Wie lässt sich Sexualethik heute denken? Martin Höhl hat für y-nachten.de Eberhard Schockenhoffs (unvollendetes) Buch „Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik“ gelesen. Er gibt uns – durchaus kritische – Einblicke in dieses umfangreiche Werk.
Es ist einer dieser klassischen Schockenhoffs: Ein 484 Seiten starkes Werk, das den Anspruch erhebt, ein Themengebiet umfassend zu behandeln. „Die Kunst zu lieben“ setzt – wie die „Ethik des Lebens“ und die „Grundlegung der Ethik“ – Maßstäbe. Und doch bleibt dieses Werk fragmentarisch: Sein plötzlicher Tod hinderte Eberhard Schockenhoff dieses Buch zu vollenden. Der letzte Teil, in dem es um konkrete Fragekomplexe der Sexualethik gehen sollte, konnte leider nicht mehr fertiggestellt werden.
Dennoch ist „Die Kunst zu lieben“ ein beachtliches Zeugnis kritischer Reflexion in sieben Teilen. Schon die Anordnung der einzelnen Abschnitte ist bemerkenswert: Bevor die antiken Wurzeln der Sexualethik freigelegt werden, erläutert Schockenhoff im ersten der drei historischen Teile (13—72) die gesellschaftlichen Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit. An mehreren Stellen thematisiert er hier „die Abschaffung der traditionellen Sexualmoral und ihre Umwandlung in eine konsequente Interaktions- und Verhandlungsmoral gleichberechtigter Partner“ (51). In seinen Ausführungen, die sich durch eine hohe Präzision auszeichnen und allzu lineare Darstellungen hinterfragen, kommt Schockenhoff zum Ergebnis, dass sich die gesellschaftliche Sicht auf Sexualität normalisiert habe, nachdem sie noch in den 1968ern als aufregendes Thema galt. Dieser entspannte und alltägliche – aber private – Umgang stehe in Spannung zu Normierungsversuchen, die das Lehramt unternimmt.
„Im Lebensgefühl der Moderne oder Spätmoderne ist nicht die Betätigung der Sexualität, sondern ihre Einschränkung erklärungsbedürftig.“ (72)
Zeitgeistiges
Der zweite Teil prüft, welche „Hypothek für den Verkündigungsauftrag der Kirche in späteren Zeiten“ (74) sich in der Theologiegeschichte identifizieren lässt. Während Schockenhoff in der Verkündigung Jesu nur wenige Bemerkungen zum Themenkomplex der Sexualethik findet, beschäftigt er sich ausführlich mit der Rezeption antiker philosophischer und medizinischer Vorstellungen durch christliche Autoren. Dabei leitet ihn ein Gedanke, den er mit zahlreichen Quellen belegen kann:
„Was dem Magisterium auf den späteren Entwicklungsstufen der kirchlichen Lehre als vom Heiligen Geist gewirkte Glaubenserkenntnis erschien, verdankte sich in der Anfangszeit, als die kirchliche Sexualmoral entstand, dem Eindringen des damaligen Zeitgeistes in den Raum der Kirche.“ (82)
So zeichnet er minutiös nach, wie Clemens von Alexandrien (ca. 150–215) stoisches Gedankengut und naturwissenschaftliche Erkenntnisse seiner Zeit mit der christlichen Botschaft in Einklang brachte. Auch die Theologie des Augustinus bewertet Schockenhoff kritisch, obwohl er im Detail wertvolle Differenzierungen entdeckt. Besonders eindrücklich ist hier der Abschnitt zu Augustinus‘ Biographie. Schockenhoff versteht es, einen Theologen, Vater und Bischof zu porträtieren, der mit biographischen Brüchen ringt, ohne dabei der Versuchung einer psychologisierenden Ferndiagnostik zu verfallen.
Beseitigt das Glaubenshindernis!
Unter dem Leitwort „Der lange Weg zur Erneuerung“ steht der dritte Teil (159–240), in dessen Mittelpunkt die Gegenüberstellung der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Enzyklika Humanae vitae (1968) steht, die Schockenhoff unmissverständlich als „Schritt zurück“ (200) kennzeichnet und die einen regelrechten „Shitstorm“ (208) ausgelöst habe, da sie hinter die theologischen Weichen des Konzils zurückfalle. Auch die von Johannes Paul II. den Normen später zur Seite gestellten personalistischen Argumentationsmuster könnten die meisten Moraltheolog:innen nicht überzeugen, da sie ein spezifisches Personenverständnis voraussetzten und letztlich einem – zum naturalistischen Fehlschluss analogen – „aktualistische[n] Kurzschluss“ erlägen (223). Erst im Pontifikat Papst Franziskus‘ erkennt Schockenhoff einen „grundlegenden Paradigmenwechsel“ (223). Besonders Amoris laetitia bescheinigt er ein mutiges und selbstkritisches Korrigieren früherer Lehrmeinungen.
