Wie findet man die richtigen Worte, wenn man mit Kindern über Tod und Sterben sprechen will? Kathrin Senger gibt für unsere Reihe #Requiem Einblicke in die Trauerbegleitung von Kindern – mithilfe von Märchen.

Mit Kindern über den Tod zu sprechen ist für viele Erwachsene eine ganz besondere Herausforderung. Viele scheuen sich davor, Kinder in Trauer- und Todessituationen miteinzubeziehen, schließlich verdrängen wir als Erwachsene selbst gern sämtliche Themen rum um Tod und Sterben. Der Tod macht Angst. Er wird oft an den Rand gedrängt, ja regelrecht tabuisiert. Die Erzählkünstlerin und selbstständige Märchenerzählerin Jana Raile attestiert nicht nur dem Tod den Umhang des Tabus, sondern auch dem Märchen und stellt damit eine erste Gemeinsamkeit her. Sie beschreibt das Märchen als eine Art Brücke, wenn es darum geht, über das unaussprechlich scheinende Thema Tod ins Gespräch zu kommen:

Das Unaussprechliche erfahrbar und kommunizierbar zu machen, ist die geheimnisvolle Kraft der Märchen […]. Themen und Personal der Märchen geben vielfältige Anknüpfungspunkte für Gespräche. Wie ein Kind einer Puppe freimütig von Sorgen erzählt, die es dem Erwachsenen nicht direkt anvertrauen würde, so können wir in der Metasprache der Märchensymbolik viel leichter über die Fragen sprechen, die uns seelisch so tief erschüttern. Märchen diktieren keine Wahrheiten, sie sind vielmehr wie ein Kristall, der je nach Lichteinfall anders schimmert. Auf ein und dasselbe Märchen kann jeder seine ganz eigene Aussage projizieren. Bleibt der Betreuende dabei neutral, öffnen sich dem Betreuten Türen zu Herz und Seele, die er oft schon lange verrammelt hat.1

Mehr als nur Grimms Märchen

Damit scheinen Märchen sich nicht nur für Gesprächssituationen mit Erwachsenen, sondern vor allem auch mit Kindern zu eignen. Nun sind Märchen als Kinderunterhaltung aber nicht unumstritten. Wer sich dies einmal leibhaft vor Augen führen möchte, dem sei empfohlen, auf Amazon ein Exemplar von „Grimms Märchen“ aufzurufen und sich die entsprechenden Rezensionen durchzulesen. Lauter entsetzte Eltern, die offenbar nicht wussten, dass Schneewittchens Stiefmutter erst die Eingeweide ihrer Stieftochter essen will und schließlich bei deren Hochzeit in glühenden Schuhen in den eigenen Tod tanzen muss oder Aschenputtels Stiefschwestern die Füße abgehackt bekommen, damit die viel zu kleinen Schuhe passen. Grausamkeit wohin mal blickt. Keine ideale Voraussetzung für eine sensible Trauerbegleitung.

Unter den über 200 Erzählungen der „Kinder- und Hausmärchen“ sind aber nicht alle Märchen gleich grausam. Entscheidend ist die Auswahl des Märchens, das Alter des Kindes und manchmal auch die Illustrationen des Märchenbuchs. Wer Grimm immer noch nicht verwenden möchte, dem sei gesagt, dass die Welt der Märchen und Sagen auch andere Sammler*innen und Autor*innen kennt. „Die wunderbarste Kinderbuchautorin aller Zeiten“2  – Astrid Lindgren – hat Märchen geschrieben, die im Gegensatz zu vielen anderen ihrer Werke eine nicht ganz so große Bekanntheit genießen. Gesammelt sind 15 von ihnen in dem Buch Astrid Lindgren: „Märchen“, das 1989 auf Deutsch im Oetinger Verlag erschienen ist. Krankheit, Sterben und Tod sind dabei immer wiederkehrende Motive, auch und gerade bei Kindern.

Die Pforte zu Sonnenau steht immer offen

Im Märchen Sonnenau leben die Geschwister Anna und Matthias beim kaltherzigen Myrabauern, nachdem die eigenen Eltern verstorben sind. Anstatt zu spielen, müssen sie dort harte Arbeit verrichten und leiden Hunger. Anna und Matthias leiden sehr unter diesem lieblosen und tristen Leben. Hoffnungsvoll sehnen die beiden den Winter herbei, wenn sie endlich zur Schule gehen dürfen. Doch auch in der Schule ist es nicht einfach. Matthias bekommt vom Lehrer eins auf die Finger und im Gegensatz zu dem reichhaltigen Pausenbrot der anderen Kinder, haben die beiden nur kalte Kartoffeln dabei. Eines Tages begegnet den beiden auf dem Heimweg von der Schule jedoch ein roter Vogel, der in der schneeweißen Landschaft, die ihn sonst umgibt, besonders hervorsticht.

