Marlene Deibl teilt in diesem Beitrag eine ihrer Lektionen aus vier Jahren Theologie und katholische Kirche. Dabei hält sie in Bezug auf ihr endendes Promotionsstudium fest, wie es sich anfühlt, politisch sein zu müssen.

Unfreiwilliger Expertinnenstatus

Neulich wurde ich mal wieder als Expertin für Geschlechterfragen angefragt. Ein geschätzter Kollege wollte, dass ich geschlechterphilosophische Themen in seinem Seminar einbringe. Das ehrt mich. ABER. Ich forsche zu fundamentaltheologischen Methodenfragen. Von dort ist es ein eher weiter Weg zu Wendy Brown und Judith Butler. Ich lehnte ab. Die Situation war aber nicht neu. Ähnliches hat sich schon öfter zugetragen.

Mein Wissen um Geschlechtertheorien beschränkt sich auf all das, was ich mir im Rahmen eines Philosophiestudiums und durch oberflächliche private Lektüre aneignen konnte. Das ist nicht wenig, aber ich wurde leider den Verdacht nicht los, dass meine eigentliche Lehrqualifikation in diesem Fall eher einer bestimmten Wahrnehmung meiner Person entsprang als meinen akademischen Leistungen.

Ja sicher, gelegentlich stelle ich in Diskussionen gender-bezogene Fragen, aber das betrifft doch intersektional den Stand der Wissenschaft. Und wenn ich spreche oder schreibe, bemühe ich mich um möglichst inklusive Sprache. Das tun Kollegen auch. Die werden aber weniger oft mit gender-Theorie in Verbindung gebracht. Wie komme ich zu meinem unfreiwilligen Expertinnenstatus?1

Oma und die Demokratie

Nachforschungen ergaben Überraschendes: Schuld sind Oma und die Demokratie.

In die Bredouille gebracht hat mich meine recht konservative, traditionsbewusste und äußerst katholische Großmutter (möge ihre Seele froh sein!). Sie hat mich gelehrt, anderen Menschen mit grundlegendem Respekt und aufmerksamer Höflichkeit zu begegnen. Diesen Respekt versuche ich seither zu leben (wie alle noblen Vorhaben klappt das mal besser und dann mal wieder gar nicht).

Manieren und Etikette sind bekanntlich im Wandel. Ich weiß das, ich besitze eine kleine Sammlung ausgewählter Handbücher zum Thema aus der Zeit von 1880 bis heute. Heute, würde ich einmal sagen, haben sich die Etiketteregeln im Vergleich zu den 1950ern auch nicht stärker verändert als davor. Im Gegensatz zu den 1950ern kann man*frau erkennen: Es ist heute in vielen Kreisen noch schön, wenn man*frau zwischen kurzem und langem Abendkleid unterscheiden kann, aber überall sonst haben wir als Durchschnittsbürger*innen schon weniger Kopfzerbrechen um die richtige Tisch-  und Kleiderordnung. Dafür gibt’s halt ein paar andere Regeln zu beachten, die auch nicht so schwer sind, für die wir weder Jesus noch Immanuel Kant brauchen, auch wenn beide sicher helfen. Zum Beispiel ist es nicht schwierig, Menschen so ansprechen, wie sie gerne angesprochen werden wollen.

Höflichkeit. Mehr braucht es nicht.

Okay, worauf will ich hinaus? Einmal ganz abgesehen davon, dass ich studiert hab‘ und gelegentlich Zeitung lese, gebildet und geduldig genug bin, die werkimmanente Entwicklung von Judith Butlers gender-Begriff mit Rücksicht auf ihre Promotion über Hegel zu erläutern, wenn man mich fragt (bisher vorgekommen ist das genau einmal), von dieser Kompetenz, die nur eine meiner zahlreichen Fähigkeiten ist, einmal abgesehen davon, werde ich als Ansprechperson für gender-Themen gesehen weil ich

  1. eine junge Frau bin …
  2. ein paar Manieren pflege, unter anderem die Absicht, aus Höflichkeit so viele Menschen in meinem Sprechen zu berücksichtigen, wie möglich ist, und wenn dann aus „Lieber Leser“ eben „Liebe Leser*innen“ werden, so hat das für mich nichts mit Ideologie zu tun, wenig mit Theorie und alles mit die Scharniere sozialen Miteinanders ölender, grundlegender, hundsnormaler und ganz einfach zu übender Höflichkeit.

Höflichkeit. Mehr braucht es nicht. Die Wurzel der Höflichkeit ist Respekt und der lässt sich christlich ganz leicht biblisch ableiten. Wir sind alle gleich vor Gott, entsprechend, liebe Gläubige: Bitte auch in gleicher Würde miteinander umgehen.

Und das heißt: Aufeinander zu hören und manchmal etwas zu tun, was für mich einen minimalen Aufwand bedeutet, für jemand anders aber eine wesentliche Erleichterung ist. Natürlich ist es ein bisschen anstrengend, einen * zu machen. Natürlich wäre ich schneller, wenn ich dem Herrn mit dem Kinderwagen die Tür vor der Nase zufallen lasse. Natürlich muss ich den Namen meiner Zahnärztin nicht aussprechen können. Aber der kleinste Aufwand hier rechnet sich im Großen.

Ob ich selber manche Aspekte des Genderns vielleicht überfordernd, kritikwürdig oder hingegen unhinterfragt gut halte –  das hat nichts damit zu tun, dass ich erst einmal anderen so begegne, wie ich begründet annehmen kann, dass es den maximalen Respekt vor ihnen abbildet. Gleiches gilt für andere Kulturen, andere politische Einstellungen und die Anhänger*innen gegnerischer Sportklubs. Wenn das einmal geschafft ist, dann können wir über alles reden, liebe Leser*innen, ganz in Ruhe und mit viel Wein oder Kaffee oder mit viel Wasser auf einer Podiumsdiskussion. Höflichkeit öffnet einen Raum und in dem lässt es sich auf Augenhöhe miteinander umgehen.

