Es ist wahrlich ein Krimi um interne Machtkämpfe des deutschen katholischen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat in den 1970er Jahren, in den uns Benedikt Collinet entführt. Welche Rolle Karl Rahner darin spielt und was die Theologie der Befreiung damit zu tun hat, erklärt er exklusiv für y-nachten.de.

Das deutsche katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat (von „Dein Reich komme“) feiert dieses Jahr sein 60-jähriges Bestehen. Bekannt für höchste Transparenzstandards in ihren Finanzen (Auszeichnung 2005/06, jährliche Siegel), hohe Direktleistung und effektive Projektförderung vor Ort, ist Adveniat Musterbeispiel einer funktionierenden NGO und damit eine angenehme Referenz in der gegenwärtigen Vertrauenskrise gegenüber Großinstitutionen – oder nicht? Seit ihrem Bestehen hat sich nur ein einziger Fleck auf der weißen Weste des Images gefunden – und der hängt mit Karl Rahner SJ (dem aktuellen Forschungsthema des Autors) und der Theologie der Befreiung zusammen. Da aktuell mit Martin Maier SJ (*1960) erstmals ein Jesuit den Posten des Hauptgeschäftsführers von Adveniat (HGF) übernimmt, ist dies ein guter Moment, noch einmal genauer hinzuschauen und festzustellen, ob es überhaupt einen Grund für den damaligen Skandal gegeben hat. Dazu begeben wir uns auf einen kleinen Ausflug ins Diskursarchiv von Adveniat und lernen zugleich die Historie, Struktur und Herausforderungen dieser zu Recht als mustergültig betrachteten Institution kennen.1

Adveniat im Überblick

Wir kehren zurück in den deutschen „Hungerwinter“ (1946/47). In Lateinamerika hört man von frierenden und verhungernden Menschen im Nachkriegsdeutschland und beschließt, sie mit umfangreichen Spenden zu versorgen. Aus Dankbarkeit beschloss später die Deutsche Bischofskonferenz auf Bestreben der Bischöfe von Köln und Essen eine Sonderkollekte zu starten, die als Entwicklungshilfe in Mittel- und Südamerika eingesetzt werden sollte. Die zahlreichen Spenden und der administrative Aufwand führten dazu, dass 1961 eine Gruppe mit Sitz in Essen gegründet wurde, die seit 1969 als Verein eingetragen ist (seit 2014 unabhängig vom Bistum Essen). Die Spenden, die aufgrund der Weihnachtskollekte und weiterer Gelegenheiten zusammenkamen, umfassen bis heute ca. 2,5 Mrd. €, also knapp 41,65 Mio €/Jahr mit denen etwa 2.000, teilweise langfristige, Projekte v.a. im Bereich Bildung und Infrastruktur (seit 2011 Schwerpunkt Bildung & Frauen) gefördert werden.

Heute umfasst Adveniat nach eigener Auskunft 90 Mitarbeitende aus zwölf Ländern, von denen mehr als 45 Spanisch oder Portugiesisch als Erstsprache sprechen. Neben ihrer administrativen Arbeit, der Heftreihe „Blickpunkte“ und dem „Hörpunkt“-Podcast übersetzte und kommentierte Adveniat auch theologische Arbeiten aus Lateinamerika, z.B. die CELAM-Dokumente (= lateinamerikanische Bischofskonferenz) von 1972 in Medellín (institutionelle/s „Bestätigung/Gründungsdokument“ der Theologie der Befreiung), 1979 in Puebla, der Jugendsynode 1984/85, 2008 in Aparecida und die Amazoniensynode 2015. Als gefragte Lateinamerikaexpert:innen wurde etwa der HGF 2019 als Sonderberater (inviati speciali) zur Amazonien-Synode hinzugezogen, was zeigt, dass dieses Amt auch kirchenpolitisch Macht hat.