Anna und Matthias folgen dem Vogel und gelangen so durch eine verborgene Pforte in einen paradiesischen Garten, in dem immerfort die Sonne scheint und die Kirschbäume blühen. Hier sind viele andere Kinder, die den ganzen Tag spielen dürfen und eine Mutter, die die Mutter aller Kinder ist und sich liebevoll um alle kümmert. Die beiden finden heraus, dass dieser Ort Sonnenau heißt, genau wie der Ort, an dem sie früher mit ihren Eltern lebten. Die Pforte zu Sonnenau steht immer offen. Denn wenn sie einmal geschlossen wurde, kann sie nie wieder geöffnet werden. Fortan besuchen Anna und Matthias Sonnenau jeden Tag auf dem Heimweg von der Schule. Doch irgendwann ist der letzte Schultag da und die beiden stehen vor einer schweren Entscheidung. Sie entschließen sich, nie wieder zum Myrahof zurückzukehren:

Hinter ihnen lag der kalte, frostige Wald und erwartete die Winternacht. Anna schaute zurück durch die Pforte in die Finsternis und Kälte und sie schauderte. ‚Warum ist diese Pforte nicht geschlossen?‘, fragte sie. ‚Ach, kleine Anna‘, sagte Matthias, ‚wenn die Pforte geschlossen wird, kann sie nie wieder geöffnet werden. Weißt du das nicht mehr?‘ ‚Doch, gewiss weiß ich das‘, sagte Anna. ‚Nie, nie wieder.‘ Da sahen sie einander an, Matthias und Anna. Sie sahen einander lange an und dann lächelten sie ein bisschen. Und dann machten sie ganz sacht und leise die Pforte zu.3

Steht Sonnenau für eine Ahnung vom Paradies, in das die Geschwister gelangen, wenn sie nicht zurück zum Myrahof kehren, sondern im kalten Winterwald bleiben und erfrieren? Oder handelt sich einfach nur um einen Ort, der die Hoffnung nährt, dass es auch in der größten Grausamkeit Schönes gibt? Jedenfalls bieten die Geschehnisse reichlich Raum für Interpretation, die Todessymbolik wird sehr subtil behandelt, sodass Erwachsene beim Erzählen oder Vorlesen des Märchens auch erst einmal herausfinden können, wie das Kind selbst den Ort Sonnenau interpretiert.

Das Märchen als Ausgangspunkt, um über den Tod zu sprechen

Nimmt man die Interpretation an, dass die Geschwister in Wald sterben, so kann die Pforte als Eingang zum Todesreich verstanden werden: ist die Pforte einmal geschlossen, kann sie nie wieder geöffnet werden. Damit thematisiert Lindgren auf sehr hoffnungsvolle Weise die Irreversibilität des Todes. Der rote Vogel, der die beiden Kinder nach Sonnenau führt, kann dabei als Bote zwischen dem Diesseits und dem Jenseits verstanden werden. Er hebt sich mit seiner roten Farbe von der tristen Farbwelt des Winters ab, symbolisiert Frühling und Lebensfreude, ebenso wie die roten Kleider, die die Geschwister in Sonnenau plötzlich statt ihrer grauen Lumpen tragen. Selbst wenn ein Kind die Todessymbolik in dem Märchen erkennt, so stellt Sonnenau als Reich des Todes einen paradiesischen Ort dar, in dem die Kinder in der Geschichte endlich glücklich sind und von all ihrem Leid befreit werden.

Wo Erwachsene sich sonst schwertun, die rechten Worte zu finden, kann die von Raile angesprochene Metasprache der Märchensymbolik in „Sonnenau“ einen guten Einstieg bieten, mit Kindern über Jenseitsvorstellungen zu sprechen. Erwachsene könnten je nach Alter die Kinder fragen, wie ihnen der Ort Sonnenau gefällt, ob sie denken, dass Sonnenau ein Paradiesgarten sein könnte oder wie sie die Vorstellung finden, dass die Oma jetzt in so einem Garten ist. Das Märchen spricht die Endgültigkeit des Todes in einer Weise an, die auch Kinder (je nach Alter) schon verstehen können und bietet gleichzeitig eine tröstliche Hoffnungsperspektive, die diese Endgültigkeit für alle erträglicher macht.

Hashtag: #Requiem


1Raile, Jana: Trauerbegleitung mit Märchen, S. 14.
2Mayer, Susanne: Einfach Astrid. In: DIE ZEIT, 13/2007.
3Lindgren, Astrid: Märchen, S. 164.

weitere Quellen:
GRIMM, Jacob und Wilhelm: Grimms Märchen. Vollständig nach der Ausgabe von 1812/15. Anaconda Verlag: München 2015.
LINDGREN, Astrid: Märchen. Oetinger Verlag: Hamburg 1989.
MAYER, Susanne: Einfach Astrid. Eine Liebende und eine, die Trauer kennt – Astrid Lindgren im Bild. DIE ZEIT, 22.03.2007, Nr. 13.
RAILE, Jana: Trauerbegleitung mit Märchen. Anleitung und Material für Betroffene und Betreuer. Param Verlag: Ahlersted 2011.

(Beitragsbild @Prokhor Minin)

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kathrin senger

studiert Katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und arbeitet dort als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte.

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