Was ist überhaupt gemeint, wenn von Seelsorge gesprochen wird? Andreas Feige geht diesem schillernden Begriff nach, fragt nach dem zugrundeliegenden Seelenverständnis und den sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen für seelsorgliches Handeln.

„Der Kapitän als Ersthelfer und Seelsorger“, so betitelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung das instinktive Verhalten des dänischen Fußballnationalspielers Simon Kjær nach dem Kollaps seines Teamkollegen Christian Eriksen im EM-Gruppenspiel gegen Finnland am 12. Juni 2021. Der Mannschaftskapitän brachte Eriksen in die stabile Seitenlage, organisierte einen Sichtschutz während der Rettungsmaßnahmen und tröstete die am Spielfeldrand stehende Partnerin von Eriksen. Das von manchen Medien als „heldenhaft“ bezeichnete Eingreifen wäre schon eine eigene Besprechung wert, an dieser Stelle soll jedoch der Fokus auf der Verwendung des Begriffs ‚Seelsorge‘ im Titel des Zeitungsberichts liegen. Die Wortwahl zeigt nämlich, dass der Begriff in der deutschen Alltagssprache präsent ist und unbefangen gebraucht wird.

Dieser Befund mag zunächst unspektakulär klingen, offenbart jedoch bei genauerem Hinsehen Paradoxes: Auf der einen Seite wird der Begriff ‚Seelsorge‘ in der Alltagssprache, im Kirchenjargon und in einer Vielzahl an praktisch-theologischen Seelsorgekonzepten selbstverständlich gebraucht und bedarf auch außerhalb des kirchlichen Binnenbereichs keiner gesonderten Erklärung. Auf der anderen Seite scheint weder im gesellschaftlichen noch im kirchlichen bzw. theologischen Sprachgebrauch wirklich klar zu sein, was das Wort ‚Seelsorge‘ bezeichnet. Mit anderen Worten: Es existiert keine scharfe Begriffsdefinition.

„Was ist überhaupt Seelsorge?“

 Dass es sich bei diesen Beobachtungen nicht nur um theoretische Spitzfindigkeiten handelt, zeigten die Reflexionen über das pastorale Handeln während der Corona-Pandemie. Da resümierte zum Beispiel die Pastoraltheologin Christiane Bundschuh-Schramm Ende 2020 vorsichtig, aber treffsicher:

„In Gesprächen habe ich oft gehört, dass die Seelsorge in der Krise besonders wichtig wurde […]. Aber ich habe auch die Frage gehört: ‚Was ist überhaupt Seelsorge?‘ Die pastoralen Dienste sehnen sich danach, Seelsorger*innen zu sein, aber einige haben auch eingeräumt, dass bei den angegebenen Telefonnummern niemand angerufen hat oder dass die Anrufe in der zweiten Welle stark zurück gehen. Das sind sicher Einzelstimmen, aber sie zeigen vielleicht doch, dass gesellschaftlich unklar ist, was Christen und Christinnen und das pastorale Personal anzubieten haben, wenn sie Seelsorge anbieten. In den ausdifferenzierten professionellen Seelsorgebereichen wie Krankenhaus und Gefängnis dürfte das klarer sein als in der unbestimmten Mehrzahl kirchlicher Orte.“1

Darüber hinaus wird nach dem Gehalt von Seelsorge vor allem im Spüren der Wachstumsschmerzen nach einer (wiederholten) Vergrößerung eines pastoralen Raumes gefragt. Da heißt es dann oft: „Wo bleibt eigentlich die Seelsorge?“ Höchste Zeit also, einmal zu klären, was gemeint ist, wenn von ‚Seelsorge‘ gesprochen wird.

Die Sorge um die Seele als eine Sorge um das Mensch-Sein in seiner Ganzheit

Für diese Klärung gilt es zunächst den Begriff der ‚Seele‘ näher unter die Lupe zu nehmen, da dieser nicht nur dem Wort ‚Seelsorge‘ inhärent ist, sondern auch „jeder Seelsorgekonzeption ein implizites Seelenverständnis zugrunde liegt“2. Recherchiert und kombiniert man die philosophischen, neurowissenschaftlichen und biblischen Diskursarchive zu dem, was unter ‚Seele‘ in Vergangenheit und Gegenwart verstanden wurde bzw. wird, so ergeben sich auch klare Bedeutungslinien für den Seelsorgebegriff. Überraschend ist, dass weder die bis heute noch weit verbreitete platonische Konzeption einer „ontologisch-dualistische[n] Zerlegung des Menschen in Leib und Seele“3 noch die Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die die hinter dem Begriff ‚Seele‘ liegenden Phänomene als rein physikochemische Vorgänge beschreiben, weitrechende Konsequenzen für die Theologie der Seele und damit auch der Seelsorge mit sich bringen.

