Warum schauen wir eigentlich ständig unser eigenes Zoomfenster an? Sind diese und andere Formen der Selbstbeobachtung mit den Geschlechterrollen verknüpft? In unserem feministischen Marienmonat Mai denkt Svana Stemmler über alltägliche Formen patriarchaler Unterdrückung nach.

Sicherlich bin ich nicht die Einzige, die sich zu oft dabei ertappt, sich selbst im eigenen Zoomfenster zu beobachten. Während der Pandemie haben viele von uns täglich Gelegenheit, bei der Interaktion mit anderen auch sich selbst zu betrachten. Was mich dazu verlockt ist weniger die Frage, ob ich selbst mein Aussehen okay finde oder ob ich vielleicht noch etwas Schokolade im Mundwinkel habe, sondern viel mehr, was oder wen die anderen Teilnehmenden da gerade sehen. Was denken die anderen Köpfe plus Schultern über meinen Kopf und meine Schultern?

Durch das gedankliche Schlüsselloch schauen

Bei dieser Art von Selbstbeobachtung über den Umweg des vorgestellten Blicks anderer muss ich mit einem schlechten feministischen Gewissen an ein Zitat aus Margaret Atwoods Roman The Robber Bride denken. Dort beklagt sie die Omnipräsenz männlicher Fantasien, von denen Frauen noch verfolgt werden, selbst wenn sie alleine sind. Wenn der allgegenwärtige Beobachter nicht durch das reale Schlüsselloch schaue, dann durch das in unserem Kopf:

„You are a woman with a man inside watching a woman. You are your own voyeur.“1

Immer wenn ich dieses Zitat in Gesprächen anbringe, wird deutlich, dass Atwood ein ganz menschliches Phänomen beschreibt, mit dem sich viele identifizieren können, unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Trotzdem bleibt bei mir die Intuition bestehen, dass sie berechtigterweise die Erfahrung von Frauen hervorhebt. Dieser Intuition lässt sich auf den Spuren feministischer Theorie nachgehen. Die Rechtswissenschaftlerin Catharine MacKinnon bietet uns den Begriff der Objektifizierung an, um genau solche Phänomene zu untersuchen, bei denen es sich um den männlichen Beobachter und sein weibliches Beobachtungsobjekt handelt.

Von der Objektifizierung zur Objektivität

Wenn die Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen thematisiert wird, fällt häufig der Begriff der Objektifizierung. Ein intuitives Verständnis scheint unserem Gebrauch des Begriffs zugrunde zu liegen. Bei genauerem Hinsehen ist er allerdings nicht leicht zu erklären und bringt schwerwiegende Fragen mit sich: Was heißt es, aus einem Subjekt ein Objekt zu machen? Was heißt es überhaupt, ein Subjekt zu sein? MacKinnon weicht diesen Fragen geschickt aus, indem sie schlicht auf die Wortfamilie der Objektifizierung zurückgreift und so den Begriff der Objektivität ins Spiel bringt. Das mag auf den ersten Blick lediglich wie ein cleveres Wortspiel wirken. Bedeutsam an dieser Herangehensweise ist jedoch, dass es MacKinnon in ihrem 1989 erschienenen Buch Towards a Feminist Theory of the State gelingt, alltägliche Erscheinungen patriarchaler Unterdrückung mit einer philosophisch anspruchsvollen Perspektive auf feministische Erkenntnistheorie zu verbinden. Diese hatte in den 60er und 70er Jahren bereits einiges in der Aufdeckung patriarchaler Vorgänge in Wissenschaft und traditioneller Philosophie geleistet.

MacKinnon unterscheidet sowohl von den ihr vorhergegangenen als auch den ihr nachfolgenden Theoretikerinnen, dass sie patriarchaler Erkenntnis ein intrinsisches Problem diagnostiziert. Es gehe nicht um ein oberflächlich falsches Verständnis der Realität, zum Beispiel in Form von kurzerhand widerlegbaren Annahmen darüber, wie Männer und Frauen ‚von Natur aus‘ funktionieren. Zwar sind solche faktisch falschen Vorurteile oder Missverständnisse durchaus Teil der Problematik, jedoch sollten Feministinnen MacKinnon zufolge ihren Fokus auf die inhärente Logik von Erkenntnis und Wahrheit richten. Wenn wir das tun, stoßen wir notwendigerweise auf die Norm der Objektivität.

