Selten wird so inflationär nach Gefühlen gefragt wie im Advent: Hast du’s dir schon muggelig gemacht? Bist du schon in Weihnachtsstimmung? Paulina Sophie Pieper fragt in diese gefühlsgetränkte Stimmung hinein nach der Sehnsucht nach Heimat im Advent, ihren Orten und befreienden Perspektiven.

Für mich kam der Advent in diesem Jahr urplötzlich, wie man in Österreich sagt, also überraschend. Auf den „Trotzdem-Advent 2020“ folgte der „Eigentlich-Advent 2021“: Eigentlich ist doch Advent, eigentlich müsste ich Plätzchen backen, Punsch trinken und Roraten feiern. Ein Garant für Adventsstimmung waren neben diesen bewährten Traditionen früher oft besinnliche Zitate oder Textstellen wie der Aphorismus, den ich in den letzten Jahren begeistert auf Weihnachtskarten schrieb:

Nach Hause kommen, das ist es, was das Kind von Bethlehem allen schenken will, die weinen, wachen und wandern auf dieser Erde.“ (Friedrich von Bodelschwingh)

Vor allem im letzten Jahr kreierte dieser Satz eine Stimmung, die ich bestärken und weitergeben wollte. Doch ebenso plötzlich wie der Advent mich überfallen hatte, brach sich bei der diesjährigen relecture des Satzes über das Nachhausekommen die hinter der oben geschilderten Stimmung liegende, sehr viel trivialere Sehnsucht Bahn: die nebulöse Sehnsucht nach Heimat1. Gerade für Millennials als Angehörige derjenigen Generation, die überall und nirgendwo zuhause ist, die leistungsorientiert an ihrer Selbstverwirklichung arbeitet und bis zur unterstellten Bindungsunfähigkeit ungebunden bleibt, aber auch für andere heimat- und ortlose oder entwurzelte Menschen kann das Jahresende eine Zeit irritierender Sehnsucht sein.

Back to the roots

Die Sehnsucht nach Heimat bezieht sich meist auf diejenige Raum-Zeit, in der man die eigenen Wurzeln verortet. Es ist die Sehnsucht danach, in den geschützten Raum der (oft glorifizierten) Kindheit zurückzukehren, welcher – in dieser aufgewühlten Gegenwart – Erdung, Sammlung und Sicherheit verspricht. Für viele ist die Kindheit ein Sehnsuchtsort, ein Raum der unendlichen phantastischen Möglichkeiten, eine Zeit der unbeschwerten (Vor‑)Freude und der familiären Geborgenheit, kurz: eine Zeit, in der alles konnte und nichts musste. Besonders eindrücklich bleiben Erinnerungen, die mit Sinneswahrnehmungen, mit Gerüchen, Klängen und prägnanten Bildern verbunden sind. Solche Sinneswahrnehmungen prägen sich am besten durch regelmäßige Wiederholung ein. Und da es kaum eine andere Zeit im Jahr gibt, die von derart intensiven Gerüchen, eingängigen Melodien und plastischen Geschichten geprägt ist, beginnen die meisten sehnsüchtigen Erzählungen über die Advents- und Weihnachtszeit mit „Als ich klein war, haben wir im Advent immer…“.

Mehr als nur zurück ins Kinderzimmer

Doch Menschen kehren in dieser Zeit des Jahres nicht nur zu familiären und gemeinschaftsstiftenden Ritualen, sondern auch zu religiösen und kirchlichen Praktiken zurück, die sie eigentlich längst abgelegt hatten. Das kann ich niemandem verübeln, denn selbst als Theologin gehöre ich zu denjenigen, die sich in der Adventszeit nicht nur auf ihre geographische und familiäre Heimat besinnen, sondern auch die im Laufe des Jahres ausgetrockneten Wurzeln ihres Glaubens wiederentdecken. Dafür kann sich Weihnachten zu Hause insofern eignen, als dass für viele die räumliche Erinnerung, die bekannten Rituale und die Gemeinschaft, aus der man hervorgegangen und herausgewachsen ist, jeder kritischen Perspektive zum Trotz die Sehnsucht nach Heimat, Geborgenheit und Zugehörigkeit zumindest kurzfristig beruhigen können. In der katholisch-theologischen Interpretation trifft der Song „Coming home for Christmas“ also nicht nur die adventliche Sehnsucht nach räumlicher Heimat. Da es nicht nur um die Rückkehr zu geliebten Menschen und bekannten Orten geht, lässt sich der Titel des bekannten Weihnachtssongs umformulieren: „Coming home for my ecclesiastical roots.“

