Gut gemeint heißt nicht unbedingt gut gemacht. Anhand der MISEREOR-Fastenaktion 2020 erklärt Anne Arend, wo die Gefahren eines eindimensionalen Vulnerabilitätsbegriffs liegen und welche Auswege es gibt.
Notleiden und helfen, Vulnerabilität und Macht – das scheinen Gegensatzpaare zu sein. Folglich kann die Überzeugung entstehen, dass die von der eigenen Vulnerabilität unangetastete Macht überhaupt erst die Zuwendung zu den notleidenden Menschen ermöglicht. Ist somit die eigene Verwundbarkeit der Sand im Getriebe, den es unbedingt zu vermeiden gilt, wenn das mit dem diakonischen Handeln gegenüber den Notleidenden funktionieren soll?
Dieser Eindruck kann tatsächlich entstehen, wenn ein verkürztes Verständnis von Vulnerabilität vorherrscht. Vielleicht würden wir es bestreiten, aber ist es nicht doch so, dass wir, zumindest unbewusst, eine solche Polarität von Macht und Vulnerabilität annehmen? Wird uns nicht immer wieder erzählt, dass wir, um erfolgreich sein zu können, ja keine Schwächen zeigen dürfen? Oder wie steht es mit dem Thema Emotionen zeigen? Andere zu trösten ist ehrenwert, selbst zu weinen ist peinlich. Es zeigt sich:
Eine solche angenommene Bipolarität von Macht und Verwundbarkeit erwächst zu einem wesentlichen Teil aus einem verkürzten Vulnerabilitätsverständnis.
Problematik eines eindimensionalen Vulnerabilitätsbegriffs
Da sich die Problematik eines eindimensionalen Vulnerabilitätsbegriffs anhand eines Beispiels besser veranschaulichen lässt, wird der Praxisbezug im Folgenden durch das Beispiel der MISEREOR-Fastenaktion 2020 hergestellt. In diesem Kontext ist die Praxis die humanitäre Krise im Libanon und in Syrien. Im Grunde gibt es zwei prekär verkürzte und, wie bereits thematisiert, oft unbewusste Annahmen über Vulnerabilität.
Die erste Annahme ist, dass es klare Definitionskategorien und allgemeingültige Muster von Vulnerabilität gibt, nach denen sich Menschen einteilen lassen. So heißt es z. B. in der Definition des Forschungsprojektes INVOLVE, dass vulnerable Personen diejenigen Menschen seien, die aus verschiedenen Gründen besonders anfällig für die negativen Auswirkungen einer Krise oder Katastrophe sind.1 Mit einem Blick auf die Lage im Libanon und in Syrien erscheint dies zunächst auch als sehr zutreffend. Hier muss sofort an die Menschen und insbesondere an die Kinder gedacht werden, die im Krieg und auf der Flucht Schreckliches erlebt haben und dadurch möglicherweise traumatisiert sind. Weil sie ihr Zuhause verlassen, Schreckliches mitansehen und geliebte Menschen sowie Besitztümer zurücklassen mussten, sind sie in besonderer Weise verwundbar. Aber, und das ist wichtig: Es gibt verschiedene Faktoren, die eine Person vulnerabel machen.
Dies ist zum einen die Art der Krise. So sind z. B. im Krieg und auf der Flucht Kinder als besonders verwundbar einzustufen. Im Kontext der Corona-Pandemie dagegen geht man bei Kindern von einem eher milderen Verlauf einer COVID-Erkrankung aus. Zum anderen ist es aber auch die persönliche Verfasstheit des*der jeweiligen Betroffenen. Und dennoch sind solche Pauschalisierungen in gewisser Weise notwendig. So auch für die Arbeit von MISEREOR und seinen Partnerorganisationen, um auf Katastrophen- und Krisenfälle reagieren und den Menschen vor Ort helfen zu können. Problematisch wird es aber, wenn Vulnerabilität blind vermutet und zugeschrieben wird.
Es kann nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass alle geflüchteten Menschen auf die gleiche Weise verwundbar und auf die gleiche Weise hilfsbedürftig sind. Bei einem solchen Vulnerabilitätsverständnis werden Menschen vorschnell kategorisiert.
Dies kann dazu führen, dass ohne Anschauung der Person, in einem klassischen Schubladendenken, vermutet wird, wie verwundbar diese Person sein müsse, da sie ja dies und jenes erlebt oder Eigenschaft/Eigenheit XY hat.
