Nicht nur in Zeiten des Bundestagswahlkampfes in Deutschland, sondern spätestens pünktlich zu internationalen Fußballturnieren entflammt die Debatte um Nationalismus und dessen Schadenspotential. Wie dem als Christ*in und Kirche zu begegnen ist, erläutert Simon Kolter im heutigen Artikel.

„Wie ein Phönix aus der Asche: Das Erstarken des Nationalismus wird zum internationalen Trend. Auch Deutschland könnte erneut ein blutiger Kampf um die nationale Identität drohen“: So beginnt Altenbockum 2016 einen Artikel in der FAZ, den er mit der Überschrift „Bis aufs Blut“ versieht. Diese Sätze hätten einen schwelenden Konflikt um die nationale Identität kaum brisanter darstellen können – und auch heute genügt ein Blick auf das soziale Miteinander, um zu identifizieren, dass Nationalismus ein leitmotivähnlicher Begleiter der gesellschaftspolitischen Realität ist. So greift die Enzyklika Fratelli Tutti von Papst Franziskus nationalistische Dynamiken auf: „[…] Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden.“

In Anbetracht dessen klingt die Aussage des Jesuiten Alfred Delp, der während des Nationalsozialismus lebte und 1945 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt wurde, verpflichtend und zugleich hoch aktuell: „Ein Christ kann niemals Nationalist sein.“

Aufgrund der christlichen Prägung unserer Gesellschaft stellt sich durch diese Aussage auf der einen und durch das Vorhandensein augenscheinlich erstarkender nationalistischer Strömungen auf der anderen Seite die Frage, inwiefern christliche Werte aus ethischer Sicht in einem Widerspruch zu Nationalismus stehen und welche moralische Verpflichtung daraus resultiert – wohl wissend, dass auch Christ*innen Nationalisten waren und sind.

Nationalismus als innere Identifikation durch Abgrenzung im Glauben an Ungleichwertigkeit

Prägend für Nationalismus ist in der Mikroebene, dass sich eine Person in erster Linie einer gesellschaftlichen Großgruppe – der Nation – zugehörig fühlt. Diese emotionale Bindung an die Nation sowie die daraus folgende Loyalität ihr gegenüber steht dabei in der Skala ihrer vorhandenen emotionalen Bindungen an oberer Stelle. Die Zugehörigkeit bestimmt so primär den überpersonalen Bezugsrahmen und steht über allen anderen Werten, wodurch Nationalismus nicht notwendigerweise einer nach außen gerichteten, handlungsbasierten Herabwürdigung von Personen mit anderer Zugehörigkeit bedarf.

Das Konstrukt der christlichen Werte

Doch welche Wertvorstellungen als Erwartungshorizont menschlichen Handelns leiten sich aus dem Christentum ab? Die wohl populärste Vorstellung eines zentralen christlichen Wertes ist die Nächstenliebe, die besonders durch die beiden folgenden Aussprüche Jesu greifbar gemacht wird: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ sowie „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben […]. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Damit einher geht die Auffassung der Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie die christliche Gewissheit, dass die Menschen Kinder Gottes sind und an dessen Würde Anteil haben. Es wird also nicht nur eine allgemeine Handlungsmaxime der Nächstenliebe als wünschenswert erachtet – vielmehr wird den Einzelnen durch diese Vorstellungen ein so hoher Wert zugemessen, der als Konsequenz die Verpflichtung zur Nächstenliebe nach sich ziehen muss. Dabei zeigt sich besonders, dass der Mensch nicht als versprengtes Individuum funktionieren kann, sondern die Beziehung zu den Mitmenschen, in denen er schließlich Gott selbst begegnet, benötigt, um Werte überhaupt leben zu können.

Nächstenliebe kann dabei als Grundlage für weitere Wertvorstellungen gesehen werden, die mit ihr einhergehen: Im Rahmen der Europäischen Ökumenischen Begegnung im Jahr 2001 wurde die Charta Oecumenica entwickelt, welche von den europäischen Kirchen erarbeitet wurde und eine Empfehlung für deren Zusammenarbeit in Europa darstellt. In diesem Rahmen bezogen die christlichen Kirchen auch gegenüber Europa Position und griffen auf Werte zurück, die eng mit dem der Nächstenliebe verknüpft sind: „[…] Unser Glaube hilft uns, aus der Vergangenheit zu lernen und uns dafür einzusetzen, dass der christliche Glaube und die Nächstenliebe Hoffnung ausstrahlen […] in der ganzen Welt. Die Kirchen fördern eine Einigung des europäischen Kontinents. Ohne gemeinsame Werte ist die Einheit dauerhaft nicht zu erreichen. Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. […]“

Eine Anforderung mit Konsequenzen für Christ*in und Kirche

Im Jahr 1937 ließ der Papst das Geheimschreiben Mit brennender Sorge über die Alpen schmuggeln. Dieses wurde im Anschluss – was zum Unmut des NS-Regimes führte – von tausenden Pfarrern im deutschen Reich verlesen. Ein Zitat aus dieser Enzyklika bringt den Widerspruch zwischen Nationalismus und dem christlichen Glauben auf den Punkt: „Wer die Rasse, oder das Volk, oder den Staat, oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaftsgestaltung – die innerhalb der irdischen Ordnung einen wesentlichen und ehrengebietenden Platz behaupten – aus dieser ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte, macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und verfälscht die gottgeschaffene […] Ordnung der Dinge.“

Delps Zitat „Ein Christ kann niemals Nationalist sein“ ist deshalb gerade heute als Weckruf für alle zu sehen, die sich selbst als Christ*in betrachten. Letztlich folgen aus dem Zitat die implizite Aufforderung und evidente Konsequenz, sich als Christ*in aktiv gegen nationalistische Strömungen zu positionieren und für christliche Werte einzutreten, welche einen absoluten Gegensatz zu nationalistischen Bestrebungen und Konzepten darstellen müssen. Das Christentum mit seinen Kirchen als Institutionalisierungen des Glaubens verfehlt am Ende seinen Sinn, wenn es in der gesellschaftlichen Realität nicht bestehet und die von ihm postulierten Werte leerlaufen, da sie nicht (vor)gelebt werden. Infrastruktur für diese Anforderung ist eine befähigte (Zivil)Gesellschaft, die gesellschaftspolitische Entwicklungen durch einen geweiteten Blick fortlaufend reflektiert. Daher muss eine Kirche als Partizipationsakteurin, welche ihre Mitglieder ermutigt, stützt und befähigt für ihre Werte einzustehen, als notwendige Konsequenz gesehen werden.

Denn tatsächlich – ein*e Christ*in kann niemals Nationalist*in sein.

Hashtag der Woche: #alternativlos


(Beitragsbild: @radekhomola)

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simon kolter

ist seit mehreren Jahren in der kirchlichen Jugend- und Gremienarbeit aktiv. Nach seinem dualen Studium zum Dipl.-Verwaltungswirt (FH) im Bereich innere Sicherheit/Sicherheitspolitik arbeitete er einige Monate in der politischen Analyse im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums. Aktuell studiert er als Stipendiat der dem Jesuitenorden nahestehenden Stiftung ignatianische Jugendpastoral (SIJ) Politikwissenschaft im Master und arbeitet als Referent für Ehrenamtskoordination in der Stadtpastoral im kath. Stadtdekanat Bonn.

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