Was machen mit den sich immer mehr leerenden Kirchengebäuden? Christoph Naglmeier-Rembeck denkt über Kirchen als Third Places nach und schenkt für y-nachten.de ein gutes Glas Spiritual Tonic ein. Cheers!

Welche Zukunftsoptionen für Kirchen ergeben sich angesichts der großen Veränderungen, die bereits stattgefunden haben und in Zukunft weiter an Fahrt aufnehmen? Die Diagnose steht: „In den vergangenen 20 Jahren wurden weit über 500 katholische und sicher inzwischen um die 300 evangelische Kirchen von den Konfessionen aufgegeben, ein Drittel dieser Bauten wurde abgerissen, Tendenz steigend.“1 Schließlich ist es ist eine einfache Schlussfolgerung:

Sinkende Mitglieder- und Kirchenbesucher*innenzahlen führen zu vielen Kirchen, die hinsichtlich ihrer ursprünglichen Bestimmung schon jetzt und noch mehr in der Zukunft überflüssig werden. Es ist eine der vielen Zukunftsaufgaben für die beiden christlichen Großkirchen, eine aktive Umnutzungs- und Transformationserzählung anzugehen, anstatt sich aufgrund der beschriebenen Entwicklung einer passiven Verlustdeutung hinzugeben.

Third Places als Optionen kirchlichen Handelns

Eine Option kirchlichen Handelns ist es, das nach wie vor vorhandene Spiritualitätsbedürfnis der Gesellschaft als eigene Aufgabe dahingehend wahrzunehmen, Räume für individuelle Spiritualitätserfahrungen unter christlichen Vorzeichen zu eröffnen.

Eine soziologische Referenztheorie hierfür liefert der US-amerikanische Soziologe Ray Oldenburg Ende der 1980er-Jahre mit seiner Theorie der Third Places.2 Oldenburg verortet die Bewegungsströme menschlichen Lebens im Rahmen von First Places (Orte des Wohnens), Second Place (Ort des Arbeitens) und Third Place (Ort des sozialen Zwischenraums). An First und Second Places agieren die Menschen in festen Rollen (beispielsweise als Vater oder Arbeitnehmerin), deren Profile ein bestimmtes Verhalten erfordert. Doch es braucht für eine funktionierende Gesellschaft auch Orte, an und zu denen Menschen kommen und gehen können, wie und wann sie wollen. Derartige Orte sind Third Places: inklusiv, für jede Person zugänglich, unabhängig von den Rollen, die man an First und Second Places innehat, also auch unabhängig von der Lebens- und Berufssituation. Ein Third Place ist „accessible to the general public and does not set formal criteria of membership and exclusion“ (24). Menschen werden an diesen Orten als sie selbst akzeptiert, unabhängig von Labels, die man an First und Second Places trägt: Vater, alleinerziehend; alleinstehende Frau, karrierefixiert; junge erwachsene Person, die aus schwierigen Verhältnissen kommt; oder Ähnliche.

„They are accepted just for themselves and on terms not subject to the vicissitudes of political or economic life“ (25). Es wird ein Rahmen der Gleichberechtigung angeboten, der Dichotomien wie Reichtum und Armut, beruflicher Erfolg und Misserfolg, unglückliche Einsamkeit und gelingende Partnerschaft, gesellschaftliche Achtung und Ansehen keinerlei Bedeutung beimisst.

Entscheidend sind Atmosphäre und Zugänglichkeit

Die Art und Weise, wie an jenen Orten Konversation verläuft, ist für Oldenburg entscheidend. „Nothing more clearly indicates a third place than that the talk there is good“ (26). Es herrscht eine positive Atmosphäre, deren Grundlage folgende Konversationscharakteristika bilden: „It is more spirited than elsewhere, less inhibited and more eagerly pursued“ (29).

