In der Debatte um assistierten Suizid plädiert Patrick Lindermüller für mehr Adorno – und zeichnet nach, inwiefern die Methode der Negativen Dialektik hilfreich für kontroverse Diskussionen sein kann.

Rund 19 Monate ist es her, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das in § 217 Strafgesetzbuch (StGB) 2015 verankerte „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ als verfassungswidrig erklärte. Infolge des Urteils wurden vier Gesetzesvorschläge zur Reform des Paragrafen ausgearbeitet, über die allerdings das Parlament bis heute nicht abstimmte und damit die Reform erst durch den neugewählten Bundestag erfolgt.1

Betrachtet man die Reaktionen auf die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2020, so blieb das Urteil, das keineswegs allein das Verbot der kommerziellen Suizidassistenz für nichtig erklärte, sondern ebenso einen breiten Horizont für die Betätigung professioneller Sterbehilfeorganisationen eröffnetet, lange Zeit ein „Paukenschlag fast ohne Resonanz.“2

Im Januar dieses Jahres gelangte die ethische Frage nach dem assistierten Suizid schließlich doch durch eine Debatte evangelischer Ethiker*innen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in die breite Öffentlichkeit. Ausgehend davon kam es im Hinblick auf die Frage des Umgangs mit diesem zur Bildung kontrovers (theologisch)-ethischer Lager.3

Das Potential der Negativen Dialektik

Mit Petra Bahr und Hans M. Heinig ist in dem Diskurs vor allem eine Zusammenführung von theoretischer und praktischer Ebene nötig, die die Frage nach dem Umgang mit dem assistierten Suizid reflektiert aufzuarbeiten sucht und so den davon betroffenen Menschen dient. Ausgangspunkt hierfür sei nach Bahr und Heinig eine Erforschung der Urteilsgründe  des BVerfG , die „die unterschiedlichen, durchaus in Spannung stehenden Argumentationsstränge […] beleuchtet, rechtsethisch bewertet und verbleibende politische Handlungsspielräume aufzeigt.“4
In dieser Analyse gelte es auch die Urteilsgründe mit der Suizidforschung in Kontrast zu setzen, um dadurch zu ermitteln, für welche Fälle von assistiertem Suizid überhaupt das Gerichtsurteil des BVerfG greift.5

Erst auf Basis einer solchen Analyse könne eine (theologisch)-ethisch reflektierte Aufarbeitung der Frage nach dem Umgang mit dem assistierten Suizid gelingen, die nicht „bloßes Glasperlenspiel bleibe[…].“6
Betrachtet man diesen knapp skizzierten Gedankengang, die dort verwendeten Termini („Analyse“,  „Argumentationsstränge“,  „bloßes Glasperlenspiel“  u.a.)  und den gewählten Titel Bahrs und Heinigs, so zeigt sich eine nicht zu verbergende Nähe zu Theodor W. Adornos methodischem Vorgehen zur Erschließung der Wirklichkeit gemäß seinem Ansatz ‚Negative Dialektik‘. Diese Nähe liegt meines Erachtens darin begründet, dass die Methode der Negativen Dialektik starkes Potential zur konstruktiven Lösung aus verkrusteten, (theologisch-)ethischen Kontroverspositionierungen hin zu Positionen, die wirklichkeitsangemessener sind, besitzt.7

Will man dieses Potential nutzen, so gilt es bei den verschiedenen (theologisch-)ethischen Kontroverspositionen zu einem diskutierten Sachverhalt anzusetzen. Diese sind gemäß der Methode der Negativen Dialektik zu analysieren. Das heißt, konventionelle Begrifflichkeiten aufzubrechen und deren natürlicher Verwurzelung nachzuspüren, lang bewährte Kontrastierungen zu hinterfragen sowie gewohnte Lösungsansätze kritisch zu reflektieren.

Durch die Aneinanderreihung solcher vollzogenen Analysen (theologisch-)ethischer Kontroverspositionen zu einem diskutierten Sachverhalt zeigt sich der diskutierte Sachverhalt in seiner ganzen Komplexität.

Diese Komplexitätswahrnehmung gelingt, insofern durch die aneinandergereihten, vollzogenen Analysen auch die zu einem Sachverhalt gehörigen Moment erfahren werden, die in den Zuspitzungen der einzelnen (theologisch-)ethischen Kontroverspositionen oftmals  bewusst oder unbewusst unter den Tisch fallen.8

Bei Sterbehilfe die Komplexität der Positionen wahrnehmen

Ausgehend von dieser wahrgenommenen Komplexität des diskutierten Sachverhalts gilt es (über Adorno hinausgehend), will man praktisch weiterarbeiten, ein ethisches/juristisches/theologisches Urteil über den diskutierten Sachverhalt zu treffen. Dieses Urteil wird ausgehend von den Analysen versuchen Einseitigen und Unachtsamkeit zu vermeiden, um so genau und detailliert zu sein. Dadurch überschreitet es besagte Kontroverspositionierungen, ist mehr dem ethisch diskutierten Sachverhalt „gerecht“9 und dadurch auch letzten Endes den Menschen, die von diesem betroffen sind.10