Franz Hengsbach, Karl Rahner und der Arbeitskreis „Kirche und Befreiung“ (1970er)

Mit der Finanzmacht darüber zu entscheiden, wer oder was gefördert wird, hat Adveniat eine zweite Einflussfläche. Eine solche Macht ist systeminhärent und wird nur dann in Frage gestellt, wenn weitere Interessen als jene des Mission Statement vermutet werden. Dies geschah in einem Memorandum von 1977, in dem einigen Personen um den damaligen Vorsitzenden Franz Hengsbach vorgeworfen wurde, das Geld gezielt zu nutzen, um die Theologie der Befreiung zurückzudrängen und deren Opposition, die häufig mit Opus Dei (OD) assoziiert wurde, zu stärken (Greinacher 1985, 51-61; 102). So vermutete Karl Rahner als einer der Unterzeichner eine Mitgliedschaft Hengsbachs beim OD (SW 28,67f.); sicher ist jedoch nur, dass dieser Honorarprofessor in Lateinamerika (1968-1972), und 1974 an der Apostolatsuniversität in Navarra gewesen war. Der Vorwurf der Geldmanipulation wog schwer, da nicht nur das Projekt Adveniat, sondern auch die Person des Gründerbischofs von Essen, Franz Hengsbach, hohes Ansehen genossen (vgl. Huhn 2011, 18).

Auslöser des Memorandums waren ein Bericht über angebliche CIA-Kooperationen Roger Vekemans SJ in Chile, in dessen Umfeld Adveniat genannt wurde (vgl. Greinacher 1985, 99.), der 1973 gegründete Arbeitskreis (AK) „Kirche und Befreiung“ der kritische Stimmen gegen linkskatholische und befreiungstheologische Positionen vereinte, sowie die Wahl des erzkonservativen Kard. Trujillo zum Generalsekretär der CELAM 1972 (1972-78; 1979-83 Präsident), der zu einer kirchenpolitischen Kehrtwende in Lateinamerika führte.

Neben diesen Vermutungen und Tatsachen gibt es weitere Hinweise auf die ablehnende Haltung Hengsbachs gegenüber der Befreiungstheologie. So äußerte er sich am 12.05.1979 öffentlich und sagte: „die Befreiungstheologie führt ins Nichts“, bevor er betonte, der AK „Kirche und Befreiung“ bleibe bestehen und richte sich gegen (die marxistische Ausrichtung von) Medellín (vgl. Greinacher 1985, 55; 193). Mitglieder dieses Kreises waren u.a. Bischof Trujillo (und evtl. Bonaventura Kloppenburg OFM) sowie die deutschen Professoren bzw. Politiker Lothar Bossle, Anton Rauscher SJ und Wilhelm Weber. Rauscher, um ein Beispiel zu nennen, sah in Puebla eine notwendige „Nachkorrektur“ der „Fehlinterpretation“ des Marxismus von Medellín (Stehle/Schöpfer 1979, 135-138).

Auf der Gegenseite verwies Rahner in einem Interview von 1978 auf laufende akademisch-theologische Diskurse zum Sozialismus, die (kirchen-)politisch entschieden würden, ohne dass Begriffe und das eigene Verständnis geklärt seien, und führte als Beispiel restaurative Tendenzen in Adveniat an (vgl. Rahner, SW 28, 69-73). Initiiert worden war das Memorandum von Rahners Schüler J. B. Metz und dem Pastoraltheologen Norbert Greinacher, der sich in einem Dokumentationsband von 1972 bis zur instructio von 1984 weiterhin kämpferisch äußerte. Der damals fast 80-jährige und ungebrochen populäre Rahner mag sich mitreißen gelassen haben, denn die im Memorandum geäußerten Aussagen konnten nie bewiesen werden. Weitere Erstunterzeichner waren der Journalist Walter Dirks und die Professoren Herbert Vorgrimler und Hans Zwiefelhofer SJ, sodass ein Gutteil der Gruppe des linkskatholischen Bensberger Kreises (1966-2004) zu den Unterzeichnern zählte (vgl. Greinacher 1985, 98-104).

