Der Papst lässt den Hamburger Erzbischof Stefan Heße im Amt – trotz nachgewiesener Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen. Der Priester Marius Fletschinger fragt: Haben die in Rom überhaupt keine Ahnung, wie brisant die Lage ist?  Dieser Beitrag erschien zuerst auf seinem eigenen Blog.

Die kapieren es nicht! Die in Rom wollen nicht verstehen, worum es geht, und sie machen sowieso nur, was sie wollen. Heße soll also Bischof in Hamburg bleiben. In seiner Kölner Zeit hat er fünf Fälle von Missbrauch nicht nach Rom gemeldet, gegen die kirchenrechtlichen Vorgaben. In weiteren sechs Fällen hat er nicht näher hingeschaut, wo er z.B. eine Fürsorgepflicht gehabt hätte. Kaum jemand dürfte in Köln mehr belastet sein, wenn man absieht vom bereits verstorbenen Architekten des Brüder im Nebel-Systems. „Hä, was muss man denn noch tun, um gekickt zu werden?“ fragt mich gestern ein Theologie-Student. Ich habe darauf auch keine Antwort. Die römische Begründung, den Amtsverzicht nicht anzunehmen, ist lächerlich, das kann ich nicht anders sagen: Er habe seine Fehler ja eingesehen, und nicht mit Absicht vertuscht. – Ja gut, das denke ich mir trotz aller Erschütterung über unsere Hierarchie dann schon auch, dass keiner morgens aufsteht und beim Kaffee sagt: Heute gönne ich mir mal wieder `ne Vertuschung, weil ich‘s kann!

Wir, als Kirche, haben in einem breit diskutierten Zusammenspiel von Faktoren zugelassen und ermöglicht, dass Menschen über Jahrzehnte sexualisierte Gewalt und teils Unvorstellbares erlitten haben. Das lässt sich nicht gut machen.

Wenigstens können wir aber die Betroffenen nach Möglichkeit unterstützen und alles in unserer Macht Stehende tun, dass bei uns kein Platz mehr ist für diese abgründigen Taten. Die kirchlichen Präventionsordnungen ab 2002, 2010, die Regelungen zur Verfolgung von Missbrauchsfällen (von Heße und Anderen gebrochen; von Franziskus mehrfach verschärft) weisen in die richtige Richtung. Wenigstens die Präventionskonzepte haben sich teilweise bewährt. Aber welchen Wert haben bitte Regeln, wenn man sie folgenlos übertreten kann, wenn sich das kirchliche Vorgehen gar nicht an ihnen orientiert?

Am Ende bleibt es weitgehend folgenlos für Heße. Seine öffentliche Reputation ist halt zerstört, und er hing ein halbes Jahr in der Luft – weil sich der Vatikan mehr Zeit zum Entscheiden gelassen hat, als die eigenen Regeln vorschreiben. Aber das soll dann mal reichen. Er spricht schon von Neuanfang und verbreitet Zweckoptimismus. Mein kernkatholisches Umfeld ist sprachlos wütend über die römische Entscheidung. Es geht gar nicht um Heße als Person, es geht nicht drum, ihn zum Sündenbock oder Bauernopfer zu machen.

Wir haben ein grundsätzliches Problem, das betrifft viele weitere Verantwortungsträger und letztlich alle Katholik:innen.

Ich habe das Kölner Gutachten von Gercke gelesen, mit wachsender Fassungslosigkeit, Scham, Wut. Darin ist öffentlich sichtbar, wie leichtfertig, empathiearm, teilweise dilettantisch mit Missbrauchsfällen umgegangen wurde. Überdeutlich wird darin der Verschiebebahnhof von Verantwortung: müsste der Personalreferent die Initiative ergreifen, der Offizial, der Generalvikar oder könnte nur der Kardinal? Im Fußball lautet der höhnische Klassiker: „Nimm du den Ball, ich hab ihn sicher!“ Es wurde schon treffend formuliert: Was uns so brutal zu schaffen macht, ist nicht die böse Absicht, sondern die Kultur der Folgenlosigkeit oder die organisierte Verantwortungslosigkeit.

