Seit 13. April ist Ramadan. Dass Fasten jedoch viel mehr als bloße Pflicht ist und auch in Zeiten der Pandemie sehr kreativ mit den Einschränkungen umgegangen wird, berichtet für y-nachten.de Antigona Shabani.

Es ist wieder Ramadan. Mittlerweile ist er vielen Menschen im deutschsprachigen Raum bekannt. In diesen dreißig Tagen wird sowohl auf Essen und Trinken als auch auf Geschlechtsverkehr von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang verzichtet.1 Einseitig wird dies oft als bloße Abstinenz von menschlichen Bedürfnissen interpretiert. Zum anderen wird es jedoch als Zuwendung zu religiöser Pflicht verstanden. Verstärkt aber die Abstinenz von äußeren Einflüssen die eigene Spiritualität? Und welche Chancen und Herausforderungen bergen gerade Zeiten der Pandemie?

Pflicht und Spiritualität

Der Ramadan gehört zu den fünf Pflichten der Muslim*innen. In diesem Monat geht es nicht nur darum auf Essen und Trinken zu verzichten, sondern „das spirituelle Erlebnis, das intensive Studium des Korans, das gemeinsame Fastenbrechen (iftar)“2 und Beten (tarawih) sowie die Spende (zakat) machen diese Zeit besonders. Sowohl beim Fastenbrechen (iftar) als auch beim Mahl vor der Morgendämmerung (suhur) entsteht ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl. Es kommt eine Atmosphäre des Miteinanders auf, der Achtsamkeit gegenüber sich selbst und anderen Menschen sowie der Dankbarkeit zum Sonnenuntergang Essen und Trinken am Tisch zu haben. Hierbei herrscht – vor allem in vorwiegend muslimischen Ländern – eine herausgehobene spirituelle Stimmung, die mit dem Muezzingesang umrahmt wird. Gerade als Kind war das für mich persönlich die schönste und aufregendste Zeit im Jahr, womöglich lässt sich diese Empfindung mit einem Weihnachtsgefühl bei christlich geprägten Kindern vergleichen3.

Muslimische Kultur(en) bzw. Kulturen allgemein haben Gemeinschaft als wichtigstes Element. Zum Ramadan wird das Gemeinschaftliche sichtbarer, da in dieser Zeit Muslim*innen normalerweise Familie, Verwandte, Freund*innen und Bekannte zum Fastenbrechen (iftar) einladen. Auch nicht-muslimische Bekannte werden eingeladen und insofern leistet dieser Monat auch einen wichtigen Beitrag zum interreligiösen Miteinander.

In rezenter spiritueller Praxis nimmt neben der Atmosphäre des Miteinanders, der Achtsamkeit und Dankbarkeit die Reflexion über das eigene Leben und das Innehalten zunehmend mehr Platz ein. Die Enthaltsamkeit schafft Raum für neue Gedanken und bietet die Möglichkeit z.B. über bisherige Lebensweisen und Gewohnheiten nachzudenken. Die Fastenzeit will Menschen einiges über ihr eigenes Leben lehren, nicht zuletzt zu mehr Geduld, Empathie und Bescheidenheit anspornen. Es wird an jene Menschen gedacht, die mehr als einen Monat hungern müssen, an jene, die mit einem Stück Brot pro Tag auskommen müssen, die kein fließendes Wasser haben oder anderweitig in desolaten Situationen stecken. Zusammengefasst entschleunigt die Fastenzeit das Leben und bremst zugleich den Hunger nach Konsum.

Veränderungen der Zeit und die Auswirkungen der Pandemie

Wie so vieles bekommen mit der Zeit auch religiöse Rituale und Traditionen ein Update und werden je nach Gesellschaft weiterentwickelt. Auffallend im Ramadan sind einige interessante Entwicklungen: Der Ramadan- oder Dankbarkeitskalender, Selbstoptimierungs-Challenges sowie Ein-Teller-Challenges4 usw. Ersteres lässt sich als eine Inkulturation des Adventskalenders betrachten, welcher vielleicht eine Übersetzung bzw. Umwälzung des Einen in das Andere darstellt und so Zeugnis von einer gegenseitigen Bereicherung und einem Lernen voneinander ablegt.