Den systematischen Ertrag seiner historischen Überlegungen fasst Schockenhoff mit bemerkenswerter Deutlichkeit zusammen:
„Wenn einzelne Aussagen der kirchlichen Sexualmoral dem Anspruch aller Glaubenslehre, den Menschen näher zu Gott zu führen und ihm das Geheimnis seiner Liebe zu erschließen, nicht mehr genügen können, kann es aus theologischen Gründen nur eine Konsequenz geben: das ärgerliche Glaubenshindernis zu beseitigen, indem man die kirchliche Lehre in diesem Punkt revidiert!“ (237)
Sexualität voller Sinn
Als Auftakt zur zweiten Hälfte des Buches lässt sich der vierte Teil „Bedeutungsdimensionen der menschlichen Sexualität“ (241–313) lesen. Es ist bemerkenswert, dass Schockenhoff die Behandlung der Humanwissenschaften an den Beginn des systematischen Teiles setzt. Sie bilden das Fundament moraltheologischer Urteile. Seine Schlussfolgerung aus den kurzen Darstellungen zu Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften verdient jedoch ein kritisches Innehalten: Schockenhoff postuliert „der menschlichen Sexualität innewohnende[] Sinndimensionen“ (311), aus denen er ethische Normen zu entwickeln versucht. Der Begriff „Sinndimension“ erscheint bei näherer Betrachtung allerdings nicht nur deskriptiv, sondern normativ imprägniert: Menschen schreiben ihrem Erleben von Dingen Sinn zu, dieser kann jedoch nicht mithilfe der Wissenschaften an der Welt abgelesen werden. Insofern bedarf es, um keinen nur komplexeren naturalistischen Fehlschluss zu begehen, zusätzlicher normativer Prämissen.
Chronologisch erst nach den Humanwissenschaften befragt Schockenhoff im kurzen fünften Teil (314–347) die Bibel. Dabei beschäftigt er sich mit den Schöpfungserzählungen und deren Rezeption bei Paulus, widmet aber auch biblischen Zeugnissen seine Aufmerksamkeit, die einen wohlwollenden Blick auf die Sexualität werfen (allen voran das Hohelied). Er verwahrt sich aus einer hermeneutisch reflektierten Perspektive sowohl exegetischer Kurzschlüsse als auch der umgekehrten Gefahr einer „ergebnisbezogene[n] Auslegung“ (327), die er bspw. Isolde Karle vorwirft. Bisweilen verfällt Schockenhoff hier in einen predigtartigen Stil, der mit einer Verringerung der Fußnotenzahl zu korrelieren scheint (bspw. 317f.).
Sexualmoral auf dem Prüfstand
Auf den „Prüfstand“ stellt Schockenhoff die Sexualmoral schließlich im sechsten und letzten vollendeten Teil (348–465). Er nimmt dabei drei Aspekte in den Blick: „Sexualität als Sprache der Liebe“, die „Ehe als verbindliche Lebensform der Liebe“ und die „Familie als Lebensraum der Liebe“. Vieles in diesem Abschnitt ist erwartbar, einiges verdient größere (kritische) Aufmerksamkeit. Aus der Personalität des Gegenübers beim Sex leitet Schockenhoff die anspruchsvolle These ab, dass „das sexuelle Erleben nur innerhalb einer partnerschaftlichen Beziehung ‚gut‘ sein kann“ (351), da die Partner „einander in ihrem ganzheitlichen Sein zugewandt sein sollen.“ (353) Diese Formulierung erinnert an die personalistische Argumentationsweise Johannes Pauls II., die Schockenhoff selbst ja u.a. wegen ihrer Idealisierungen kritisiert.
Es scheint zumindest diskutabel, ob eine Anerkennung der:s Sexualpartnerin:s notwendig eine dauerhafte und exklusive Beziehung zu dieser Person voraussetzt. Sicher sind weniger normierte bzw. reflektierte Konstellationen anfälliger für Verletzungen und Enttäuschungen. Doch sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass unter den Bedingungen einer reiflichen Gewissensbildung, einer ehrlichen Kommunikationssituation und dem Respekt für die Bedürfnisse des Gegenübers auch nichteheliche Beziehungs- und Sexualpraktiken ethisch legitim sein können. Schockenhoff ist sich nämlich durchaus bewusst, dass auch in partnerschaftlichen Beziehungen die Gefahr besteht, dass die Lust „in egoistischer Weise zur ausschließlichen Befriedigung der eigenen Triebbedürfnisse eingesetzt“ (355) wird. Dies gilt jedoch für eheliche wie außereheliche Beziehungen gleichermaßen. Insofern ist die inhaltliche Forderung nach einer nichtegoistischen Sexualität aus meiner Sicht wesentlich bedeutsamer als die formale Frage nach dem Normierungsgrad der Beziehung.
Unabhängig, abwägend und streitbar
„Die Kunst zu lieben“ ist das Vermächtnis eines großen Theologen. Die Stärken dieses letzten opus magnum von Eberhard Schockenhoff liegen besonders in der aufmerksamen und abwägenden Sammlung und Behandlung des umfangreichen Quellenmaterials. Wer sich für die geschichtliche Entwicklung der christlichen Sexualethik und solide theologische Grunddaten zum Verhältnis von Sexualität, Ehe und Familie interessiert, findet hier eine (im deutschsprachigen Raum) herausragende Referenz, die sich weder eindeutig einem kirchenpolitischen noch sonst einem „Lager“ zuordnen lässt. Auch wenn sich einzelne systematische Punkte letztlich als nicht überzeugend erweisen, zeigt „Die Kunst zu lieben“ dennoch auf eindrückliche Weise, wie wissenschaftliche Theologie sein muss: Unabhängig, abwägend und streitbar.
Hashtag der Woche: #kunstzulieben
(Beitragsbild: Amin Hasani auf Unsplash)