Weibliche Existenz als Politikum

An dieser Stelle sei auch daran erinnert, warum gerade in den 1950er Jahren die Manierenliteratur einen besonderen Aufschwung erhielt: Sie war Teil einer aus heutiger Sicht in vielen Einzelheiten problematischen, aber doch bis heute positiv wirksamen Anstrengung, menschlichen Umgang im Kleinen so zu gestalten, dass die neu gegründeten oder sich von starken Erschütterungen erholenden Demokratien der Nachkriegszeit auch im Großen funktionierten. Höflichkeit ist in dieser Iteration eine demokratische Tugend.

Realiter sieht der Umgang miteinander aber oft anders aus und das ist kein privates Leiden und keine teetischdamenhafte Manierenklage. Ich persönlich kann schon damit umgehen, dass ich bisweilen in meinen Kompetenzen falsch eingeschätzt, oder in einer für mich befremdlichen Weise tituliert werde. Aber ich habe politische Sorgen darob.

Es gibt dort ein politisches Problem, wo ich in meiner Existenz als politisch betrachtet werde, ohne dass ich mir das aussuchen kann. Denn es wäre der Grundkonsens einer einigermaßen gerechten Gesellschaft, dass sich alle erst einmal auf Augenhöhe und als Gleiche begegnen, bevor sie über ihre individuellen Sorgen, ihre mit ihrem Anderssein verbundenen Probleme sprechen. Das gilt für eine ganze, demokratisch verfasste Nation, für eine Familie und für Freundschaften. Überall da kann mich erst dann politisch oder sonstwie artikulieren, wenn nicht schon meine Existenz als Politikum erscheint.

Gleiches gilt für die Wissenschaft: Wenn Wahrnehmungen meiner biologischen Existenz mich zur Expertin für etwas machen, ohne dass ich dies intendiere, dann gibt es ein Problem. Wenn es umgekehrt kein Geld für Frauenforschung und zu wenig Betreuungsplätze für die Kinder von Wissenschaftler*innen gibt, dann ist das auch ein Problem. Das löst sich aber nicht, indem nur Frauen zu entsprechenden Themen in Stellung gebracht werden.

Die Grundidee wäre, dass man*frau sich aussuchen kann, was vom Eigenen in der politischen Arena diskutiert wird. Natürlich, und das ist ebenfalls hart erkämpft, muss ich umgekehrt auch alles, was ich als mich oder andere, die nicht für sich selbst sprechen können, betreffende Ungerechtigkeit empfinde, hier auch deponieren können.

Nicht länger draußen warten

Das gilt im Übrigen insbesondere für die Kirche. Niemand, der*die anderen auf Augenhöhe begegnen möchte, möchte hören, er*sie habe halt einen „besonderen Genius“ und müsse leider draußen warten. Nein, nein, lasst uns bitte reden. Auf Augenhöhe. Im Kern wäre das wohl auch die Forderung aller Lai*innen und sonst Draußenstehengelassenen der Katholischen Kirche. Sie wollen nota bene ja nicht die Kirche spalten, sondern ganz einfach dazugehören und sie wollen mit Respekt behandelt werden. Sie freuen sich auch immer, wenn ein Priester oder Papst von und mit ihnen spricht. Nur bitte: Mit dem Respekt von heute, nicht mit dem Respekt von 1900.

Es wäre sehr einfach. Es geht hier, religiös gesprochen, nicht um Barmherzigkeit. Es geht hier, politisch gesprochen, nicht um Repräsentation. Nicht zunächst. Zuallererst geht es hier um ganz profane, ganz demokratische und gleichzeitig sehr religiöse und oft als konservativ bezeichnete Tugenden wie gegenseitige Rücksichtnahme. Dann wäre es auch vorbei mit vielen Unsicherheiten und vielen Streitpunkten.

Einfach mal nachfragen, wie jemand angesprochen werden will. Einfach mal nachfragen, wenn ich etwas nicht verstehe. Es ist wirklich ganz einfach. Danke, liebe Oma!

Hashtag: #kindnessmatters


(Beitragsbild: @randalynhill)

1 Das im Folgenden Beschriebene ist übrigens keine rein auf *Frauen (oder auf mich) beschränkte Anekdote, sondern eine weitverbreitete Erfahrung von Angehörigen verschiedener, als in ihren Erfahrungen nicht „selbstverständlich“ (wir wissen schon, was hier selbstverständlich wäre) wahrgenommener Menschen: People of color, Migrannt*innen, LGBTQ*-Personen, Menschen mit Behinderungen und andere mehr werden in vielen Kontexten zu unfreiwilligen Repräsentant*innen äußerst heterogener Gruppen gemacht. Die Kehrseite des Phänomens, nämlich, dass gerade *Frauen oft darunter leiden, dass ihnen außerhalb ihrer geschlechtsspezifischen Expertise wenig Fachwissen unterstellt wird, existiert übrigens ebenfalls und wird heute meist mit dem Begriff mansplaining umschrieben.

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marlene deibl

arbeitet als Prae-doc-Assistentin am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie studierte in Wien und Tübingen Philosophie und Südasienkunde, kann schneller sprechen als denken, schießt aber wesentlich langsamer als ihr Schatten. Ihre weiteren Interessensgebiete sind Wissenschaftstheorie, Parfümgeschichte und Bier.

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