Raus aus der Bequemlichkeit! – fordert Constanze Kothmann. Sie findet: Christ*innen haben das Recht und die Pflicht, sich gegen ungerechte Strukturen innerhalb und außerhalb der Kirche aufzulehnen.

„Der Gerechte muss viel leiden, aber aus alledem hilft ihm der Herr“ (Psalm 34:20)

Die Frage, ob Christ*innen politische Verantwortung tragen, wird hierzulade häufig bejaht. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird rückblickend immer wieder das Versagen der Kirche, sich gegen staatlichen Machtmissbrauch zur Wehr zu setzen, kritisiert. Allerdings geht das Problem der politischen Mitwirkung der christlichen Gemeinde viel weiter zurück. Seit der Konstantinischen Wende (312 n. Chr.) ist die Kirche eine Institution, die mit der jeweiligen weltlichen Macht in der Regel in enger, wenn auch nicht immer spannungsfreien Verbindung, steht.1 Allerdings sind seit jeher auch politische und kirchliche Herrschaft immer wieder auf bedenkliche Weise miteinander verbunden.

(Wem) Gehorchen?

Im Mittelalter gelangte beispielsweise die Katholische Kirche zu immer mehr Macht: Nicht nur die Kirche selbst, auch ihre Amtsträger wurden reich, führten Kriege und sprachen Recht. Der Papst wurde zum „weltlichen Herrscher über den Kirchenstaat“2. Auch damals schon geriet die Kirche in Kritik, sie würde ihre seelsorgerlichen Pflichten zugunsten ihrer weltlichen Engagements vernachlässigen und so entgegen dem Willen und der Stiftung Christi handeln. Gleichzeitig versuchten aber auch weltliche Herrscher, den Glauben ihrer Bevölkerung zu diktieren. So stellten sich viele Christ*innen die Frage, ob sie verpflichtet waren, ihren Fürsten Gehorsam zu leisten, oder ob es ihnen erlaubt war, der Obrigkeit um Gottes willen Widerstand zu leisten.3

Martin Luther formulierte als Antwort auf dieses Problem 1523 die Zwei-Regimente-Lehre in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit und wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. Demzufolge stellt sich der christliche Mensch „aus Liebe zum Mitmenschen in den Dienst der Rechtsgewalt, weil sie dazu dienen soll, dem Unrecht unter den Menschen zu wehren [und die Schwachen] zu schützen“4. Luther, in seiner typisch anthropologisch pessimistischen Art, berief sich auf Paulus, der an Timotheus schrieb: „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben, sondern den Ungerechten“ (1. Tim 1,9). Gesetz und Rechtsprechung existieren nach Luthers (und Paulus) Auffassung hauptsächlich für die Menschen, deren Boshaftigkeit nicht anders Einhalt geboten werden kann. Die Aufgabe des weltlichen Regiments lautet daher, das Schlechte abzuwehren und den Frieden zu sichern.5 Gleichzeitig räumt Luther aber auch ein, dass eine Regierung, die Unrecht tut, vor allem wenn sie auch über die Gewissen der Menschen herrschen will, nicht den Gehorsam ihres Volkes beanspruchen kann. Bereits in der Apostelgeschichte steht: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29).

Doch was, wenn der politische Antagonist kein Diktator, sondern Pfarrer*in, Priester oder Patriarch ist? Viele Bücher sind über die Legitimation von christlichem Widerstand in Unrechtsstaaten geschrieben worden, Menschen wie Maria Terwiel, Dietrich Bonhoeffer, Oscar Romero, Martin Luther King oder Wang Zhiming werden von ihren jeweiligen Kirchen als Märtyrer*innen verehrt. Sie alle lebten und starben für den Widerstand, den sie gegen weltliches Unrecht leisteten. Aber in vielen Kirchen wird bis heute innerer Widerstand gegen wahrgenommene Ungerechtigkeit stigmatisiert und unterdrückt: Als in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union 1933 der kirchliche Arierparagraph beschlossen wurde, der Christ*innen jüdischer Herkunft aus Kirchenämtern ausschließen sollte, reagierte Bonhoeffer mit dem Aufsatz Die Kirche vor der Judenfrage, distanzierte sich zunehmend von der Landeskirche, bis er 1934 der Bekennenden Kirche beitrat.6