Third Places sind auch von einer entsprechenden Zugänglichkeit geprägt. Sie stehen den Menschen in den Intervallen vor, zwischen und nach den Präsenzzeiten an First und Second Places zur Verfügung, sozusagen als Auszeit von den Routinen an Wohn- und Arbeitsorten. Das erfordert eine hohe Flexibilität der Gastgeber*innen von Third Places, was sich beispielsweise in langen Öffnungszeiten ausdrückt, sodass möglichst viele Menschen die Gelegenheit haben, Third Places abseits ihrer alltäglichen Routinen zu besuchen. Dabei obliegt es der jeweiligen Person, in welcher Rolle sie dort auftritt. Ob als Gast, Neuling oder als Regular, wenn Besuche also regelmäßig erfolgen – die Rollen eint das hohe Maß an Freiwilligkeit, welches die Besucher:innen selbstbestimmt und ungezwungen agieren lässt (vgl. 58).

Spiritual Tonic

Hinsichtlich des Charakters von Third Places hält Oldenburg fest, dass diese Orte Spiritual Tonic – sozusagen ein spirituelles Stärkungsmittel – bieten (vgl. 55). Den Besuchenden geht es beim Verlassen deutlich besser, da sie eine wärmende Akzeptanz erfahren haben. Um dieses Phänomen weiter zu präzisieren, greift Oldenburg auf das deutsche Wort Gemütlichkeit zurück, da es den universalen Einladungscharakter jener Orte, die für alle Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht oder Nationalität gilt, treffend beschreibt. „A Gemütlich setting is inviting to human beings – all of them“ (56). Damit geht ein geringer Grad an Verpflichtungsgefühl einher: „There is no duty to stay in such a place beyond its ability to provide satisfaction“ (57). Die Leute verlassen den Ort „when or before the magic begins to fade“ (57).

Kirchen als Third Places

Elemente dieser Charakterisierung sind in einigen Kirchengebäuden und kirchlichen Angeboten bereits wiederzufinden. Beispielsweise wenn Werktagsgottesdienste in einer Citykirche, die an der Schwelle von Bahnhof und Stadt gelegen ist, um 17.30 Uhr stattfinden und die damit als Third Place zwischen First und Second Place verortet ist. Oder wenn aufgrund des Niedergangs des volkskirchlichen Ideals alternative Assoziations- und Begegnungsformen in der Citypastoral erprobt werden, die weniger mit einem Verpflichtungsdruck, wie er beispielsweise in volkskirchlichen Gemeinden vorherrschen kann, agieren. Sondern aus einem hohen Maß an Freiwilligkeit schöpfen:

„There must be places where individuals may come and go as they please […]“ (22). In Kirchen als Third Places können Besucher*innen einen spirituellen Mehrwert in Form von Spiritual Tonic erfahren, der auch die alltäglichen Routinen an First und Second Places positiv beeinflusst.

Zudem besteht für die Kirchen gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Playern die Chance, Third Places mitzugestalten, beispielsweise wenn die vorher genannte universal einladende Gemütlichkeit im Rahmen eines angebauten Kirchencafés gemeinsam mit einer sozialen Initiative umgesetzt wird. Pionier*innen auf diesem Feld, die häufig in der Citypastoral zu finden sind, zeigen verschiedene Weg zu einer Third-Place-Werdung auf.

An jenen Orten sind Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder spirituellen Vorgeschichte willkommen.

Damit tragen Kirchen auch einen Teil zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft bei, die nicht in isolierte oder sich isolierende Teilgruppen zerfällt, da Third Places eine milieuübergreifende Verständigung unterstützen. Darin besteht das Potential von Kirchen, die als Third Places wahrgenommen werden: „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 2) dahingehend zu sein, dass Räume gestaltet oder mitgestaltet werden, die allen Menschen, unabhängig von deren Rollen an First und Second Places, Spiritual Tonic bieten.

„The effect of the third place is to raise participants‘ spirits, and it is an effect that never totally fades“ (55).

 

Hashtag der Woche: #placetobe


Beitragsbild: Amritanshu Sikdar

[1] Klauser, Manuela, Mehr als Denkmalschutz, in: Herder Korrespondenz 74 (8/2020), 38.

[2] Vgl. Oldenburg, Ray, The Great Good Place. Cafés, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of a community, Cambridge 21999.

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christoph naglmeier-rembeck (er/ihm)

studierte von 2015 bis 2020 Katholische Theologie und ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik in Regensburg. Er ist Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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