Warum ist unsere Welt nach männlichen Bedürfnissen gestaltet und wie könnte ein Welt aussehen, die den evolutionsbiologischen Bedürfnissen der Geschlechter gerecht wird? Dieser Frage geht Meike Stoverock in ihrem Buch „Female Choice. Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation“ auf den Grund. Benedict Schöning gibt in unserem feministischen Marienmonat einen Überblick und fragt nach, was das für Religion und Theologie bedeutet.
Im Zoo schlägt der Pfau ein Rad. Eine 4-Jährige fragt: „Warum trägt denn bei Pfauen der Mann das schöne Kleid?“ Schon ein Kita-Kind ist daraufhin geprägt, zur Schau getragene Schönheit mit Frauen* zu assoziieren. Dabei beobachtet es am Beispiel des Pfaus gar nicht das Besondere, sondern das Normale: Es ist unter den Tieren an den Männchen, durch auffällige Farben und dargestellte Fähigkeiten Weibchen von sich zu überzeugen. Der Mensch bildet dabei biologisch betrachtet keine Ausnahme, vielmehr kam es in der Menschheitsgeschichte zu einer Umkehrung: Wo sich sonst Männchen um Paarung bewerben müssen, ist es in der für männliche Bedürfnisse organisierten, androzentrischen Zivilisation die Frau*, die sich Männer*n entsprechend kleiden, schminken und benehmen soll. Dass diese Wendung schon die Weltwahrnehmung von Kindern prägt, weist auf ihre fundamentale Bedeutung hin.
Warum das so ist und warum diese Feststellung zutiefst beunruhigend sein kann, darüber schreibt die Biologin und Bloggerin Meike Stoverock in ihrem Buch „Female Choice. Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation“. Sie stellt dabei nicht einfach nur fest, dass unsere Gesellschaft androzentrisch organisiert ist, sie benennt auch das dahinterliegende zentrale evolutionsbiologische Prinzip, die Female Choice.
Was ist Female Choice?
Female Choice bedeutet, dass bei der Reproduktion eine grundsätzlich widersprüchliche Interessenlage zwischen Weibchen und Männchen besteht: Für Weibchen sind mit Eibildung, Befruchtung, Austragung und Versorgung des Nachwuchses hohe Kosten verbunden, während Männchen ohne Konsequenzen Nachwuchs zeugen können. Weibchen selektieren ihre Partner deswegen danach, welcher Nachwuchs die höchsten Überlebenschancen hat – wo sich also der Energieeinsatz am ehesten lohnt.
So kontrollieren Weibchen die Ressource Sex, während Männchen jede sich bietende Chance zur Fortpflanzung erarbeiten und nutzen müssen. Die Folge ist, dass nur ein Teil der Männchen überhaupt reproduktiv erfolgreich ist: Etwa 20 Prozent der Männchen paaren sich mit 80 Prozent der Weibchen, vier von fünf der Männchen bleiben beim Sex außen vor; es entsteht unter Männchen ein Selektionsdruck. Die Female Choice ist dabei keine Sondererscheinung, sondern ein stabiles natürliches Prinzip, das durch Selektion einen evolutionären Vorteil bietet.
Umso mehr fällt die Entwicklung beim Menschen auf. Sie ist nicht biologisch zu begründen, sondern kulturell. Mit Beginn der Sesshaftigkeit vor ca. 10.000 Jahren wird die Gesellschaft von Männern und nach ihren Bedürfnissen umgestaltet. Ursache dafür ist der weiter gesteigerte Selektionsdruck: Besitz und Intelligenz werden in der neu entstandenen Landwirtschaft wichtig und damit zum Attraktivitätsmerkmal, in der Folge lassen Frauen* noch weniger Männer* zur Paarung zu. Der sexuelle Druck und die damit verbundene Aggression steigen. Sexualität muss also kontrolliert werden. Ein Vorteil dabei ist, dass Besitz erwerbbar und nicht angeboren ist, und daher zumindest als Versprechen für alle Männer* erreichbar wird. Im Gegenzug wird die Female Choice eingeschränkt, etwa durch Zwang zur lebenslangen Beziehungen mit einem Mann* und darin unbegrenztem männlichen Zugang zu Sex. So wird eine 1:1 Versorgung von Männern* mit Frauen*, die biologisch nicht naheliegt, zumindest theoretisch möglich. Tief in den Anfang der Zivilisation ist also die Unterwanderung der Female Choice eingewoben. Die nun entstehende Male Choice ist die kulturelle Konsequenz aus der Unterdrückung der Female Choice.
Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen Stoverocks ist:
Das Fundament gegenwärtig dominanter Kultur ist die Unterdrückung weiblicher Sexualität und die Ausgestaltung der Umwelt nach männlichen Bedürfnissen.