Der Ramadan findet gerade zum zweiten Mal während der Coronapandemie statt. Konnte man vor der Pandemie das Fasten mit Familie, Freund*innen und Bekannten brechen, müssen Muslim*innen auch dieses Jahr auf Zusammenkünfte und Einladungen verzichten. Auch die Moscheebesuche sind eingeschränkt. Wie alle anderen Menschen auf der Welt greifen auch Muslim*innen in dieser Zeit zu digitalen Formen, um das Gemeinschaftsgefühl aufrechtzuerhalten. Einige Muslim*innen kennen das „Skype-Fastenbrechen“ auch von Zeiten vor Corona, denn oft leben Verwandte im Ausland bzw. in sogenannten Herkunftsländern und so ist diese digitale Art des Fastenbrechens – insbesondere zum Bayram (Fest am Ende des Ramadans) – bekannt. Nichtsdestotrotz bleibt die Pandemie in diesem besonderen Monat eine Herausforderung. Die Moscheebesuche und das gemeinsame Fastenbrechen fallen weg, weshalb Einsamkeitsgefühle ein Thema sind und die gemeinschaftlich gelebte Spiritualität in Moscheen fehlt. Birgt vielleicht die Pandemie nicht doch auch manche Chance oder regt sie zumindest an, das Fasten aus einer anderen Perspektive zu betrachten? Das Reflektieren und das Innehalten können auch (wenn nicht sogar am besten) alleine gelingen. Menschen können das vielfache Zuhause-Sein nutzen, um die Zeit mit den Menschen, mit denen sie leben, bewusster zu verbringen. Außerdem fallen der soziale Druck und der Stress für viele Menschen, die sonst zum Iftar (Fastenbrechen) zu Gast sind, zu kochen weg. Die Zeit des Ramadans soll aber gerade das Gegenteil von Stress bewirken. Vielleicht ist die Isolation daher eine gute Möglichkeit, Einfachheit und Entspannung zu erleben.

Zurück zum Wesentlichen

Abschließend kann gesagt werden, dass der Ramadan – vor allem in der Pandemie – große Ambivalenzen in sich birgt. Ist diese Zeit für die einen mit Gelassenheit verbunden, kann sie für andere tiefe Einsamkeit bedeuten. Ist der Ramadan also bloß eine religiöse Pflicht? Im Gegenteil. Er ist vielmehr verbunden mit Gefühl und einer ganz persönlichen autonomen Entscheidung. So kann diese Zeit des Miteinanders und der Achtsamkeit für (säkulare) Muslim*innen eine besondere sein. Dieser Monat kann Menschen ganz allgemein und mitten in ihrem Alltag spirituell stimmen und in diesen turbulenten Zeiten Ruhe sowie Besinnung auf das Wesentliche bringen. Eine Chance also sich selbst und seine Umwelt zu reflektieren und dankbar für die Dinge zu sein, die klein und unwichtig erscheinen, aber Großes bewirken können. Mit den Worten des kleinen Prinzen gesagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Hashtag der Woche: #WelcomeToRamadan


Literatur:

Ayari, Esra (2019): Wir fasten den ganzen Tag, um Abends vor Massen an Essen zu sitzen. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/campus/2019-06/ramadan-fastenmonat-islam-selbstoptimierung-hilfsbereitschaft (Stand: 18.04.2021)

Heine, Susanne; Lohlker, Rüdiger; Potz, Richard (2012): Muslime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. Tyrolia-Verlag. Innsbruck-Wien.

de Saint-Exupéry, Antoine (2015): Der kleine Prinz. 62. Auflage. Karl Rauch Verlag. Düsseldorf.


1 Vgl. Heine et al. (2012), S. 158

2 Ebd.

3 Dieser Vergleich ist nicht vereinnahmend gemeint, sondern soll ein Bild bzw. ein Gefühl widerspiegeln, das wahrscheinlich viele Menschen in christlich geprägten Ländern zu Weihnachten kennen. Zu betonen ist jedoch, dass jede Religion und Tradition ihre Einzigartigkeit besitzen, die durch diesen Vergleich nicht reduziert werden soll.

4 Vgl. Ayari (2019)


(Bild: Abdullah Arif auf Unsplash)

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antigona shabani

studierte Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Innsbruck. In dieser Zeit absolvierte sie auch das psychotherapeutische Propädeutikum. Sie ist Mitarbeiterin am Zentrum für Interreligiöse Studien sowie Universitätsassistentin (PraeDoc) am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Innsbruck und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation.

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