In Bezug auf die Diskussion um den assistierten Suizid würde dies nun bedeuten, die einzelnen Kontroverspositionen wie oben dargestellt zu analysieren, um dem diskutierten Sachverhalt in dessen ganzer Komplexität angemessener wahrzunehmen. Bestandteile der Analyse wären dabei etwa die begriffsgeschichtliche ‚Aufbrechung‘ und Nachverfolgung der Verankerung zentraler Begriffe wie ‚Autonomie‘ und ‚Lebensschutz‘ in natürlichen Impulsen, die kritische Reflexion der mit den Begriffen verbundenen Kontroverspositionen sowie die Reflexion der Frage, ob sich die beiden Begriffe bzw. die damit verbundenen Positionen ausschließen müssen oder nicht.

Daraus würde sich eine Wahrnehmung des diskutierten Sachverhalts in seiner ganzen Komplexität ergeben: Eine Wahrnehmung, die, um Beispiele zu nennen, mögliche Heteronomien und Pathologisierungen erkennt und auch mögliche Konsequenzen gesetzlicher Regelungen mitbedenkt.

Darauf aufbauend könnte dann ein Urteil gefällt werden, das der ethischen Frage nach dem assistierten Suizid angemessener ist als das in den Kontroversdebatten, insofern eben zuvor Unbeachtetes mitbedacht wird. Dieses Urteil könnte ein Urteil sein, das inhaltlich nicht mehr ein ‚Entweder-Oder‘ zwischen Lebensschutz und Autonomie darstellt, sondern – möglicherweise ganz im Sinne Adornos –  ein sowohl Lebensschutz als auch Autonomie.11

Hashtag der Woche: #DiscussDying


(Beitragsbild @Hunter Han)

[1]Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Bundesverfassungsgericht: Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe ist verfassungswidrig (26.02.2020), abgerufen unter: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/305426/paragraf-217, abgerufen am: 24.04.2021 15.30 Uhr, S. 1 (PDF-Dokument); vgl. Arens, Christoph: Selbstbestimmung als Megatrend. Neuer Bundestag muss Beihilfe zum Suizid schnell regeln (30.08.2021), abgerufen unter: https://www.domradio.de/themen/sch%C3%B6pfung/2021-08-30/selbstbestimmung-als-megatrend-neuer-bundestag-muss-beihilfe-zum-suizid-schnell-regeln, abgerufen am: 23.09.2021 18.16 Uhr, S. 1 (PDF-Dokument).
[2]Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten. Sterbehilfe (S. 4), in: Christ und Welt (Nr. 6/2021), Hamburg 03.02.2021 (e-Paper), abgerufen unter: https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940425/4 , S. 4.
[3]Vgl. Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4.
[4]Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4.
[5]Vgl. Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4.
[6]Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4.
[7]Vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (Theodor W. Adorno. Ausgewählte Werke, Bd. 3), Darmstadt 2015, S. 53; vgl. Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4; vgl. Honneth, Axel: Einleitung. Zum Begriff der Philosophie (S. 11-27), in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik (Klassiker Auslegen, Bd. 28.), Berlin 2006, S. 19, 25-27; vgl. Honneth, Axel/Menke, Christoph: Zur Einführung (S. 1-9), in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik (Klassiker Auslegen, Bd. 28.), Berlin 2006, S. 6-8.
[8]Vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, S. 31, 39, 55; vgl. Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4; vgl. Honneth, Axel: Einleitung. Zum Begriff der Philosophie, S. 19, 24-27; vgl. Honneth, Axel/Menke, Christoph: Zur Einführung, S. 6-8.
[9]Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, S. 53.
[10]Vgl. Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4; vgl. Honneth, Axel: Einleitung. Zum Begriff der Philosophie, S. 19, 25-27; vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: Theodor W. Adorno (Zur Einführung), 7. Aufl. Hamburg 2017, S. 30-32.
[11]Vgl. Bahr, Petra/ Heinig, Hans Michael: Die Chance des Konkreten, S. 4; vgl. Honneth, Axel: Einleitung. Zum Begriff der Philosophie, S. 19, 24-27; vgl. Honneth, Axel/Menke, Christoph: Zur Einführung, S. 6-8.

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patrick lindermüller

studierte Theologie und Philosophie in Augsburg und Jerusalem. Gegenwärtig macht er die Ausbildung zum Pastoralreferenten im Bistum Augsburg und promoviert an der Universität Augsburg in der theologischen Ethik zum Thema „Welche Bedeutung hat Geschichte für die (theologische) Ethik?“. Er beschäftigt sich gerne mit Musik, Kultur und Politik.

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