Immer wieder versagen die Kirchen darin, glaubwürdig ihre Positionen zu vertreten. Zwar berufen sich Kirche(n) und christliche Würdenträger*innen seit zweitausend Jahren auf die Evangelien, in denen Christus den Marginalisierten, den Prostituierten, den Kranken und Verstoßenen das Reich Gottes verheißt, die Umkehrung der weltlichen (materiellen) Verhältnisse verkündet (Lk 6,20.24) und in denen Gott sich selbst in der Lebenswirklichkeit der Armen und Notleidenden offenbart (Mt 25,31ff.), trotzdem ist die Kirche (der sog. „Leib Christi“, 1 Kor 12,12ff.) heute reich und mächtig, die Armen aber sind immer noch arm. Der Vatikan verfügt schätzungsweise über Vermögenswerte von 13 Milliarden Euro,7 mit Papst Franziskus Wunsch nach einer „armen Kirche für die Armen“ ist es noch weit her, und mit Jesu Vorstellungen von christlicher Gemeinschaft in Liebe und Demut noch viel weiter. Vielleicht hätte Christus eine kommunistische Partei mit dem Papst im Parteivorstand besser entsprochen als Missbrauchsskandale und Petersdom.

Vielleicht sollten zur Abwechslung mal zweitausend Jahre lang nur Frauen die Spende der heiligen Kommunion vorbehalten sein, vielleicht sollte man ein Lied über die Korruption und den Machtmissbrauch in der Russisch-Orthodoxen Kirche schreiben und das dann in bunten Kleidern und mit Sturmmasken in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale aufführen.

Aber oh nein, werden da viele rufen, das geht doch nicht.

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Vor dem Staat hat in Deutschland keiner Angst, da macht man sich auf dem Nockherberg im Bayrischen Rundfunk mit Politiker*innen über Politiker*innen lustig. Die Menschen gehen auf die Straße, wenn ihnen irgendwas nicht passt: Gegen die Maskenpflicht, für ein Dieselverbot, gegen das Artensterben, für einen gerechten Mindestlohn. Das ist auch richtig so, aber in der Kirche? In der Kirche hat man Skrupel, das ist ein heiliger Ort.

Henry David Thoreau schrieb in seinem Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat: „Man soll nicht Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit“8. Das hat er gut erkannt. Ich glaube, man sollte nicht Respekt vor der Kirche und ihren Amtsträger*innen pflegen, sondern vor Gott. Denn für wen steht die Kirche? Und was soll sie tun?

Eine theologische Strömung, die sich dieser Fragen angenommen hat, ist die Befreiungstheologie. Sie entstand vor dem Hintergrund repressiver Militärdiktaturen in vielen lateinamerikanischen Ländern. Das Elend war groß, viele Menschen waren von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Als Reaktion bildeten sich Basisgemeinden, in denen sich Laien (oft ohne Priester) organisierten, ihren Glauben gemeinschaftlich lebten und sich gegenseitig unterstützten, um in den sehr armen Verhältnissen, in denen sie sich befanden, zu überleben. So entstand eine Theologie, die sich als Sprachrohr der Unterdrückten verstand und ihre Interpretation des Evangeliums als Impuls für eine radikale Gesellschaftskritik nutzte. Die Befreiungstheologie argumentiert, dass Befreiung die durchgehende Hauptthematik der Bibel sei und die Armen, Marginalisierten und Unterdrückten die zentralen Adressat*innen dieser Befreiung seien. Charakteristisch für die Theologie der Befreiung ist es, die christliche Verantwortung für den Mitmenschen nicht individuell, sondern strukturell auszulegen, da die Not und das Elend der Unterdrückten durch gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken entsteht. Dadurch wird Theologie konkret, sie schwebt nicht länger als bloße Abstraktion über der Geschichte.