Als ich den Vorabbericht der FAZ und dann das Gutachten las, stand für mich zweifelsfrei fest: Rücktritte sind unausweichlich. Tatsächlich gingen mit der Veröffentlichung mehrere Rücktrittsangebote einher. Nebenbei: haben die Herren erst die Publikation eines formalrechtlichen Gutachtens gebraucht, um einzusehen, dass sie richtig Scheiße gebaut hatten? Haben sie es eingesehen? Seit dem 18.3. verfolge ich täglich die katholische Presse, weil sich in dieser Angelegenheit zeigt, wie ernst Papst und Vatikan die Aufarbeitung und Reform in Missbrauchsfragen nehmen. Mehr Zündstoff ist kaum möglich: Ein verstecktes Gutachten, ein zweites, das grelles Licht auf Versagen wirft, dazu ein schwer angeschlagener Kardinal mit der ganzen Kölner Bischofsschule. In der Domstadt fehlt ja nicht mehr viel, dass man mit Fackeln und Mistgabeln vors Bischofshaus zieht oder wie Leipzig ´89 die Archive stürmt! Die Auswirkungen dieses Dramas sehen wir in der Überlastung des Kölner Amtsgerichts, in massenhaften Kirchenaustritten in ganz Deutschland, sogar die evangelische Kirche kriegt etwas ab.

Seit einem halben Jahr denke ich: wenn ihm die Aufarbeitung des Versagens, die Integrität der katholischen Kirche (in Deutschland, doch nicht nur) ernstlich wichtig sind, hat auch der Papst hier keine andere Wahl als entschlossen durchzugreifen. Gestern wurde klar: er zementiert den status quo.

Im Hause Heße, Woelki und paar mehr dürften gestern Korken geknallt haben, in vielen tausend anderen Türen. Wir ohnmächtigen Beobachter:innen ballen die Fäuste vor Wut – wie erst fühlen sich die Betroffenen? Wir als Katholische Kirche machen uns, trotz ehrenwerter Anstrengungen vieler, in der Aufarbeitung nicht unglaubwürdig – das sind wir in den Augen einer verheerenden Menge längst – wir blamieren uns bis auf die Knochen!

Haben die in Rom denn überhaupt keine Ahnung, wie brisant die Lage ist? Was um Himmelswillen rapportiert die Nuntiatur nach Rom, was steht im Bericht der Visitation (in sich eine einmalig schallende Ohrfeige für den Kardinal), gibt es dort keinen, der sich ein undogmatisches Bild von der Lage in Deutschland machen könnte? Oder ist es der Kirchenspitze zynisch gleichgültig, einfach Wumpe? Wenn es beides nicht ist, kann es nur eines sein: willentliche, uferlose Verdrängung.

Tschernobyl ist recht exakt 35 Jahre her. Die Miniserie von HBO/Sky zeigt deutlich, wie die menschliche Psyche angesichts unendlicher Überforderung einfach abschalten kann: mehrfach, auf mehreren Hierarchieebenen wird die Einsicht ausgesprochen, der Kernreaktor sei explodiert. Jedes Mal antworten Techniker und Politiker, das sei unmöglich, vom System her. Selbst nach einem Blick in den freiliegenden, brennenden Kern lautet das Mantra: „Ein RBMK-Reaktor explodiert nicht“. Tut er aber unter Umständen doch, und die lange Realitätsverweigerung, die widerwillige Krisenmoderation des kommunistischen Systems mit seinem gerontokratischen Politbüro macht die Katastrophe noch bedeutend schlimmer. Der Unfall von Tschernobyl fordert zahllose Opfer. Er erzwingt heroisch selbstlose Rettungstaten und bindet unendlich viele Ressourcen. Im Rückblick 20 Jahre später sagt Gorbatschow, der Reaktorunfall sei „die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später“ gewesen.1

Wir sind besser als unser Ruf, das sage ich immer wieder in kirchenkritischen Diskussionen, und ich sage es auch mir selbst. Ich halte mich weiter daran fest, aber ich verstehe die Menschen immer mehr, die den Kunstgriff der Trennung von Ruf und Substanz nicht mehr akzeptieren.

Wir tun fraglos viel Gutes, auch Papst und Vatikan, aber Versäumnisse und Fehler von entsprechendem Gewicht machen die besten (Reform-)Absichten zunichte.

Womöglich sind wir noch schlimmer in der Weigerung, die harten Realitäten anzuerkennen, als das Politbüro. Im dramatischen Kampf, unsere Vitalität zu erhalten, zu erneuern, passiert viel, viel zu wenig. „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“, sagte Gorbatschow 1989 zu Honecker.2 Berühmt wurde diese Einsicht als Bonmot: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Hashtag: #queridovaticano


(Beitragsbild @Henry & Co)

[1] Vgl. https://www.derstandard.at/story/2425450/tschernobyl-war-ursache-fuer-kollaps-der-sowjetunion
[2] Vgl. https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2010-03/gorbatschow-sowjetunion

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marius fletschinger

studierte katholische Theologie in Freiburg, Rom und Paris. Er ist Priester, Hochschulseelsorger in Mannheim und promoviert in Fundamentaltheologie.

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