Objektiv ist ein Standpunkt, auf den wir uns einigen können, eine Einstellung, die sich von persönlichem Geschmack oder eigenen Interessen lossagt, eine von Emotionen bereinigte Sicht auf die Realität. Damit also eine zentrale Norm für alltägliche Gespräche, politische Debatten und wissenschaftliche Arbeit. MacKinnon zeigt uns ihre Schattenseite. Aus objektiver Erkenntnis werden sozialer Standpunkt, materielle Bedingungen, Interessen und Werte vorgeblich herausgeschnitten. Aber ist das überhaupt möglich? MacKinnon spricht sich klar gegen diese Vorstellung aus und plädiert für ein Verständnis von Wissen als soziale und intersubjektive Angelegenheit. Aus dieser Perspektive erscheint eine nach Objektivität strebende Wissenschaft dann als Projekt, welches soziale Gegebenheiten in Naturgesetzen festschreiben und einen absoluten Standpunkt einnehmen will, über den sich nicht mehr verhandeln lässt.2

Objektifizierung als Verwirklichung patriarchaler Erkenntnis

Was hat das nun mit Objektifizierung zu tun? Wichtig ist hier zu verstehen, dass MacKinnon menschliches Verstehen und Erkennen nicht auf Machtkämpfe zu reduzieren versucht. Wissen ist nicht einfach auf die willkürlichen Interessen von realitätsblinden Machthabenden zurückzuführen. In dem Fall wären wir wieder bei Falschheiten und Vorurteilen. Indem MacKinnon stattdessen unseren Blick auf den Vorgang der Objektifizierung lenkt, macht sie deutlich, dass patriarchale Erkenntnis nicht in dem Sinne falsch ist.3

In einer patriarchalen Gesellschaft sind Frauen nicht in bedeutungsvoller Weise Produzentinnen von Wissen über sich, sondern Objekt patriarchaler Erkenntnis.

Sie sehen sich nicht durch eigene sondern durch männliche Augen. Hier können wir wieder an den Blick in das Zoomfenster denken, oder an die regelmäßige Kontrolle des Spiegelbilds, den Selfie-Ordner auf unserem Handy, der so langsam unangenehm viel Speicherplatz auffrisst, und an das ständige Vergleichen unseres eigenen Körpers mit dem anderer. Auf diesem Weg der Verinnerlichung reichen patriarchale Vorstellungen schließlich über die Gedankenwelt hinaus in materielle Begebenheiten hinein: Wir passen unser Verhalten, unser Aussehen, unseren Körper immer mehr an sie an.

Das führt uns zurück zur Objektivität: Wenn wir davon ausgehen, dass patriarchale Unterdrückung nicht nur in Vorurteilen und falschen Stereotypen besteht, sondern vor allem in der Verwirklichung von Normen und Idealen, dann bestätigen Objektifizierung und objektive Erkenntnis sich in einer Endlosschleife gegenseitig.

Je mehr Frauen dem patriarchalen Bild von sich gleichen, desto mehr wird dieses durch die Realität bestätigt, und erscheint somit als objektive Wahrheit, losgelöst von sozialen Umständen.

Nach ihren eigenen epistemischen Normen entspricht eine patriarchale Beschreibung der Welt der Wahrheit, weil sie selbst dafür sorgt.4

Löst den Blick vom eigenen Zoomfenster!

Bei einer ernsthaften Beschäftigung mit MacKinnons Argumenten kommt man irgendwann an den Punkt, keinen Ausweg mehr zu sehen. Wie können Frauen, die sowohl in sozialer Interaktion als auch in ihrer Selbsterfahrung auf Objekte reduziert sind, sich von dieser Unterdrückung emanzipieren? MacKinnon gibt nur selten kleine, aber hoffnungsvolle Lichtblicke auf eine mögliche Befreiung.

„Women can act, because they have been acting all along“,5

schreibt sie, und weist damit darauf hin, dass die Verinnerlichung objektifizierender Sichtweisen sich gerade zunutze macht, dass Frauen eben nicht nur Objekte sind. Frauen besitzen eine Innenwelt, eine aktive Beziehung zu ihrem Selbst, und gerade in diesem werden sie angegriffen. Der Schmerz der Objektifizierung liegt darin, dass sie sich gegen eine Person, ein Subjekt wendet.

Wir sollten uns deshalb nicht von MacKinnons Analyse patriarchaler Unterdrückung die Hoffnung nehmen lassen, wenn es um die Frage geht, was wir gegen diese unternehmen können. Wie sie selbst schreibt, lassen sich Wege finden, Erkenntnis als soziales Projekt aus der Gemeinschaft mit anderen erwachsen zu lassen. Für eine feministische Perspektive ist es zentral, solche Wege zu erkunden, weil die Unterdrückung von Frauen ihr selbstverwirklichendes Potential in unseren alltäglichen Handlungen und intimen Gedankenprozessen entfaltet. Anfangen sollten wir also, indem wir unseren Blick vom eigenen Zoomfenster lösen und auf das der anderen richten.

Hashtag: #malegaze


(Beitragsbild: Daniel Ramos )

1Atwood 1993, 471.

2 MacKinnon 1989, 107.

3 Ebd., 122.

4 Ebd., 124f.

5 Ebd., 102.

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svana stemmler

hat das Studium der Philosophie und Soziologie in Heidelberg kürzlich mit einer Bachelorarbeit über feministische Erkenntnistheorie abgeschlossen und studiert nun Psychologie in Freiburg.

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