Den jüdisch-christlichen Dialog radikal als Ort von Theologieproduktion ernstzunehmen, das versucht ein neues Netzwerk von jüdischen und christlichen Wissenschaftler*innen. Hannah Judith gibt Einblicke in die Anlage der neuen Plattform.

Christlich-jüdischer Dialog ist nicht harmlos; er verändert und hinterlässt Spuren – bis hinein in die Theologie. Alles andere wäre unverbindliches Gespräch, freundliche Plauderei.1

Diese Einsicht in die (wissenschaftliche) Tat umzusetzen, erweist sich nicht nur als nächster, herausfordernder Schritt im jüdisch-christlichen Dialog, sondern verweist auch auf seinen theologischen Eigenwert. Im Folgenden soll der Gedanke dieses Eigenwertes anhand der explizit theologischen Argumentationsweise im Dialogdokument „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“2 skizziert werden. Es geht davon aus, dass dialogische Haltungen und Praktiken selbst sich als theologieproduktive Orte erweisen und als solche ernstgenommen werden müssen. Die daraus erwachsenen Herausforderungen an die wissenschaftliche Theologie schlagen sich in der konsequent dialogischen Anlage einer neu gegründeten wissenschaftlichen Netzwerkinitiative jüdischer und christlicher Nachwuchstheolog*innen an der Universität Salzburg nieder, die sich selbst als ein theologisches Experiment versteht.

Neue Perspektiven auf den theologischen Eigenwert des jüdisch-christlichen Verhältnisses

Ein Meilenstein des Dialogs der letzten Jahre stellt ohne Frage das Dokument „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“3 aus dem Jahr 2015 dar. In Reaktion auf das 50-jährige Jubiläum des Konzilsdokuments Nostra Aetate argumentiert das von zahlreichen orthodoxen Rabbinern getragene Schreiben auf eine theozentrische Art und Weise für die große Bedeutung des Dialogs zwischen Jüd*innen und Christ*innen.4 Schon im Titel wird unmissverständlich deutlich, dass es in den folgenden Aussagen zum Christentum nicht um eine gesellschaftspolitisch motivierte Annäherung geht5, sondern dass vielmehr die Frage nach dem theologischen Gehalt und der theologischen Aufgabe einer gegenseitigen Verhältnisbestimmung zwischen Jüd*innen und Christ*innen in den Vordergrund gerückt wird. So kommt es zu der bemerkenswerten, in die jüdische Tradition eingehegten Aussage:

Wie Maimonides und Jehudah Halevi vor uns erkennen wir an, dass das Christentum weder ein Zufall noch ein Irrtum ist, sondern gö-ttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker.6

Hier geht es freilich nicht um eine theozentrische Vereinnahmung der christlichen Tradition über die Hintertür einer harmonisierenden Relativierung aller (ja gerade heilsgeschichtlich auszumachenden) Unterschiede.7 Es gilt vielmehr, den jeweiligen Eigenwert beider Religionen zu erkennen und entsprechend konsequent in die eigene theologische Erkenntnisarbeit einzubeziehen. Theologische und religiöse Identitäten in beiden Religionen werden gerade keiner Auflösung unterzogen.8 Das Verhältnis zwischen Jüd*innen und Christ*innen wird vielmehr selbst als ein Ort des Glaubens verstanden, der seine unmittelbare Relevanz in der Heilsgeschichte beider Religionen entfaltet. Der Dialog selbst wird in eine genuin theologieproduktive Sphäre verlagert und erhält auf diese Weise ein performatives Eigengewicht. Das heißt, dass er

[…] in seinen theologischen Bezügen, in seinen wechselseitigen theologischen Bestimmungsformen […] selbst förmlich theologisch [wird; JU]. Im Dialog ereignet sich, worauf er sich bezieht.9

Damit ist eine neue Perspektive auf den jüdisch-christlichen Dialog eingeführt: sie macht den theologischen Eigenwert gegenseitiger Verhältnisbestimmungen in einer neuen Radikalität bewusst.

Theologie als ein konsequent dialogisches Unterfangen – ein visionäres Experiment

Mit diesem Dialogverständnis geht ein unwiderruflicher Auftrag auch an die wissenschaftliche Theologie einher. Der theozentrischen Argumentationsweise hat eine theologische Methodologie zu entsprechen, die die theologische Bedeutung der Unwiderruflichkeit<10 der göttlichen Zuwendung zu Jüd*innen und Christ*innen immer schon mitdenkt. Diese Vision verlangt nach einer konsequent dialogischen Wissenschaftspraxis, die auch eine entsprechende (Neu-)Ausrichtung des institutionellen Settings der jeweiligen theologischen Kontexte nach sich ziehen muss. Die Frage nach ihrer konkreten Gestaltung und ihrem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis verweist auf ein ungeklärtes dialogtheologisches Desiderat.

Der notwendigen Erprobung und wissenschaftlichen Analyse eines konsequent dialogisch angelegten Settings widmet sich daher jetzt ein jüdisch-christlicher Forschungsverbund an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Salzburg. In verschiedenen wissenschaftlichen Kollegs und Diskursplattformen arbeiten hier jüdische und christliche Wissenschaftler*innen gemeinsam an ihren im Dialog verorteten Projekten. Eingebettet ist das Vorhaben als ein Beitrag der theologischen Grundlagenforschung in den größeren Förderkontext „Interreligious Dialogue“ der Porticus-Stiftung, in dessen Rahmen auch praktische Dialoginitiativen gefördert werden.11 Ein Teil des neuen Forschungsverbundes bildet ein Netzwerk aus jüdischen und christlichen Nachwuchstheolog*innen verschiedener Universitäten und Nationalitäten. Der Annahme einer eigenen Theologizität des Dialogs Rechnung tragend, stellt es ein experimentelles Setting zur Verfügung, in dem die Entwicklung einer dialogischen Methodologie als stetiger Prozess und zentraler Teil des Forschungsvorhabens selbst erst Stück für Stück erprobt werden wird. Um den dialogischen Denkhabitus der Theologizität des Dialogs zu verstetigen, ist eine Vernetzung von Wissenschaftler*innen der christlichen und jüdischen Theologien schon am Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahnen unverzichtbar. Dazu braucht es Freiräume der Vernetzung, die sich in ihrer Arbeitsweise und thematischen Agenda selbst abhängig vom jeweiligen Dialog machen. Man darf gespannt sein, was sich in Zukunft aus den wachsenden Kooperationen ergibt – jedenfalls manifestiert der hier skizzierte Selbstanspruch die Einsicht in den theologischen Eigenwert des Dialogs über jedes freundschaftliche Plaudern hinaus (aber natürlich auch nicht ohne ein solches 😉)!

Hashtag der Woche: #mehralsplaudern


(Beitragsbild @heftiba)

1 Heinz-Günther Schöttler, Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum (Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien 13), Würzburg 2016, 25.

2 Den Willen unseres Vaters im Himmel tun. Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen, 03.12.2015. URL: https://www.jcrelations.net/de/artikelansicht/den-willen-unseres-vaters-im-himmel-tun-hin-zu-einer-partnerschaft-zwischen-juden-und-christen.pdf [Abruf: 15.10.21].

3 Ebd.

4 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Das Christentum – ein „göttlich gewolltes Geschenk an die Völker“. Zur theozentrischen Begründungsstruktur der Erklärung orthodoxer Rabbiner, in: Jehoschua Ahrens u. a. (Hgg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 22020, 161–169.

5 Vgl. ebd., 168f.

6 Den Willen unseres Vaters im Himmel tun, §3.

7 Vgl. Jehoschua Ahrens, Den Willen unseres Vaters im Himmel tun. Zu Kontext, Entstehung und Rezeption der Erklärung orthodoxer Rabbiner und ein kurzer Ausblick auf die Zukunft des Dialogs, in: Jehoschua Ahrens u. a. (Hgg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 22020, 53–79, hier: 64f.

8 Vgl. Christian M. Rutishauser, Eine jüdische Theologie des Christentums, in: Jehoschua Ahrens u. a. (Hgg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 22020, 170–183, hier: 174–176.

9 Gregor M. Hoff – Jehoschua Ahrens, Geschwister auf einer gemeinsamen Suche. Eine Analyse der jüdisch-orthodoxen Stellungnahmen zum Dialogkurs der Kirche, in: HerKorr 74/7 (2020) 24–26, hier: 26.

10 Diese Unwiderruflichkeit betont auch das im Anschluss an das orthodox jüdische Dialogdokument veröffentlichte vatikanische Dokument „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50jährigen Jubiläums von „Nostra aetate“ (Nr. 4), 10.12.2015. URL: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/Vatikandokument-50-Jahre-Nostra-aetate.pdf [Abruf: 15.10.21]).

11 Nähere Informationen zur ersten Phase des Projektes an der Universität Salzburg finden sich unter https://uni-salzburg.elsevierpure.com/de/projects/developing-a-theology-of-the-interreligious-dialogue-from-a-jewis. Informationen zur Porticus-Stiftung sind der Stiftungshomepage unter https://www.porticus.com/en/home/ zu entnehmen.

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hannah judith

studierte von 2014-2019 katholische Theologie in Bonn und Jerusalem. Seit dem Sommersemester 2020 ist sie Doktorandin im Fach Fundamentaltheologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg und Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes.

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