Und doch war Stoverock zufolge der zivilisatorische Fortschritt nur über diese Regulierung möglich, denn nur so wurden die nötigen Ressourcen der Männer* für technischen Fortschritt frei. Trotzdem bewertet sie die bleibende Unterdrückung weiblicher Sexualität als ungerecht: Feminismus und medizinischer Fortschritt haben gezeigt, dass diese Grundbedingung nicht aufrechterhalten werden muss.
Die Auseinandersetzung rund um die Female Choice hat längst begonnen: Weibliche Bedürfnisse werden sichtbar und entgleiten der männlichen Kontrolle. Männer* fühlen sich davon bedroht, denn es droht ein radikaler Rollenwechsel. Der Mann* fürchtet, in einer gerechteren Welt wieder zum biologischen Ausgangszustand als sexueller Bittsteller geführt zu werden. Die Aggression steigt erneut an: Die Neue Rechte und die Incel-Bewegung sind Reaktionen von Männern*, die sich vom Verlust ihrer bisherigen Welt und ihres Status bedroht fühlen; im sozialen Mikrokosmos ist es die häusliche Gewalt.
Stoverock setzt gegen diese Entwicklung die Utopie einer neuen Gesellschaft, in der weibliche Bedürfnisse zum Tragen kommen – was zur notwendigen Konsequenz hat, dass die männlichen Bedürfnisse in der gegebenen Form zurücktreten und ebenfalls einen neuen Ort brauchen, der nicht zulasten von Frauen* konstruiert ist.
Was bedeutet das für Religion und Theologie?
Wenn ich Stoverocks Buch als Theologe lese, frage ich mich: Kann Religion hier einen Beitrag leisten? Eine Religion, die etwa für sich die Befreiung des Menschen in das Reich Gottes in Anspruch nimmt, hätte Anwältin der Nicht-Gesehenen zu sein. Das Buch „Female Choice“ enthält allerdings viel und heftige Religionskritik, denn gerade das Christentum hat unsere gegenwärtige westliche Kultur dominant geprägt und sie anderen massiv aufgedrückt. Jede staatliche oder religiöse Regulierung von Sexualität mittels Recht und Moral wird nun als ein Machtmittel gegen Frauen* sichtbar. Gerade deswegen sehe ich dieses Buch aber als Impulsgeber für Theologie, die die geäußerte Kritik annehmen muss, aber auch produktiv weiterdenken kann, denn die Klärung der biologischen Grundbedingungen unseres Handelns hilft, die Möglichkeiten der menschlichen Freiheit neu zu bestimmen.
Eine kritische Theologie kann aber noch mehr. Sie kann sich aus ihrer Tradition heraus selbst eine Zukunft entwerfen, die den Bedürfnissen aller Betroffenen Rechnung trägt, wenn sie nur fähig wird, ihre Tradition einer feministischen Kritik zu unterziehen und sie entsprechend zu aktualisieren. Die feministische Theologie ist da weiter, als Stoverock es sieht, aber es bleibt ein notwendiges Anliegen, männliche Gottes- und Gesellschaftsbilder anzufragen.
Religion könnte männlicher Verletzlichkeit einen Raum bieten und alternative Männerbilder jenseits der hierarchischen Auseinandersetzung um Status und Besitz zeichnen. Die christliche Tradition kennt von ihren Ursprüngen her alternative Lebensformen, die eine kritische Positionierung gegenüber üblichen Gesellschaftsformen hätten sein können.
Religion könnte eine Sprache sprechen, die Sexualität enttabuisiert, die glaubwürdig Gewalt in Beziehungen anspricht und Asymmetrien in der Ehe sichtbar macht. Das alles löst zwar die grundlegenden Konstruktionsprobleme unserer Gesellschaft nicht, kann aber wenigstens einen Raum eröffnen, in dem bald bessere Ideen gefunden werden, wie wir gerechter zivilisatorisch mit den uns mitgegebenen Voraussetzungen umgehen wollen.
Was ist nun zu tun?
Das Buch „Female Choice“ ist ein Aufruf zu einer gerechteren Gesellschaft, in der Probleme zu lösen sind, die nach der Lektüre des Buches nicht mehr ungesehen gemacht werden können. Damit ist nicht alles beschrieben und nicht alles gesagt, was es für diese Gesellschaft braucht, aber doch eine fundamentale Bedingung sichtbar geworden. Ausdrücklich ruft Stoverock zu neuen Ideen auf, wie eine Gesellschaft gerecht und den Bedürfnissen aller Geschlechter entsprechend gestaltet werden kann.
Das Wissen um die biologischen Grundlagen unseres Zusammenlebens befreit und es kann Frauen* ermächtigen, die ihnen biologisch mitgegebene „Choice“ auch wahrzunehmen. Und es macht Hoffnung, dass die eingangs genannte 4-Jährige ihre Welt freier gestalten kann, sodass einige Generationen später tatsächlich männliche Bedürfnisse und Female Choice ein zivilisiertes Zusammenleben gefunden haben. Wie das gehen kann, daran müssen wir weiterdenken.
Hashtag: #femalechoice
(Beitragsbild: @thatrevert)