Die zweite, höchst problematische, Annahme über Verwundbarkeit und Macht ist die, dass Vulnerabilität immer nur die Anderen betrifft und dass man selbst quasi immun gegenüber Vulnerabilität ist. Damit einher geht oft, dass Menschen, die als notleidend und vulnerabel verstanden werden, zu einer anonymen Masse verschwimmen, gegenüber der man sich in gewisser Weise überlegen fühlt.
„Gib Frieden!“?
Hierzu lässt sich insbesondere das Motto der MISEREOR-Fastenaktion 2020 vulnerabilitätskritisch hinterfragen. Es lautet: „Gib Frieden!“ und möchte somit ein Aufruf zur humanitären Hilfe sein. Das Problematische ist hierbei, dass sich eine Einteilung in vulnerable Notleidende und barmherzige Samariter geradezu aufdrängt. Aber ist es wirklich so schwarz-weiß wie es scheint? Wir, die wohlsituierten Christ*innen in Deutschland, die durch Gebet und Spenden die Rolle des Hl. Martin einnehmen und uns den notleidenden, vulnerablen Menschen, z. B. im Libanon und in Syrien annehmen? Wäre eine solche Sichtweise nicht vermessen und v.a. viel zu eindimensional? Würde dahinter der konkrete Mensch mit seiner Geschichte nicht verschwinden? Wie oft spricht man z. B. von den Flüchtlingen und von den armen Menschen in Afrika und sieht dahinter keine Gesichter, keine Namen, keine Geschichten.
Die Vulnerablen, die Armen, die notleidenden Menschen, das sind am besten die anderen, aber nur nicht man selbst.
Zwei-Ebenen-Denken
Malen wir uns in unserem Kopf doch mal eine kleine Skizze um die ganze Problematik noch weiter zu veranschaulichen: Stellen wir uns dazu zwei Ebenen vor, die einen großen Abstand zueinander haben, wobei die eine weit über der anderen liegt. Ist es nicht so, dass die Gefahr besteht, dass die notleidenden und vulnerablen Menschen (wenn auch nur unbewusst) als abgeschlossene Gruppe auf der unteren Ebene verortet werden? Die obere Ebene wird dann denen zugedacht, die im Gegensatz dazu als mächtig und reich zu bezeichnen sind. In diesem Bild bleibend, liegt dann die Vorstellung nahe, dass sich jene Menschen, die zu der oben liegenden Ebene gezählt werden oder sich selbst dazu zählen, in barmherziger Haltung der unteren Stufe zuwenden (sollen) und den vulnerablen Menschen ihre Hilfe zukommen lassen.
In diesem Sinne ist auch der Aufruf des Mottos: „Gib Frieden!“ formuliert. Da bei dieser Zwei-Ebenen-Vorstellung, die eine Ebene also über der anderen liegt, muss bildlich gesprochen eine gewisse Distanz überbrückt werden, um der unteren Ebene Hilfeleistungen – in erster Linie geht es um Spenden – zukommen zu lassen. Durch diese zu überbrückende Distanz entsteht eben genau die problematische Anonymität, die bereits thematisiert wurde.
Es geht im Aufbrechen eines Machtgefälles und einer einseitig verstandenen Vulnerabilität um das sich berühren lassen von der Not der*des Anderen.
Gerade aber dieses berührt sein ist bereits ein Schritt dahin, die eigene Vulnerabilität wahrzunehmen und anzuerkennen. Es geht darum, sich selbst nicht für etwas Besseres zu halten, schon gar nicht aufgrund von Faktoren, auf die man selbst gar keinen Einfluss hat, wie z.B. Hautfarbe oder Geburtsort. Ein ehrliches Wahrnehmen und berühren lassen von einer Person ist natürlich häufig aufgrund von räumlicher Distanz nur schwer möglich. Deshalb ist es wertvoll und bedeutsam, wenn, wie es auch MISEREOR macht, einzelne Menschen und ihre Geschichten, z. B. durch Videos, vorgestellt werden, sodass die Anonymität durchbrochen wird.
Hashtag der Woche: #dontfearvulnerability
Beitragsbild: Jonas Jacobsson
[1] Vgl. OSCHMIANSKY, HEIDI u. a., Die vulnerable Gruppe „ältere und pflegebedürftige Menschen“ in Krisen, Großschadenslagen und Katastrophen. Teil1: Wissenschaftliche Erkenntnisse und Herausforderungen aus der Praxis, in: Schriften der Forschung (2018), online: https://www.drk.de/fileadmin/user_upload/Forschung/schriftenreihe/Band_6/Schriften_der_Forschung_6.1._Wissenschaftliche_Erkenntnisse_und_Herausforderung_aus_der_Praxis.pdf [02.10.2021], 11.