Nächstenliebe mit Distanz und Sicherheitsabstand? Viktoria Brengmann fragt nach den barmherzigen Samariter*innen der pandemischen Zeit und zeigt mit Herbert Haslinger, wie wichtig die diakonische Grunddimension der Kirche trotz oder gerade wegen der Pandemie ist.

Wenn Distanz und Sicherheitsabstand die „neue Form der Nächstenliebe“1 darstellen – kann man da noch für den anderen da sein und Diakonie leben? Wenn Virenexpert*innen nur noch vom „allein wohnende[n] Mensch[en], der ‚Essen auf Rädern‘ bekommt, das von einer Drohne oder, wenn es sich nicht vermeiden lässt, einem Menschen mit N95-Mundschutz geliefert wird“2 träumen – kann Jesus dann noch ein ‚Geh und handle genauso – wie der barmherzige Samariter!‘ (vgl. Lukas 10,37) fordern?

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Fakt ist: SARS-CoV-2 hat en masse Notsituationen produziert, Menschen in Existenzängste getrieben und unser aller Verwundbarkeit ausgenutzt. Jener für diakonisches Tun vorauszusetzende Umstand der Not findet sich ebenso im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Konkret ist die Ohnmachtssituation des durch den Überfall verwundeten Mannes gemeint.3 Die diesbezüglich von Herbert Haslinger betonte Unumgänglichkeit der Hinwendung der Kirche zu den individuellen Lebensrealitäten der Menschen sowie die damit verlangte Rückkehr der Kirche zur Diakonie – besonders in Corona-Zeiten4 −­ schließt das im Samaritergleichnis vorhandene Moment des „Hinein-Kommen[s]“5 des Helfenden in die Notlage des Hilfsbedürftigen mit ein.6

Change the system

Indem der Samariter in den Not verursachenden Strukturen selbst tätig wird, wird die politische Dimension seines Liebeshandelns, nämlich der Fingerzeig auf das Veränderungsbedürftige innerhalb des Sozialwesens, deutlich.7 In diesem Kontext könnte man sich nun fragen: Stellt nicht auch in der Corona-Pandemie jede durch Nächstenliebe motivierte Tat gleichzeitig einen Verweis auf die im Hintergrund stehende, durch das Virus herausgeforderte Ordnung dar und hat somit politische Qualität?

Fakt ist, dass der barmherzige Samariter folgende Aussage ohne Zögern unterschreiben würde:

Diakonische Liebe „wird nicht getan, um damit andere Ziele zu erreichen“ (Deus Caritas est 31c). Diakonie passiert einzig und allein für den Notleidenden – that’s it.

Na dann ist ja gut. Oder?

Angesichts der kritischen Blicke der Bevölkerung ist der Kampf gegen Corona für viele Institutionen jedoch auch ein Kampf um das eigene Image, weshalb eine Verzweckung diakonischer Aktivitäten zu eigenen Gunsten nicht weit entfernt ist. Die Versuchung, Hilfesuchende als Mittel zum Zweck zu betrachten, ist zu vermeiden8 und geht mit der Asymmetrie zwischen Helfendem und Hilfsbedürftigen in diakonischen Verhältnissen einher. So verfügt der barmherzige Samariter über Fähigkeiten, derer der überfallene Mann nicht mehr mächtig ist. Genauso verhält es sich beispielsweise im Verhältnis zwischen Krankenpfleger*innen und Patient*innen.

Insofern geht mit jedem Hilfsakt ein freiwilliges Abgeben der eigenen Stellung zugunsten der niederen Position des Notleidenden einher.9

Eine Hilfeleistung ermöglicht der helfenden Person kein höheres Ansehen, sondern passiert vielmehr unscheinbar behind-the-scenes.

Von dorther erklärt sich auch der unter pastoralen Mitarbeiter*innen zunehmende Trend, sich immer mehr aus Bereichen der konkreten Seelsorgearbeit mit Face-to-face-Begegnungen herauszunehmen.10

Kein Gewohnheitsrecht in pastoralen Handlungsfeldern

Haslinger fordert, nicht in die kirchliche Normalität der Vor-Corona-Zeit zurückzukehren. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die einen in aufdringlicher Art und Weise für Gemeindearbeit in Anspruch genommen wurden und die anderen, deren Lebensbedingungen schon erschwert genug waren, Ausgrenzung erfahren mussten.11 Damit verbindet sich der im Gleichnis notwendigerweise vorkommende Akt der Wahrnehmung und des sensiblen Mitfühlens.12

Pastorales Handeln, das nicht in der Lage ist, die am Rande der Gesellschaft Stehenden wahrzunehmen, ist keine Pastoral im Sinne Jesu.