Dies hat vor allem mit dem biblischen Seelenverständnis zu tun: Im Alten Testament bezeichnet näfäsch, das Wort für Seele, das später im Griechischen mit psyché und wiederum später auf Latein mit anima übersetzt wurde, nämlich weder etwas, das den platonischen Vorstellungen entsprechen, noch den Erkenntnissen der Neurowissenschaften entgegenstehen würde. Stattdessen bezeichnet ‚Seele‘ in beiden Testamenten immer „das Wesen [einer ganzheitlichen] menschliche[n] Existenz, das sich aus leiblichen, psychischen, geistigen sowie sozialen Komponenten bildet“4, kurzum das Person-Sein des Menschen.

Analog zu dieser biblischen Reanimation des Seelenbegriffs ist ‚Seelsorge‘ die Sorge um das Mensch-Sein in seiner Ganzheit. Das heißt konkret, dass Seelsorge nicht allein die Sorge um den Menschen als religiöses Wesen ist, sondern die Sorge darum, dass der Mensch „eine einmalige, unverwechselbare, freie, verantwortliche, selbstbewusste Persönlichkeit“5 sein kann. Damit fokussiert eine ihrem biblischen Ursprung entsprechende Seelsorge nie eine Teildimension menschlicher Existenz, sondern hat immer den Menschen als ganzheitliche Person im Blick.

Multidimensionale Seelsorge

In diesen Bedeutungslinien kann von einer ‚multidimensionalen Seelsorge‘ (Doris Nauer) gesprochen werden. ‚Multidimensional‘ deshalb, weil Sorge für das Mensch-Sein in all seinen Dimension getragen werden soll und unterschiedliche Seelsorge-Dimensionen die multidimensionale Praxis von Seelsorge garantieren. Klare Konturen bei gleichzeitig offen bleibenden Rändern erhält das multidimensionale Verständnis von Seelsorge mit (mindestens) vier Dimensionen:

(1) Die mystagogisch-freigebende Dimension: Von Uta Pohl-Patalong stammt die Kurzdefinition, dass Seelsorge die „christliche Unterstützung der Lebensgestaltung“6 ist. Diese Unterstützung erfolgt zum einen ‚mystagogisch‘, im Sinne einer Einführung „des Menschen in jenes Geheimnis, welches sein Leben immer schon ist, nämlich Gottes Liebesgeschichte mit jedem Menschen“7, und zum anderen mit einer ‚freigebenden‘ Haltung, in der niemals das explizite oder implizite Ziel verfolgt wird, Menschen zu missionieren, zu bekehren oder in die Institution der Kirche einzugliedern.

(2) Die leiborientierte Dimension: Die körperlichen Dispositionen (wie Geschlecht, Krankheit, Alter, Sterben etc.) und auch alle anderen Leiberfahrungen des Menschen sind konstitutive Bezugsgrößen einer multidimensionalen Seelsorge. Realisieren können sich diese erstens in den leiblichen Bedingungsfaktoren und der nonverbalen Kommunikation einer jeden Seelsorgesituation, zweitens in der bewussten Thematisierung von Leiblichkeit in der Seelsorgebegegnung und drittens in konkreten leiborientierten Methoden.8 Ein gutes Beispiel einer leiborientierten Seelsorgepraxis ist das Projekt Surf & Soul, das den Surfsport mit Elementen ignatianischer Exerzitien verbindet.

(3) Die gesellschaftssensible Dimension: Menschen sind geprägt von ihrem gesellschaftlichen Kontext und prägen umgekehrt auch die Gesellschaft. Für eine multidimensionale Seelsorge bedeutet das, dass sie in einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft agiert: Sie unterstützt den Menschen als Teilprodukt seines gesellschaftlichen Kontextes, bedenkt und kommuniziert aber auch die Auswirkungen individuellen Denkens und Handelns für die Gesamtgesellschaft.9

(4) Die alltagsbezogene Dimension: Es gibt einen Alltag der Seelsorge – und es gibt die Seelsorge im Alltag. Ausgehend von dieser unspektakulären Koproduktion von Alltag und Seelsorge weiß die multidimensionale Seelsorge darum, dass sich Seelsorge viel seltener bei einem verabredeten Gespräch als in unterschiedlichsten Situationen des Alltags ereignet. Das heißt, dass kein Thema zu unbedeutend ist, um zu einem Thema von Seelsorge werden zu können, und kein Ort zu unpassend ist, um ein Ereignisort von Seelsorge zu sein.10