In einem Interviewband mit vielen Akteuren aller Parteien arbeiteten Schlegelberger/Sayer (1980, 88f.) heraus:

„Die Zeit der ‚steinernen‘ Hilfe [Adveniats] ist vorüber (…), heute werden Projekte unterstützt. Und hier gilt die Unterscheidung zwischen Entwicklungs- und Befreiungsprojekten, von denen wohl nur die ersteren gefördert werden. (…) Die Kirche müsse wissen, ob ihr Geld etwa dazu beitragen soll, die bestehende Ordnung zu festigen, etwa die absolute Macht eines Bischofs zu stärken, oder dazu, Strömungen unten im Volk zu unterstützen. Während zwei Gesprächspartner (sic!) einen gewissen Rechtsruck in der Orientierung von Adveniat einen größeren Einfluss des Opus Dei verantwortlich machen, stellen andere eine solche Entwicklung fest, ohne weitere Erklärungen zu geben.“

Ob es je eine interne oder öffentliche Prüfung der Projektförderungen der 1970/80er Jahre gegeben hat, um festzustellen, ob die Kirchenpolitik Einfluss auf bestimmte Anteile des Geldflusses genommen hat, konnte für diesen Artikel nicht erhoben werden und übersteigt überdies bei Weitem die Kompetenzen des Autors.

Im Nachgang

Adveniat-Geschäftsführer Emil Stehle gelang es unter der Mitarbeit von Alexandra Toepsch, im Nachgang des Memorandums die bis heute vorbildliche finanzielle Transparenz von Adveniat durchzusetzen und durch zahlreiche öffentliche Auftritte das erschütterte Vertrauen wiederherzustellen Seitdem wurde das Thema Memorandum ignoriert, bis es zum 50-Jahr-Jubiläum 2011 von Michael Huhn noch einmal aufgearbeitet wurde. Seit diesem Bericht, der sehr differenziert die Datenlage vorlegt, und eine Art Endpunkt hätte sein können, hat sich noch eine neue Perspektive ergeben (vgl. Huhn 2011, 22-26). Huhn weist auf die Dankesrede Lorscheiders (1977) an Adveniat hin, um zu zeigen, dass es nie einen Bruch zwischen Adveniat und den Theolog:innen der Befreiung gab (vgl. Huhn 2011, 24). 2015 wurde jedoch posthum ein Interview mit Kard. Lorscheider von 2007 veröffentlicht, in dem jener sagte:

„Wir wussten, dass von Deutschland aus, vor allem von Adveniat, Druck gegen die Befreiungstheologie aufgebaut wurde. Das ging sogar so weit, dass der Erzbischof und spätere Kardinal Hengsbach aus Essen, dem Sitz Adveniats, eine ganze Studienreihe mit diversen Büchern und Publikationen gegen die Befreiungstheologie organisierte! Einige Bischöfe Lateinamerikas standen auf seiner Seite. Es gab dann in Deutschland eine regelrechte Verschwörungswelle, ausgehend von der Gruppe um Hengsbach. Sie verfügten über viel Geld! Einige Bischöfe bei uns fanden, es könne ein großer Schaden für unsere Kirche entstehen, wenn man sich denen widersetze, und es sei sogar gegen die Nächstenliebe!“ (Lorscheider 2015, 69).

Ob es hier um späte Befreiung oder nachträgliche Interpretation geht, kann nicht entschieden werden. Ebenso wenig, ob es noch ein öffentliches oder nur ein institutionsbezogenes Interesse an der Lösung dieser alten (veralteten?) Frage gibt.

Ausblick

Spätestens mit dem Pontifikat von Franziskus hat sich Adveniat wieder klar zur Synode in Medellín bekannt und spricht in seiner Vision und seinem Leitbild vom Reich Gottes und der Option für die Armen und nicht nur von der „Zivilisation der Liebe“ (Paul VI.). Mit dem gegenwärtigen HGF Martin Maier wird vermutlich nicht nur die Befreiungstheologie allgemein, sondern besonders die Ausprägung El Salvadors in den Blick kommen. Er selbst äußerte der KNA gegenüber, es sei seine „Herzensheimat“ (25.02.2021) und bei seinem Studium an der Universidad Centroamericana „José Simeón Cañas“ (UCA) überlebte er nur zufällig das Attentat, bei welchem der Befreiungstheologe und Rektor Ignacio Ellacuría und andere am 16.11.1989 ermordet wurden. Der 1979 in die Gesellschaft Jesu eingetreten Maier promovierte 1993 über Jon Sobrino und Ellacuría in Innsbruck und hat seitdem mehrere Bücher, etwa über Oscar Romero und Pedro Arrupe SJ sowie Beiträge als Herausgeber in den Stimmen der Zeit (1995-2009) verfasst, während er gleichzeitig im Orden viel Verantwortung, zuletzt in Brüssel, trug.