Dies wird besonders deutlich, wenn Ottmar Fuchs das Hilfshandeln Jesu als ein Tun beschreibt, das die Not in seiner Umgebung wahrnimmt.13 In Zeiten von „stay home & stay healthy“ ist hiermit eine besondere Herausforderung gegeben, insofern als dass neue Möglichkeiten gefunden werden müssen, um die Menschen zu Hause in ihren Wohnungen wahrnehmen und erreichen zu können.

Nähe ist keine Frage der Entfernung

Folgt die Kirche ihrem Sendungsauftrag und orientiert sich am Beispiel der Diakonie Jesu, muss der diakonische Grundvollzug – wie das Handeln des Samariters im Gleichnis – durch einen bewussten Seitenwechsel hin zu den Notleidenden erfolgen. Körperliche Berührungen sowie der Akt der Solidarisierung stellen im jesuanischen Tun nicht nur eine Option, sondern vielmehr eine absolute Notwendigkeit dar.14 Eine derartige Hinwendung kann unter pandemischen Gegebenheiten jedoch nur unabhängig von körperlicher Nähe und unter Wahrung von Abstand stattfinden. Diese hier schon deutlich werdende Veränderung des Verhältnisses von zwischenmenschlicher Nähe und Distanz beschreibt Fritz B. Simon folgendermaßen: „Wenn man ‚auf Abstand voneinander geht‘, dann kann dies auch oder gerade dann geschehen, während man körperlich auf engem Raum zusammengedrängt ist. Und man ‚kann sich nahestehen‘, auch wenn man weit entfernt voneinander sitzt.“15

Schlussendlich bleibt also zu sagen: Ja, Diakonie kann und muss gerade in den schwierigen Zeiten einer Pandemie gelebt werden. Und ja, das jesuanische Wirken mit seiner im Gleichnis vom barmherzigen Samariter zum Ausdruck kommenden diakonischen Prägung, gibt Maßstäbe und Prioritäten vor, die für die Gegenwart lehrreich, leitend und daher unentbehrlich sind.

Aber: Es braucht eine den Corona-Verhältnissen entsprechende Adaption des beispielhaften Hilfshandelns des barmherzigen Samariters.

Damit diese gelingt, sind Kreativität, Offenheit, Empathie, Selbstlosigkeit, Nächstenliebe und vor allem ein starker diakonischer Wille gefragt.

In diesem Sinne: „‚Geh und handle genauso! Aber tu es corona-konform.‘“

 

Hashtag der Woche: #beacoroniter


(Beitragsbild: Florian Schmetz)

[1] Konkel, Michael, Abstand als Form der Nächstenliebe?. Die COVID-19-Pandemie in der Sicht eines Alttestamentlers, in: ThGl 110 (3/2020), 219–228, hier: 220.

[2] Simon. Fritz B., Verbotene und erlaubte Sozialformen, in: Heidingsfelder, Markus/Lehmann, Maren (Hg.), Corona. Weltgesellschaft im Ausnahmezustand?, Weilerswist 2021, 152–166, hier: 152.

[3] Vgl. Haslinger, Herbert, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009, 377.

[4] Vgl. Haslinger, Herbert, „Nachgehen in die äußersten Verlorenheiten“. Pastoral in Zeiten von Corona, in: ThGl 110 (3/2020), 321–331, hier: 324.

[5] Haslinger, Diakonie, 377.

[6] Vgl. ebd.

[7] Vgl. ebd.

[8] Vgl. Haslinger, Nachgehen in die äußersten Verlorenheiten, 330–331.

[9] Vgl. Haslinger, Diakonie, 378–380.

[10] Vgl. Haslinger, Nachgehen in die äußersten Verlorenheiten, 328–329.

[11] Vgl. ebd., 327.

[12] Vgl. Haslinger, Diakonie, 378.

[13] Vgl. Fuchs, Ottmar, Diakonia: Option für die Armen, in: Konferenz der bayerischen Pastoraltheologen

(Hg.), Das Handeln der Kirche in der Welt von heute. Ein pastoraltheologischer Grundriß, München 1994, 114-

144, hier: 123.

[14] Vgl. Haslinger, Diakonie, 378–380.

[15] Simon, Verbotene und erlaubte Sozialformen, 152.

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viktoria brengmann

studiert seit 2017 Katholische Theologie (Mag. theol.) an der Universität Regensburg und arbeitet als SHK am dortigen Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments.

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