Praxis-Check: Plädoyer für eine aufsuchende Seelsorge

Es hat nicht erst die Corona-Pandemie benötigt, um zu erkennen, dass sich die gegenwärtige pastorale Praxis oft im gemütlichen Hegen und Pflegen eines gemeindlichen Klein-Kleins, der unverhältnismäßig starken Fokussierung auf die Feier von Liturgien und in kräftezehrenden Strukturprozessen für die Bildung neuer pastoraler Räume erschöpft. Das heißt: Die Energie pastoraler Akteur*innen fließt aktuell noch deutlich stärker in Maßnahmen, die dem Erhalt der Institution ‚Kirche‘ in ihrer geprägten Form dienen, als in Bemühungen, durch die Menschen zu ganzheitlichen Personen [= ‚heil‘] werden können.

Fazit: Es ist noch lange nicht ausgesorgt. Eine echte „pastorale Umkehr“, um den Titel des vatikanischen Papiers aus vergangenem Jahr aufzugreifen, könnte damit beginnen, sich an allen Orten von Kirche ehrlich zu fragen: Wo gilt es heute, einem Menschen das Vertrauen ins Leben zu stärken? Wo sind Menschen, die in ihrer Lebensgestaltung mit einem freigebenden christlichen Stil von Seelsorge unterstützt werden könnten?

„Seelsorge hat […] vor allem mit dem Aufmerksam werden zu tun, wo jene Menschen sind, die Hilfe brauchen – und eben nicht nur mit dem Warten, dass sich jemand von sich aus rührt und kommt […]“11, trifft es der Wiener Pastoraltheologe Johann Pock auf den Punkt. ‚Aufsuchende Seelsorge‘ könnte diese Praxis von Seelsorge genannt werden. Vielleicht liegt gerade in ihr einer der Schlüssel für eine zukünftige Kirche, die sich weniger um sich selbst als um andere sorgt.

Hashtag der Woche: #nochlangenichtausgesorgt


(Beitragsbild: @dustinhumes)

1 Christiane Bundschuh-Schramm, Was Kirchen jetzt lernen können: Seelsorge neu und Hauskirche breit qualifizieren. Die Replik von Christiane Bundschuh-Schramm auf Johann Pock, in: Lebendige Seelsorge 71 (2020), H. 6, 390.

2 Elisabeth Naurath, „Die Seele spüren“. Herausforderungen an die gegenwärtige Seelsorge, in: Praxis Theologie 91 (2003), 98.

3 Doris Nauer, Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 32014, 45.

4 Herbert Haslinger, Seelsorge. Zur Identität pastoraler Berufe, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004), H. 3, 160.

5 Ebd.

6 Uta Pohl-Patalong, Seelsorge. Konzeptionen / Kontexte / Lebensgestaltung / Seelsorgegespräch, in: Wilhelm Gräb / Birgit Weyel, Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 676.

7 Karl Rahner, in: Paul M. Zulehner, Denn du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor. Zur Theologie der Seelsorge heute. Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner, Ostfildern 2002, 83.

8 Vgl. Elisabeth Naurath, Leiborientierte Seelsorge, in: Uta Pohl-Patalong / Antonia Lüdtke (Hg.), Seelsorge im Plural. Ansätze und Perspektiven für die Praxis, Berlin 22019, 106–119.

9 Vgl. Uta Pohl-Patalong, Gesellschaftssensible Seelsorge, in: Dies. / Antonia Lüdtke (Hg.), Seelsorge im Plural. Ansätze und Perspektiven für die Praxis, Berlin 22019, 63–77.

10 Vgl. Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge, in: Uta Pohl-Patalong / Antonia Lüdtke (Hg.), Seelsorge im Plural. Ansätze und Perspektiven für die Praxis, Berlin 22019, 19–23.

11 Johann Pock, Die Pandemie hat Stärken und Schwächen der Kirchen deutlicher gemacht – und mehr Fragen als Antworten geliefert, in: Lebendige Seelsorge 71 (2020), H. 6, 386.

 

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andreas feige

studierte katholische Theologie in Freiburg und Innsbruck. Als Stipendiat des Cusanuswerks promoviert er am Lehrstuhl für Pastoraltheologie der Universität Freiburg. Zudem ist er Redakteur der Lebendigen Seelsorge.

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