In unserem feministischen Marienmonat Mai beschäftigt sich Anna-Lena Passior mit einem der big four der christlichen Sozialethik: der Solidarität. Was bedeutet sie eigentlich? Wo zeigt sie sich? Wie ist ihr Verhältnis zur Identitätspolitik? Und was hat sie mit Feminismus zu tun?  

Der Schleier des Nichtwissens (John Rawls) ist eine Fiktion, ein Gedankenspiel, doch so oft wünschte ich mir, dass er Realität ist. Doch unsere Welt ist komplexer als diese Theorie, die den Urzustand vollkommener Gleichheit als Utopie voraussetzt, und wenn wir ehrlich sind, ist die vollkommene Unparteilichkeit nur in dieser Utopie vorstellbar. In Gleichheit und Unparteilichkeit lässt sich leicht solidarisch sein. Wenn mensch Entscheidungen zur Gestaltung der Gesellschaft trifft ohne über die eigene konstruierte Identität und mögliche Betroffenheit z.B. durch Rassifizierung, Sexismus, Misogyne, Ableismus, Trans- oder Homofeindlichkeit Bescheid zu wissen, entscheidet mensch wohl zwangsläufig solidarisch. Denn mensch kann die eigene Betroffenheit hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht sehen und so stärkt dies den Wunsch einer gerechten Welt.

Formen und Funktionen von Solidarität

An vielen Orten leuchtet der Begriff der Solidarität auf: Auf dem Sprechpult der Bundeskanzlerin in der Pandemiezeit, am Balkon der für das Pflegepersonal beifallklatschenden Menschen, über den Filialen der Krankenversicherungen, in exklusivistischer Form auf den Fahnen einer rechten völkisch-nationalen Kollektividentität, auf den Bannern der Black Lives Matter Demonstrationen, im Schrei der Armen in der Liturgie, am Fürbitt-Pult und als roter Stempel auf dem Evangeliar.

Im Studium habe ich gelernt, dass Solidarität als Sozialprinzip ein wichtiger Teil der katholischen Soziallehre ist. Und dass, auch wenn es den Begriff Solidarität biblisch nicht gibt, die Heilige Schrift voll von solidarischen Geschichten ist. Papst Johannes Paul II. definiert Solidarität 1987 in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis als, „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir für alle verantwortlich sind“.

Solidarität ist das organisatorische Mittel, um Gemeinwohl und Teilhabe, christlich gesprochen: Leben in Fülle, für alle Menschen zu erreichen. Sie verpflichtet zum Einsatz für die Gewährleistung des menschenrechtlichen Status aller Personen. Kein Gemeinwohl ohne Solidarität, kein Personwohl ohne Gemeinwohl. Darum sollte der Staat in erster Linie der Garant der Solidarität bzw. des Gemeinwohls sein. Solidarität ist nicht selbstlos, sondern ein moralisch motivierter Einsatz für Gerechtigkeit, der auch von Eigeninteresse getragen ist (Beispiel Krankenkassen). Solidarität ist so ein identitätsübergreifendes Einstehen füreinander.

Solidarität dient nicht der Selbstentlastung und des kollektiven Schulterklopfens. Es geht nicht darum, jemandem etwas zu gönnen, oder um emotionale Verbundenheit oder im christlichen Wortlaut um Barmherzigkeit, sondern um Rechtspflichten und Rechtsansprüche, die sich aus der Anwendung von Verteilungsgerechtigkeit ergeben.

Es ist ein sozialethisches Verständnis von Solidarität, das in den gesellschaftlichen Strukturen institutionell verankert ist. Eine solidarische Gesellschaft ist nicht das Resultat von Handlungen einzelner – das würde mich ehrlich gesagt auch sehr überfordern.

Doch der Staat kommt nicht überall seinen Pflichten als Garant für Solidarität und Gemeinwohl nach. Es braucht zivilgesellschaftliche, auch kirchliche Solidaritätsbeiträge, auch um die Solidarität in der Rahmenordnung durch den Staat immer wieder zu stärken. In der Kirche als Teilsystem müssen die Rahmenbedingungen des Staates zur Solidarität und Gemeinwohl in vielen Bereichen noch übersetzt und vor allem umgesetzt werden.

Solidarität und essentialistische Identitätspolitik

Solidarische Bündnisse können auch Kollektivstrukturen und Vergemeinschaftung abseits von konstruierten Identität(en) schaffen.

