Back to business as usual? Hannah Judith plädiert dafür, dass das Corona-Gedenken während der Pandemie eine wichtige gesellschaftliche Funktion einnimmt. In unserer Reihe #Requiem machen wir uns auf die Suche, wie sich die Corona-Pandemie auf unseren Umgang mit Tod und Trauer auswirkt.

Da wären wir also. Die dritte Corona-Welle scheint lange überstanden zu sein, die Sonnentage nehmen zu – mit ihnen auch die Impfquote und unsere langersehnte neue Sorglosigkeit. Volle Stadien, geplante Sommerurlaube, überfüllte Innenstädte. Schöne, neue, alte Welt, wir haben dich vermisst!

Da wären wir also. In einer zu frühen Freude vor dem Beginn der gefürchteten Delta-Welle? Vor der unerreichbaren Utopie einer Herdenimmunität? Vor der Frage einer globalen Verteilungsgerechtigkeit in Sachen Impfen? Und in alledem die Frage: Erinnern wir uns angesichts dieser bleibenden globalen Unsicherheiten eigentlich noch an die hautnah erlebte Not? An das wiederkehrende orientierungslose Nichts des Winters und Frühjahrs, vor dem auch heute noch viele Menschen stehen?

In dieses orientierungslose Nichts hinein sprach schon im April, mitten in der dritten Welle, das kirchlich und staatlich konzertierte Corona-Gedenken in Berlin und ganz Deutschland. War das nicht pietätlos? Ein Gedenken für die Opfer der Pandemie, in dessen Verlauf im Minutentakt neue Opfer vor dem großen Nichts standen? Ein Gedenken also, das zu früh kam? Wäre es nicht jetzt besser aufgehoben? Im Sommer der (vorläufigen?) Erleichterung? Nein, dieses Gedenken kam bei Licht betrachtet nicht zur Unzeit, sondern sprach pünktlich in die Unzeit hinein. Es lieferte Impulse, die inmitten der dritten Welle wertvolle theologische Gedanken anstießen. Der im Gedenken des Frühjahrs gesetzte Stachel darf jedoch jetzt nicht einfach in Vergessenheit geraten. Die unangenehmen Konfrontationen des Coronagedenkens und der Schrecken der dritten Welle sollten heute – in der langersehnten Sommerfrische des privilegierten, geimpften Westens – dringender denn je erneut gesamtgesellschaftlich durchdacht werden. Wie das gelingen kann, zeigt ein paradigmatischer Blick in die Theologie der Klagepsalmen. Sie verweist uns genau jetzt auf tatsächliche Gefahren der Pietätlosigkeit, die auch theologisch nicht trivial sind und konfrontiert uns erneut mit dem bitteren Nichts, vor das Corona uns mit jedem einzelnen Todesopfer stellt.

Beklagenswerte Leerstellen als Lackmustest der Gottesbeziehung. Die Theologie der Klagepsalmen

Nimmt man die Spur biblischer Klage auf, wird deutlich, dass sie in ein solches Nichts hineinspricht. Sie entwickelt sich entlang der Gattungsmarker Klage – Bitte – abschließendes Lob. Was zum abschließenden Lob Gottes führt ist dabei unklar, es handelt sich um eine literarische Leerstelle.

Das Fehlen eines literarischen Bindeglieds von der klagenden Bitte zum abschließenden Lob Gottes gibt dem Gebet eine folgenreiche Offenheit.

Anders als es die Exegese lange vermutete, lässt sich der ‚Stimmungsumschwung‘ von der Klage zum Lob innertextlich betrachtet nicht einfach realhistorisch (etwa liturgisch) externalisieren.1

Vielmehr entwickelt die Leerstelle zwischen Klageteil und abschließendem Lob rezeptionsästhetisch betrachtet ihr eigenes narratives Potenzial: Ob und wie Gottes Handeln zum abschließenden Lob führt, bleibt textintern offen. Zwischen Klage und Lob eröffnet sich hier eine literarische Zwischensphäre, eine performativ wirksame Leerstelle wider die Inhaltsleere. Sie wartet nicht auf eine fern erscheinende Beruhigung der Situation, sie klagt an, inmitten einer kaum auszuhaltenden Leere. Dabei adressiert sie den unmittelbar erlebten Schrecken des Jetzt an ein personales Du, an Gott. Literarisch spielen die Klagepsalmen mit einem durchtragenden Vertrauensparadigma bei gleichzeitiger Wahrnehmung eines Bruchs innerhalb der Beziehung zwischen dem*der Beter*in und Gott.2

Dieser ernstgenommenen und in den Text bleibend eingetragenen Möglichkeit des Stillstandes trägt letztlich die literarische Leerstelle zwischen den Bitten und dem abschließenden Lob Rechnung.

Biblische Klage hält als Glaubensform scheinbar sinnlose Leere aus und fragt auch im Äußersten noch nach ihrem Sinn – sie hält dem personalen Gott einen Raum offen, indem sie ihn und seine Unverfügbarkeit in der personalen Anrede anklagt.

Mit dem Aufrechterhalten der klagenden Beziehung zu Gott bewahren die Psalmen damit das Potenzial eines Beziehungsumschwungs, einer göttlichen Einlösung des Vertrauensvorschusses. Dieses vage Potenzial spricht in eine unheilvolle Situation des orientierungslosen Nichts hinein, ohne sie aufzulösen. So bewahrt sich der*die Beter*in zugleich die Perspektive, dass die Nicht-Verfügbarkeit Gottes im Angesicht von Leid und Tod nicht sein letztes Wort sein kann.

Frischgestyltes Shopping als Stimmungsumschwung?

Wie in den Klagepsalmen steht aktuell alles auf dem Spiel. Die global betrachtet weiter zu beklagenden Toten und ihr Vergessen durch die (vermeintlich) Geschützten, drohen zu einem gesellschaftlichen Nicht-Ort3 zu werden.

Dort, wo Leid und Tod keinen gesellschaftlichen Ort mehr haben, wo die Toten als Störfaktoren der ersehnten Freiheit vollkommen zu verschwinden drohen, wo nicht mehr anklagend nach einer Übernahme von Verantwortung verlangt wird, performiert sich keine echte Hoffnung mehr.

Die Beantwortung der Frage, ob unsere Gesellschaft noch in der Lage ist, die Todesstatistiken personal rückzubinden und himmelschreiend zu beklagen entscheidet auch, ob wir die Leerstellen unseres Lebens aushalten. Ob wir aus ihnen heraus weiter nach Hoffnung verlangen und verstehen, dass sich mit dieser Hoffnung keine Geschäfte machen lassen. Die Frage, ob wir weiterhin klagen, oder den Weg eines verdrängenden ‚business as usual‘ wählen, ist damit auch die Frage, ob wir die Toten in einen Nicht-Ort entlassen, in dem man wörtlich über Leichen geht. Bitter zugespitzt formuliert: Versuchen wir, die himmelschreiende Leerstellenerfahrung, vor der jede*r einzelne Coronatote steht, wegzuretuschieren, wenn wir frisch gestylt unseren Weg zum Shoppingzentrum antreten? Walter Benjamin hat diese schwer auszuhaltenden Fragen in seiner berühmten Analyse des Bildes ‚Angelus Novus‘ von Paul Klee in ein eindrucksvolles Szenario verwandelt. Er schreibt:

„Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken, und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen [sic] kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“4

Angesichts eines solchen Blicks auf die Opferzahlen ist der Ruf nach einem ‚neuen Normal‘ mit all seiner Abstumpfung und seiner Sehnsucht nach unbeschwertem Leben verständlich. Wir stehen jedoch auch weiterhin – global und lokal – vor der Frage, ob wir heute und in Zukunft zu einem Verzicht zugunsten des Lebens im Stande sind. Die Coronapandemie entlässt uns nach wie vor nicht aus dieser Lage.  Dabei stehen wir immer auch vor der Frage, ob wir das Vertrauensparadigma des biblischen Gottes und seiner betenden Dialogpartner*innen als einen erfahrbaren Ort offenhalten, oder ob wir menschliche Lebenssehnsucht in einen produzierbaren Nicht-Ort temporärer Ablenkung auslagern. Das macht nicht zuletzt die Ästhetik eines Gedenkens deutlich, während dessen das Drama aus Leid und Tod nicht aufgehoben werden kann, weil es weiter voranschreitet.

Das Gedenken an die Opfer der Pandemie kann so das Nichts als performative Leerstelle codieren, die die Sinnhaftigkeit der immer neuen Opfer radikal anfragt und zugleich nicht in Kauf nehmen kann, dass ihr Sterben sinnlos bleiben soll. Es ist damit weder gesellschaftlich noch theologisch ein zu vernachlässigendes Glasperlenspiel. Es verweist vielmehr auf die Abgründe unserer Gesellschaft und fragt ihren Zusammenhalt und ihre Hoffnungsfähigkeit (gerade als Leidensfähigkeit!) radikal an. Sich dieser Dynamik zu entziehen und mit der öffentlichen Klage über die Toten bis zum Ende der Pandemie zu warten, wäre der falsche Weg gewesen.

Hashtag: #Requiem


Beitragsbild @Leon Contreras

1 Darauf weist auch Philipp Graf auf diesem Blog hin, wenn er für eine bleibende Leerstelle angesichts „[…] der Wirklichkeit verändernden Macht Gottes, die sich nicht in Worte fassen lässt […]“ argumentiert (Philipp Graf, Die Macht der Klage. URL: https://y-nachten.de/2019/02/die-macht-der-klage/ [Abruf: 19.04.21]).

2 Vgl. dazu Christoph Markschies, „Ich aber vertraue auf dich, Herr!“. Vertrauensäußerungen als Grundmotiv in den Klageliedern des Einzelnen, in: ZAW 103/3 (2009) 386–398.

3 Vgl. zum Konzept funktionalisierter Nicht-Orte Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994.

4 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, hg. v. G. Raulet (Walter Benjamin Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe 19), Berlin 2010, 74f.

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hannah judith

studierte von 2014-2019 katholische Theologie in Bonn und Jerusalem. Seit dem Sommersemester 2020 ist sie Doktorandin im Fach Fundamentaltheologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg und Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes.

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