Im Laufe der Zeit hat sich dieser befreiungstheologische Ansatz weiterentwickelt und bezieht sich nicht länger nur auf die Armut in lateinamerikanischen Slums. Feministische Befreiungstheolog*innen thematisieren die Unterdrückung der Frau und Vertreter*innen der Schwarzen Theologie die rassistische Unterdrückung von BIPoC. Sie alle gehen davon aus, dass in der Gesellschaft ungerechte Strukturen existieren, die nicht nur die bloße Wirkung von Sünde, sondern selbst sündig sind.

Gleichzeitig entsteht zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und dem einzelnen Menschen immer eine Wechselwirkung, bei der das Individuum einerseits innerhalb dieser Strukturen sozialisiert wird, dadurch aber andererseits die daraus entstehende Sünde aufrechterhält und immer wieder reproduziert.9 Für die Befreiungstheologie ist also das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich der globale Süden zum globalen Norden befindet, lediglich eine praktische Konkretisierung der strukturellen Sünde, für die feministische Theologie ist es das Patriarchat.

Und jetzt?

Solange die Kirche(n) und ihre Institutionen ihren Anteil an der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse haben, sie nicht außerhalb von den sonntäglichen Fürbitten thematisieren oder gar überhaupt nicht als Problem wahrnehmen, haben alle Gläubige das Recht und die Pflicht sich dagegen zu wehren.

In der evangelischen Theologie gibt es den Begriff der status confessionis. Er bezeichnet einen außergewöhnlichen Bekenntnisfall, bei dem die Frage geklärt werden soll, welche Handlungen und Ideen mit dem Zeugnis der Bibel und dem kirchlichen Bekenntnis vereinbar sind.

Vielleicht ist es angesichts ihrer schwindenden Mitgliederzahlen für die Kirche an der Zeit, einen neuen Kurs einzuschlagen und sich zu fragen, ob eine Kirche, die sich bequem in der Mitte der Gesellschaft etabliert hat, tatsächlich die wahre Kirche Christi sein kann, und mit welchem Recht sie sich auf einen Gott beruft, der als Kind in einem Stall zur Welt kam, dessen Jünger*innen Besitzverzicht gelebt haben und der sich zu Lebzeiten mit Prostituierten, Kranken, Armen und Betrüger*innen umgeben, ihnen das Evangelium verkündet hat und mit dreiunddreißig am Kreuz von einer imperialistischen Besatzungsmacht als politischer Unruhestifter hingerichtet wurde.

Hashtag der Woche: #newdirection


(Beitragsbild @e_skyes)

[1] Leiner, Hanns (2007): Luthers Theologie für Nichttheologen. Nürnberg: VTR (Verlag für Theologie und Religionswissenschaft).

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Schwarz, Reinhard (1986): Die Kirche in ihrer Geschichte, Luther. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

[5] Luther, Martin (1991): Luther deutsch, die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Aland, Kurt (Hrsg.): 7, Der Christ in der Welt. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht, 9-52.

[6] Kock, Manfred (2005): Kirchenkampf und Antisemitismus – Die Haltung der protestantischen Landeskirchen zum Judentum in der NS-Zeit, Bad Segeberg. EKD, URL: https://www.ekd.de/050830_kock_segeberg.htm (zuletzt aufgerufen: 15.03.21)

[7] Agostinis, Massimo (2016): Reichtum des Vatikans, Wie viel besitzt die Kirche in Rom wirklich?. SRF, URL: https://www.srf.ch/news/international/wie-viel-besitzt-die-kirche-in-rom-wirklich (zuletzt aufgerufen: 17.03.21)

[8] Thoreau, Henry David (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Zürich: Diogenes Verlag AG.

[9] Strobel, Katja (2007): Gefährliche Erinnerung an ein parteiliches Christentum. Linksnet, URL: https://www.linksnet.de/artikel/20851 (zuletzt aufgerufen: 18.03.21).

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constanze kothmann

studiert seit 2018 Sozialpädagogik, Soziale Arbeit und Wohlfahrtswissenschaften an der TU Dresden und arbeitet dort als studentische Hilfskraft im Sachgebiet Diversity Management. Neben Studium und Lohnarbeit widmet sie sich hingebungsvoll der Nachfolge Christi (für hundert Leute im linksautonomen Jugendzentrum KüFa kochen, reiche Leute anpöbeln und sich viel auf Besitzverzicht einbilden)

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