Angesichts des zunehmenden Auseinanderdriftens von Kirche und Welt ist eine derartige Rückkehr zu den Wurzeln elementar. Dass nämlich der Boden für Glaube und Kirchlichkeit oft nur noch selten gewässert und gedüngt wird, gilt nicht nur für Menschen, die Kirche als Sinn- und Ritualanbieterin betrachten, sondern auch für aktive Christ:innen, die sich viel an der Grenze zwischen Kirche und Welt bewegen und um die Vermittlung zwischen beiden Welten bemüht sind. Ich kenne das selbst: Je intensiver ich im Laufe des Jahres (Pastoral-)Theologie unter den Zeichen der Zeit treibe, je mehr ich mich mit verschiedenen religiösen Traditionen, Atheismen oder der säkularen Gegenwart des Mensch-Seins auseinandersetze, umso weiter entferne ich mich von meiner kirchlichen Beheimatung. In der katholischen Kirche, dem „Haus, das die Träume verwaltet“2, fühle ich mich zunehmend fremd, weil der Boden des Hauses plötzlich aus hartem Beton zu sein scheint und meine Wurzeln nicht mehr zur fruchtbaren Erde durchdringen. Ich fühle mich entwurzelt.

Ortlose Heimat

Doch eine Entwurzelung kann auch Vorteile haben. In einem Song von Alice Merton heißt es:

I’ve got no roots, but my home was never on the ground.3 (Alice Merton)

Entwurzelung schafft Freiheit und ein Bewusstsein dafür, dass wir Menschen nicht an die von Menschen geschaffene Welt gebunden, sondern in den Höhen und Tiefen, in der Weite der Gegenwart Gottes verwurzelt und beheimatet sind – und diese Weite hat eben keinen Boden. Denn die vertikalen und horizontalen Grenzen, an die unsere menschliche Wahrnehmung gebunden ist, werden mit Weihnachten, mit der Menschwerdung Gottes aufgebrochen. Für (ehemals) religiöse Menschen kann „heimkehren“ in diesem Sinne eine weitere Dimension haben, denn der christliche Glaube verortet die ewige Heimat in der Gegenwart Gottes. Mit dem johanneischen Logos, dem Wort, kommt diese Gegenwart Gottes an Weihnachten in die Tiefen des Mensch-Seins. Das bedeutet: Mit dem Kind in der Krippe wird die Verheißung der ewigen Heimat Realität, bricht das Reich Gottes im in dieser Welt, Hier und Jetzt an. In diesem Sinne müssen wir als Christ:innen die Sehnsucht nicht durch Vorfreude überlagern und nirgendwohin zurückkehren. Unabhängig von Ritualen und äußeren Rahmenbedingungen verspricht Weihnachten, dass das adventliche Warten, das Leben in der Erwartung von Gottes nahender Gegenwart, immer schon ein Ende hat und dass die Sehnsucht nach Heimat immer schon gestillt ist.

Aus dieser Perspektive fühlt sich das Zugehen auf Weihnachten für mich auch dieses Jahr wieder wie nach Hause kommen an, denn das warme Licht der ewigen Heimat, das vom Kind in der Krippe ausgeht, leuchtet schon von Weihnachten her in meine Adventszeit hinein – und ich weiß, dass ich dieses Jahr einen anderen Spruch auf meine Weihnachtskarten schreiben werde:

„Wohin gehen wir? – Immer nach Hause.“ (Novalis)

Hashtag der Woche: #cominghome


Beitragsbild: @andyholmes

1 Der Heimatdiskurs ist der Autorin bekannt, wird aber an dieser Stelle nicht erörtert, da es nicht um die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen und mitunter instrumentalisierten Verwendungsweisen von Heimat geht.

2 Vgl. Steffensky, Fulbert: Das Haus, das die Träume verwaltet, Würzburg 1998.

3 Vgl. Alice Merton im Song „No Roots“ (https://www.youtube.com/watch?v=PUdyuKaGQd4), veröffentlicht 2016.

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paulina sophie pieper

promoviert in Innsbruck zum Thema Theologie und Biografie, befindet sich in der Ausbildung zur Lebens- und Sozialberaterin und lebt derzeit mit Hund und Kegel in der nördlichsten Stadt Italiens. Wirre Gedanken verarbeitet und sortiert sie vornehmlich beim Schreiben. In ihrer „freien“ Zeit versucht sie gerade eine Sober-Community in Graz aufzubauen (Für Leser:innen aus Graz: Herzliche Einladung!).

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