Bei den Interviews anlässlich seiner Ernennung spricht er über die schwierige Situation der Armen in Lateinamerika und die Diskussionen um sozialistische Elemente in der Theologie sowie die Notwendigkeit, den Eurozentrismus aufzubrechen, ohne auf die Einladung, über die Rolle Johannes Paul II. in Lateinamerika zu reden, einzugehen (Domradio 04.03.2021). Wesentlich härter richtete er sich in der Vergangenheit gegen den Opus Dei (Berichte in publik-forum 24.03.2015), sodass sich ein diplomatischer aber konsequenter Einstieg in die neue Aufgabe erwarten lässt. Das 60 Jahr-Jubiläum und die administrative Trennung vom Bistum bieten ihm die Möglichkeit, mit den skizzierten Vorurteilen aufzuräumen und die Arbeiten Huhns in Kooperation mit dem Bistum zu einem guten Abschluss zu führen. Unabhängig davon, ob er diese „Gedächtnisreinigung“ neben der Fülle alltäglicher Aufgaben angehen kann oder nicht, ihm und Adveniat seien auf diesem Weg viel Dank, Freude und Kraft gewünscht. Ad multos annos.

Hashtag der Woche: #adveniwhat


(Beitragsbild: @markuswinkler)

1 An dieser Stelle sei Hrn. Dietzel vom Adveniat-Archiv gedankt, der mir beim Auffinden einer Publikation geholfen hat. Weitere Publikationen in und um Adveniat, die diesem Beitrag zu Grunde liegen: Die Webseiten von Adveniat und der DBK; Stehle, Emil L./ Schöpfer, Hans (Hg.): Kontinent der Hoffnung. Beiträge und Berichte zu Puebla (EuF 8), München 1979; Schlegelberger, Bruno/ Sayer, Bruno/ Weber, Karl (Hg.): Von Medellín nach Puebla. Gespräche mit lateinamerikanischen Theologen, Düsseldorf 1980; Jugend, Kirche und Veränderung (Bogotá 1984); Greinacher, Norbert (Hg.): Konflikt um die Theologie der Befreiung. Diskussion und Dokumentation, Köln 1985; Marcus, Franz (Hg.): Begegnungen im Glauben. Exposure- und Dialogprogramm mit christlichen Gemeinden in Mittelamerika, München 2003; Bauer, Gerhard M.: Solidarität der deutschen Katholiken mit der Kirche in Lateinamerika, in: Franz (2003), 202-233, bes. die Statistiken 209-227; Huhn, Michael (Hg.): Dein Reich komme. 50 Jahre Adveniat (Kontinent der Hoffnung 30), Paderborn 2011; Lasst euer Licht leuchten! Rückblicke in die Zukunft der Kirche. Gespräche mit Kardinal Dom Aloísio Lorscheider, Münster 2015; Rahner, Karl: SW 28, 67-73; SW 21, 375; 756; SW 24, 18; 424; SW 31, 255 (Ö2-Sendung 1982); 382 (KHG München 1983). Nicht einsehen konnte ich den Schriftwechsel KRA III,A zwischen Rahner und Hengsbach (6 Briefe zwischen 1963-1974). Für weitere Fragen zu den Quellen kontaktieren sie bitte den Autor.

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dr. benedikt collinet

studierte katholische Theologie, Religionswissenschaften und Komparatistik. Er promovierte und habilitiert sich im HB/AT. Neben Biblischer Theologie und Hermeneutik interessiert er sich für Kirchenpolitik, kritische Männerforschung, erzählende Texte und Filme.

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