„Solidarität muss also nicht auf Identität beruhen, sie ist aber auch nicht nur auf eine allgemeine Anerkennung verwiesen, sondern könnte darüber hinaus aus politischen und oppositionellen Allianzen gegen bestimmte Formen der (staatlichen) Macht rühren.“1

Die Theologin Anna Maria Riedl weist auf die Möglichkeit hin, „statt auf potenziell immer essentialistische Identitätspolitik auf solidarische Koalitionen zu setzen, die zeitlich befristet sind und nach Erreichen eines Ziels aufgelöst bzw. in neuer Kombination eingegangen werden können.“2 Die Positionierungen in den solidarischen Koalitionen sind im Gegensatz zur Identitätspolitik kein immerwährendes, naturgegebenes Wesensmerkmal der Menschen. Identität ist „kein Wesen, sondern eine Positionierung“3, hat der Soziologe Stuart Hall festgestellt. Bei Bewegungen wie Black Lives Matter oder Maria 2.0. sollte es „um (die) Betonung partikularistischer Identität einerseits und um den Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Umgestaltung andererseits“4 gehen.

Eine essentialistische Identitätspolitik, bei der sich Menschen nicht mehr über Ausschluss oder Diskriminierung, z.B. eine gemeinsame Positionierung gegen das Patriarchat verbinden, sondern über eine positive Aneignung der Einteilungen und Konstrukte (Frau sein), nehme ich in feministischen Diskursen, auch in binnenkirchlichen Kontexten wahr. Statt „Wir Feminist*innen“ heißt es „Wir Frauen“. Statt einer „Weihe unabhängig vom Geschlecht“ lautet die Forderung eine „Weihe für Frauen“ und Argumente eines frauenspezifischen Diakonats werden angebracht, in denen die idealen, fälschlicherweise als naturgegeben festgestellten Fähigkeiten der Frau (manchmal auch Frauen) in der Care-Arbeit hervorgehoben werden. Daraus entsteht oft ein Festhalten an binären Konstrukten und eine Transfeindlichkeit.

Im Feminismus geht es um Solidarität

Felicia Ewert schreibt auf Twitter:

Durch das Festhalten an Merkmalen, statt an Positionen geht oft auch der Gedanke der Intersektionalität verloren.

Im Feminismus geht es nicht um das Durchsetzen von „Fraueninteressen“ (was auch immer das sein soll?!), sondern es geht um Solidarität, um das Reich Gottes, um eine Welt, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht gut leben können.

Solidarität bedeutet also in feministischen Kontexten auch immer Herrschaftskritik, z.B. das Sichtbarmachen von Cis- und white-fragility, von Normen, die doch nicht so klar sind, wie es manche gerne hätten und deshalb immer wieder gefestigt werden müssen.

Solidarität braucht Ambiguitätstoleranz und die Anerkennung von Komplexität.

Othering als die Konstruktion des „Anderen“ muss sichtbar gemacht werden, denn es braucht eine Auflösung der konstruierten Hierarchie im Verhältnis vom „Eigenen“ zum „Anderen“ – ohne das bleibt Solidarität ein leeres Wort.

Churchy Phrase mit Zukunftspotential

Ein Jahr nach meiner Geburt schrieben der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz: Das  Anliegen der Kirchen „ist es, zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen. […] Die Kirchen sehen ihren Auftrag und ihre Kompetenz vor allem darin, für das einzutreten, was dem solidarischen Ausgleich und zugleich dem Gemeinwohl dient.“5 Eine churchy Phrase, die sich schön anhört, aber erst wahre Schönheit entfaltet, wenn sie konkretisiert und gelebt wird.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns, denn Solidarität muss gelebt werden – in Kirche und Gesellschaft. Aber für mich ist Solidarität der einzige Weg in eine gerechte Zukunft.

Für mich schützt Solidarität in einem weiten Sinne vor Essentialismus und lässt Platz, Identität als hybride, komplexe und dynamische Konstruktion zu verstehen.

Für mich ist Solidarität der einzige Weg hin zu diesem Reich Gottes, von dem in der Kirche so viel geredet wird, zu einem herrschaftsfreien Raum, in dem alle Menschen angenommen, geliebt und willkommen sind, vollkommende Teilhabe, alles all-inclusive, in dem jede*r hat, was mensch so braucht, und „das Recht wie Wasser fließt und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Am 5,24).

Hashtag: #solidaritätgrenzenlos


(Beitragsbild: Ashkan Forouzani)

1Riedl, Anna Maria (2020): Identität – kein Wesensmerkmal, sondern Position. Identitätspolitische Organisation von Minderheiten. (Ethik und Gesellschaft 1/2020: Kritik der Identitätspolitik). Download unter: https://dx.doi.org/10.18156/eug-1-2020-art-3 (Zugriff am 20.04.2021).

2  Ebd.

3 Hall, Stuart (1994) :Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg, 30.

4 Susemichel, Lea; Kastner, Jens (2018): Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster , 75.

5 Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997.

Print Friendly, PDF & Email

anna-lena passior

ist Religionspädagogin und in der Ausbildung im Bistum Hildesheim. Als @anna.sucht.meer ist sie auf Instagram unter anderem Teil des feministischen Andachtskollektivs.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und bin mit dem Speichern der angegebenen Daten einverstanden: