papst bei der Ministrant*innen-Wallfahrt auf dem Petersplatz in Rom sogar noch näher.

Gemeinsam mit vielen anderen rufe ich begeistert „Benedetto“. Ich bin 13 Jahre alt. Trotzdem fällt es schwer, mir das heute einzugestehen.

Während meines Studiums der Theologie einige Jahre später hat sich in meinem Verhältnis zu ihm schon etwas verändert. Vom deutschen Papst ist wenig zu erwarten für eine Erneuerung der Kirche, die ich mir wünschte. Keine Änderung der Lehre zum Zölibat oder der Zugangsbeschränkungen für kirchliche Ämter. Trotzdem gibt es eigentlich keine Zweifel daran, dass Benedikt ein intelligenter, integrer Mensch ist. Als er ganz zu Beginn meines Studiums zurücktritt, überrascht er damit viele. Der historisch fast einmalige Rücktritt eines Papstes weckt die Hoffnung nicht nur in mir, dass sich etwas ändert.

Aber statt zu schweigen, wie Benedikt eigentlich erklärt hatte es nach seinem Rücktritt zu tun, meldet er sich immer wieder zu Wort, immer wirrer, immer seltsamer. Zum senilen Greis erkläre ich ihn innerlich, als er meint, die 68er und homosexuelle Priester seien insgeheim schuld an der Misere der sexuellen Gewalt in der Kirche.

Aber auch ein seniler Greis sollte die Fähigkeit haben, seine Unterschrift nicht mehr unter solche achtzig Seiten zu setzen, wie sie gestern im Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Bereich der Erzdiözese München und Freising veröffentlicht wurden.

Woran sich Benedikt nicht erinnern kann, das ist auch nicht gewesen – so die apodiktische Aussage, auch wenn schwarz auf weiß etwas anderes geschrieben steht. Papiere lügen nicht, aber ein papa emeritus.

Und noch mehr eiskalte Härte weht aus den achtzig Seiten entgegen. Es geht nicht um Moral, sondern um Gesetzeskonformität, Onanieren vor minderjährigen Mädchen sei kein Missbrauch im eigentlichen Sinn und auf Fragen, die über den Untersuchungsauftrag hinaus gehen, gibt es keine Antwort.

Auch mit kommt in den Sinn, jetzt verzweifelt zu fragen: „Was bleibt eigentlich von einer Kirche übrig, wenn ihr ehemals höchster Vertreter vor aller Augen seinen moralischen Bankrott erklärt und damit nicht allein ist?“ Denn nein, dieser Offenbarungseid, ist nicht mehr überraschend, er entspricht meinen Erfahrungen mit der katholischen Kirche in den letzten Jahren. Doch genau diese Blickrichtung auf Kirche versperrt den Blick für das Leid der Opfer. Dieser Blick und die zutiefst gottlose Angst vor dem Bedeutungsverlust, die Angst davor das Schreckliche zuzugeben, ermöglichte jahrelang die sexuelle Gewalt und ihre Vertuschung und verhindert die Aufarbeitung – bis heute. Auch der Rettungsversuch, zu erklären der Glaube an Gott sei ja nochmal etwas ganz anderes als die Kirche, verfängt nicht. Nicht in der katholischen Kirche, in der die Verbindung von Glauben und Kirche zum Kernbestand gehört.

Ich möchte nicht mehr vom letzten Rest Glaubwürdigkeit reden, der jetzt noch zu retten sei.

Ich sehe ein zerbröseltes Nichts von Kirche. Wenn ich jetzt noch glauben will, kann ich das nur noch mit dem unbedingten Blick auf das Leid der Betroffenen tun.

Wenn ich jetzt noch glauben will, muss ich alles dafür tun, dass Missbrauch und Vertuschung nicht mehr möglich sind, ohne jede Rücksicht auf Institution und Autorität. Und im Angesicht des größten Unrechts, nämlich, dass in so vielen Fällen es schon viel zu spät für Aufarbeitung ist, weil Taten verjährt, Täter und Opfer verstorben sind, bleibt nur die verzweifelte Hoffnung, dass der Tod eben doch nicht das Ende ist. Dass das Leid nicht vergessen wird, dass am Ende der Zeit doch noch möglich wird, was Menschen nicht mehr vermögen: Gerechtigkeit.

Hashtag des Tages: #icherinneremich


(Beitragsbild: @moino007)

Print Friendly, PDF & Email

samuel stauß

(*1993) war 2011/12 als FSJler in Peru und studierte 2012-2017 Katholische Theologie in Freiburg. Seit 2018 ist er als Referent für Theologie und Jugendpastoral beim BDKJ Diözesanverband Köln tätig.

2 Replies to “An was ich mich erinnere

  1. Ich glaube, die Personalchefs und Bischöfe sahen in den Missbrauchshandlungen lediglich einen Verstoß gegen das Zölibatsversprechen, nicht aber eine schwere seelische Schädigung des Opfers, da sie als Zölibatäre auch keine eigenen aktuellen innerfamiliären Erfahrungen hatten. Deshalb mühten sie sich nur um ihren „gefallenen“ Mitbruder, aber selbst dies nur sehr unzureichend, da sie sie nicht vor neuen missbräuchlichen Taten abhielten.

    1. Lieber Klaus,
      Danke dir für deinen Kommentar. Aber auch zölibatär lebenden Menschen ist zuzutrauen, zu verstehen, welche brutalen Folgen sexualisierte Gewalt für Betroffene hat. Zum einen haben auch zölibatär lebende Menschen, wenn auch keine eigenen Kinder so doch auch Familie, zum anderen hätte dafür ein direktes Gespräch mit den Betroffenen genügt. Dass dazu Bischöfe nicht bereit waren und es oft bis heute nicht sind, macht erschreckend deutlich, was in vielen Fällen schlicht fehlt(e) – Menschlichkeit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und bin mit dem Speichern der angegebenen Daten einverstanden: