„Radikale Zärtlichkeit“ ist nicht nur Titel des Bestsellers von Şeyda Kurt, sondern auch ein Programm der Gerechtigkeit. Tom Sojer entdeckt darin Potential für katholisches Sexualleben.

Kann ich Liebe anders denken? Dazu müsste ich erstmal fragen, wie ich jetzt gerade Liebe denke. Woher kommt das, was ich über Liebe zu wissen meine? Şeyda Kurts aktueller SPIEGEL-Bestseller Radikale Zärtlichkeit kann da helfen. Sie schreibt aus Neukölln, aber nicht nur für Neukölln. Das ist nicht geografisch gemeint. Am Beginn des Langessays steht deshalb ein „Kleines Glossar der komplizierten Begriffe“, in dem sie Wörter wie ‚rassifiziert‘, ‚Dominanzgesellschaft‘ und ‚queer‘ erklärt. Für wen schreibt Şeyda Kurt also? Für alle, die selbstverständlich Diskursmarker wie ‚Freund*innenschaft‘, ‚Be*hinderung‘ und ‚BPoC‘ verwenden. Sie schreibt aber auch für Menschen wie mich, für die all diese Codes Neuland wie auch Unsicherheit bedeuten. Kurts Anliegen wird spätestens mit dem Untertitel klar: Warum Liebe politisch ist. Was bedeutet es politisch, radikal zärtlich zu sein? Es ist ein Programm der Gerechtigkeit. Denn, „eine Gerechtigkeit der Zärtlichkeit in der eigenen Beziehung, den scheinbar privatesten Spielräumen und darüber hinaus, gibt es nur dann, wenn sie für alle gilt.“ (S. 20) Die intime Sphäre ist somit alles andere als privat und muss auf Gerechtigkeit hin geprüft werden. Şeyda Kurt sagt damit nichts Neues. Vielmehr vermittelt sie Klassiker wie Audre Lorde, bell hooks und Eva Illouz. Wer hier einen visionären Neuentwurf eines intersektionalen Feminismus erwartet, wird vor allem schon Gedachtes elegant verwoben vorfinden. Das Spannende ist, Kurt setzt all das bei sich selbst an. Und vielleicht liegt darin das Revolutionäre, wie es der Klappentext verheißt.

Von Erich Fromm, türkischen Kultfilmen und Karl Marx

Şeyda Kurt erzählt ihre Geschichte und die ihrer Familie: als Frau mit Migrationshintergrund in Deutschland, großgeworden zwischen dem konventionellen Ideal romantischer Liebe und ihren gewaltförmigen Folgen. Sie erzählt aus ihrem Philosophiestudium zwischen Erich Fromm, türkischen Kultfilmen und Karl Marx. Sie erzählt von ihren ordentlichen und unordentlichen Denkprozessen. Darin erkenne ich die Stärke des Buches: Sie macht sich in ihrem Schreiben selber greifbar und damit angreifbar. Und genau diese Blöße im Denken erlaubt es, mir über jene Punkte klar zu werden, an denen ich Kurt widersprechen möchte: zum Beispiel bei ihrer Zeichnung des platonischen Erbes (als Quelle des Übels), die ich ebenso wie ihre Kritik am Leib-Seele-Dualismus differenzierter sehen will.
Und ja, Şeyda Kurt weiß um ihre eigenen blinden Flecken und Tunnelblicke sowie überhaupt das Problem vermeintlich gerechter Sprache. Sie widmet dem auch ein eigenes Kapitel.
Dort verteidigt sie das Überwinden aller binären Muster, findet sich am Ende aber immer wieder vor einer scheinbar letzten Dichotomie aus weniger sichtbaren und mehr sichtbaren Menschen: auf der einen Seite sozial gefährdete, be*hinderte, queere und rassifzierte Personen. Auf der anderen Seite alte, weiße, reiche cis-Männer. Ja, binäre Denkformen sind gewaltförmig und müssen auch überwunden werden. Gleichzeitig, unsere Gesellschaft bleibt durch binäre Unterdrückungsverhältnisse strukturiert und Kurt will das nicht verbergen.  Gerade diese selbstkritischen Nuancen machen ihr Denken und Schreiben für mich lesenswert und motivieren mich, ihr zu folgen und mich selbst und meine Privilegien in Frage zu stellen.

„Was kommt nach der Entzauberung, wenn das Heilige und Transzendente der romantischen Liebe, wie wir sie gelernt haben, verschwunden ist? Dann kommt vielleicht die Unordnung. Und es kommen die ganzen Widersprüche.“ (S. 21–22)

Ein alternatives Alphabet der Zärtlichkeit

Radikale Zärtlichkeit macht auf einem performativen Level einfach Spaß zu lesen. Der Schreibstil ist erfrischend lebendig, mit Witz und vor allem schlau gewählt. Das liegt nicht zuletzt auch am bunten Mix aus verschiedenen Textgattungen und Gestaltungsformen, die wohl Geschmackssache bleiben, vielleicht manchmal Kitschcharakter haben oder einfach sehr viel Herzlichkeit transportieren. Da gibt es unter anderem den fiktiven Schlagabtausch mit Karl Marx oder „Das alternative Alphabet der Zärtlichkeit“:

G wie Glaube. Ich glaube dir. Punkt. H wie Harmonie. Ich beharre nicht auf Harmonie. Ich sehe nicht über deine Wut und Enttäuschung hinweg, weil ich Angst vor der Auseinandersetzung habe. Ich bin jedoch bereit, mit dir an einem gemeinsamen Frieden zu arbeiten, der uns beide nicht unsichtbar macht […] J wie ja. Ich verstehe dein Ja zu unserer Beziehung, zu unserer Körperlichkeit nicht als absolutes Zugeständnis. Ich biete dir Möglichkeiten und Gelegenheiten des Austauschs, um dein Ja zurückzuziehen. Ich versuche mit deinem Ja so behutsam umzugehen wie mit einem Katzenbaby.“ (S. 129)

Intimität in Freund*innenschaften

Eine zentrale These Kurts lautet, dass Liebe Arbeit ist und damit kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungslogiken unterliegt. Romantische, heteronormative Liebe verdecke Unterdrückungsmechanismen und stabilisiere sie. Hier folgt sie der marxistischen Philosophin Silvia Federici. Mit ihr führt sie einen dokumentierten E-Mail-Austausch und fragt, was aber nun aus der romantischen Liebe werden soll – verabschieden oder transformieren?
Şeyda Kurt sieht dafür nur eine ehrliche Möglichkeit: eine Utopie des zärtlichen Handelns. Besonders interessant ist hier die Erweiterung intimer Praktiken in monogamen, romantischen Exklusivitäten um einen neuen Vollzugsraum der Freund*innenschaften. Kurt fordert, die Vielfalt an Verbundenheitsarten, Erotiken und Zärtlichkeiten anzuerkennen:

„Freund*innenschaften machen Angst. Sie machen Rechten und Konservativen Angst, weil sie sehen, wie Menschen sich verbünden, die sich nicht über eine konstruierte, kalkulierbare, exklusive Gemeinschaft aus Herkunft, Blut, Abstammung und Geschlecht identifizieren. Sondern aus gemeinsamen Erfahrungen und Überzeugungen. Sie machen Angst, weil politische Solidarität auf Freund*innenschaften beruht […] Aber auch ich habe manchmal Angst vor Freund*innenschaften. Weil sie unberechenbarer als etwa romantische Beziehungen sind. Weil die Rolle, in der ich als Freundin den unterschiedlichsten Menschen begegne, weniger ritualisiert, historisch, diskursiv, politisch strukturiert ist. Freund*innenschaften erfordern Entschlossenheit. Und gerade das hat eine transformative Kraft.“ (S. 165–166)

Katholischer Sex, radikal zärtlich?

Kurts Radikale Zärtlichkeit steht damit in meinen Augen nicht in einem unüberwindbaren Widerspruch mit der katholischen Sexuallehre, zumindest nicht mit dem, was – in meiner Lesart – der Kirche heilig ist. Mit Kurt kann vielmehr ein alternativer hermeneutischer Horizont aufgespannt werden, vor dem die biblische Grundlegung der Ehe zwischen Mann und Frau nichts verliert, wenn wir als queere Gesellschaft heteronormative Beziehungen umfassend entprivilegieren. Letzteres befreit sogar von der gewaltfördernden Befürchtung, die Anerkennung alternativer Lebensformen unterwandere die Würde des Ehesakraments.
So eine politisch radikale Zärtlichkeit unter Freund*innen half mir Joh 15,13 noch einmal anders zu lesen, nämlich dass die „größte Liebe“ eine in Freund*innenschaften ist und nicht eine im Hollywood der romantischen Liebe – zumindest garantiert das jener Freund, der sich selbst als πραΰς (praus, zärtlich, vgl. Mt 11,29) vorgestellt hat.
Radikale Zärtlichkeit lese ich schließlich auch als religionskritische Schöpfungstheologie, dass in der eigenen queerness eine immer schon gegebene, heilstiftende Erotik freizulegen ist:

„Erotik als eine Quelle von Wissen und Macht, die daraus erwächst, ein tiefes Verlangen und Streben mit einem anderen Menschen zu teilen. Es sei das Teilen von Lust welcher Art auch immer, die dadurch nur größer werde – und die Selbsterfahrung als Mensch, der fähig ist zu fühlen. »Und dieses tiefe und unersetzbare Wissen und meine Lustfähigkeit bringt mich dazu, mein Leben ganz im Zeichen dieser Erkenntnis zu führen – dass es diese Erfüllung gibt und sie weder Ehe noch Gott oder das Leben nach dem Tod bedeuten muss.« Doch vor allem hat ein anderes Verständnis von Körpersein zur Folge, dass eben jene Körper, die seit Jahrhunderten unterdrückt und ausgebeutet werden, anstelle religiöser oder spiritueller Ideale und Normen ins Zentrum unserer Utopien rücken – kleine, große, erschöpfte Körper, Körper, wie sie sind und mit ihrem Recht auf Erotik, Entfaltung und Unversehrtheit.“ (S. 202)

 

Hashtag: #RadikaleZärtlichkeit


(Beitragsbild: @mamnoleas)

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie Booked, die sich an die Bücherwürmer unter Euch richtet: Wir nehmen uns spannende Titel vor, erzählen einfach, worum es geht, oder formulieren ein paar weiterführende Gedanken.

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thomas sojer

forscht als Fellow am Titus Brandsma Instituut der Radbaud Universiteit Nijmegen und promoviert im gemeinsamen Kolleg des Max Weber Kollegs in Erfurt und der Uni Graz in Katholischer Theologie über Kreuzestheologien bei Simone Weil.

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