Wie kann eine Prophetin, die zum Schweigen verpflichtet ist, als feministisches Vorbild gelten? Diese Frage beantwortet Nasrin Bani Assadi durch die Auseinandersetzung mit einer koranischen Erzählung über Maryam, die Mutter Jesu. Ein Beitrag in unserem feministischen Marienmonat.

Jesus ist endlich geboren. Maria ist allein, weit weg von zu Hause, und niemand weiß, was passiert ist. Sie muss selbst ihr Kind in die Stadt bringen, ohne ein Wort sprechen zu dürfen. Sie soll, nach Gottes Befehl, drei Tage lang mit keinem Menschenwesen sprechen (Koran, 19:26); genau dann, wenn sie ihre Stimme mehr denn je braucht, um den Anderen zu erklären, dass sie bei der Geburt Jesu nichts Beschämendes getan hat. Alles, was sie zur Verfügung hat, ist ihr Vertrauen auf Gott. Diese Geschichte im Koran findet ihren Höhepunkt, als der neugeborene Jesus auf einmal anfängt, seine Mission zu verkündigen und dadurch seine Mutter gegen alle Vorwürfe zu schützen (19:30-33).

Eine schweigende Frau und aktiver Feminismus

Dieses Schweigen von Maria mag weit weg von dem revolutionären Geist des heutigen Feminismus erscheinen. Als eine Muslimin, die sich auch als eine Feministin versteht, habe ich mich vor Jahren mit der Frage auseinandergesetzt, wie es möglich sein kann, Marias Schweigen in dieser koranischen Erzählung mit dem aktiven Geist des Feminismus zu vereinbaren.

Maria wird im Koran jedoch nicht bloß als die Schweigende gekennzeichnet, sondern auch als diejenige, die mit dem Geist Gottes ins Gespräch tritt (19:17). Zum Zeitpunkt der Geburt Jesu, unter den Geburtswehen leidend, widerspricht sie sogar Gottes Willen mit ihrem Wunsch schon lange gestorben gewesen zu sein (19:23). Sie ist jedoch die einzige koranische Figur, die in so einem Fall keine tadelnden Worte von Gott bekommt. Stattdessen, gerade nach dem Ausspruch ihres Wunsches, bekommt sie von Gott Wasser zum Trinken und den Hinweis, etwas zu essen (19:24-26).

Die Frage, die sich nach wie vor stellt, ist, was das Schweigen Marias in dieser Sure des Korans (Sure 19) einer gläubigen Feministin sagen kann.

Diese Frage wird noch bedeutsamer, wenn man darauf aufmerksam macht, dass Maria im Koran überhaupt nicht als eine unerreichbare himmlische Figur, sondern als ein irdisches Vorbild für jeden Gläubigen, ob Mann oder Frau, dargestellt wird (66:12). Maria ist in diesem Sinn ein Sonderfall im ganzen Koran. Mit ihr sind die Geschlechtszuordnungen aufgehoben.1

Sie ist im Vers 66:12 als ein Beispiel für die demütig Ergebenen (min al-qānitīn) genannt, ohne dass ihrem Geschlecht in diesem Fall eine außergewöhnliche Bedeutung zukommt.2 Außerdem ist nirgendwo im Koran die Weltlichkeit Marias so deutlich dargestellt wie im Vers 19:23, in dem es um ihren Wunsch nach dem eigenen Tod geht. Maria leidet unter den Wehen und Ängsten wie jede andere Frau. Sie ist so verletzlich wie jeder andere Mensch. Gott erkennt jedoch ihre Verletzlichkeit an und behandelt sie mit Barmherzigkeit. In der nächsten Phase der Erzählung wird Maria mit ihrem Schweigen zum äußersten Zustand ihrer Verletzlichkeit gebracht. Aber was könnte diese Darstellung der Verletzlichkeit Marias im Koran zu unserem religiös-feministischen Diskurs beitragen?

Die Macht der Verletzlichkeit

In ihrem TedTalk von 2010 mit dem Titel „The Power of Vulnerability“ weist Brené Brown, eine der einflussreichsten Forscherinnen zum Thema Mut und Verletzlichkeit, darauf hin, wie die uneingeschränkte Annahme eigener Verletzlichkeit als ein Akt des Mutes verstanden werden kann bzw. muss. Brown beschreibt diejenigen, die darauf verzichten, alles im Leben unter ihre Kontrolle zu bringen, um somit ihrer Verletzlichkeit aus dem Weg zu gehen, als diejenigen, die aus vollem Herzen leben. Sie sind diejenigen, die trotz ihrer Verletzlichkeit daran glauben, dass sie der Liebe und Zugehörigkeit wert sind; ein Glaube, der dazu führt, auch den Anderen als der Liebe würdig zu empfinden.

Im Blick auf diese Beschreibung ist es möglich, Marias Rückkehr zu ihren Leuten als einen Akt des Mutes, aber auch der Liebe, zu verstehen. Sie musste selbst dafür entscheiden, ob sie die Auseinandersetzung mit ihren Leuten vermeiden soll oder nicht. Mit ihrem Vertrauen auf Gott, begibt sich Maria schließlich in einen Zustand von höchstmöglicher Verletzlichkeit, um die Botschaft Jesu zugänglich zu machen. Maria hat sich für die Auseinandersetzung mit den beschämenden Anschuldigungen entschieden, damit ihre Leute das Wort Gottes empfangen können.

Mut ist Glaube an eigene Entscheidungen, auch wenn es keine selbstverständliche Garantie gibt, dass alles so laufen wird, wie man es erwartet. Ebenso ist die Annahme eigener Verletzlichkeit die andere Dimension dieses Glaubens. Genauso wie sie die andere Dimension des Mutes ist.

Als eine muslimische Feministin würde ich deshalb das Schweigen Marias als ein Zeichen der menschlichen Verletzlichkeit verstehen, die nicht als Schwäche, sondern als Mut zum Glauben und zum Handeln wahrgenommen werden muss.

Hashtag: #vulneravisibility


(Beitragsbild: @mbrunacr)

1 Vgl. Tatari, Muna; Stosch, Klaus von, Prophetin-Jungfrau-Mutter: Maria im Koran, Freiburg: Herder, 2021, p. 255.

2 Das arabische Pluralprädikat „al-qānitīn“ (demütig Ergebene) ist in diesem Vers in der maskulinen Form verwendet. In arabischer Sprache passiert das auch, wenn das Geschlecht der Subjekte keine Rolle im Bedeutungskontext spielt.

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nasrin bani assadi

studierte Physik und Religionswissenschaft an der Ferdowsi Universität Maschhad im Iran. Derzeit promoviert sie in komparativer Theologie an der Universität Paderborn bei Prof. Dr. Klaus von Stosch. Ihr Dissertationsthema dreht sich um die Entwicklung einer islamischen Theologie, die auf der Idee Gottes als vollkommener Freiheit basiert.

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