„Vom Vorrang der Liebe“ handelt das neu erschienene Buch von Christof Breitsameter und Stephan Goertz. Katharina Mairinger gibt mit ihrem Beitrag bei Booked einen Überblick über das Werk und fragt nach den praktischen Konsequenzen für die katholische Sexualmoral des 21. Jahrhunderts.

Eine neue Sexualmoral muss her! Da sind sich die Verfasser des eben erschienenen Buches „Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral“1 Christof Breitsameter und Stephan Goertz einig und argumentieren dafür auf 175 Seiten in klarer Sprache und mit kritischer Stimme.

Von Augustinus zu Kant und zum Vorrang der Liebe

Der inhaltliche Aufbau und die argumentative Struktur werden in drei Teile gefasst. Der erste Teil Konturen der traditionellen Sexualmoral (vgl. 15-67) verdeutlicht entlang des Eheverständnisses, kultischer und ethischer Reinheitsvorstellungen, der Bewertung sexueller Lust und normativen Vorstellungen menschlicher Natur die traditionellen Auffassungen der katholischen Sexualmoral. Der zweite Teil erläutert hieraus die resultierenden Normen (vgl. 71-110) einer katholischen Sexualmoral für sexuelle Akte innerhalb und außerhalb der Ehe, die Empfängnisverhütung und die Bewertung von und den Umgang mit Homosexualität. Als dritter Teil folgen Neue Fundierungen (vgl. 111-147) einer katholischen Sexualmoral: auf der einen Seite in der Kantischen Tradition eines auf der Autonomie des Menschen basierenden Würdeverständnisses, auf der anderen Seite in einer nach dem Vorrang der Liebe abgeleiteten Verständnis von partnerschaftlichen Beziehungen.

Tradition ist kein Argument

Insgesamt kennzeichnet die Darstellung eine fundierte Kenntnis der historischen Vorbedingungen für die Entwicklung der katholischen Sexualmoral und zeigt ergänzend zu oftmals linear präsentierten Entwicklungsverläufen auch alternative Traditionsstränge und kritische Gegenstimmen auf. Diese Vorgehensweise stützt die Absicht, die notwendige Trennlinie zwischen traditionsgesättigten naturrechtlichen und gegenwärtig drängenden ethischen Argumenten zu ziehen. Aussagen wie

„Das, was wir traditionell als Sexualmoral bezeichnen, gibt es in weiten Teilen unserer Welt schon seit langer Zeit nicht mehr“ (81)

durchziehen das Buch. Damit markieren die Autoren bezüglich der Sexualmoral eine Trennung zur traditionsverteidigenden Argumentation des katholischen Lehramts. Für eine ethische Beurteilung sei eine solche Vorgehensweise längst nicht mehr wissenschaftlich vertretbar, da die Kontinuität eines Arguments dessen Gültigkeit in keiner Weise rechtfertigen kann. So sei etwa die bis heute kontinuierliche moralische Verurteilung der Empfängnisverhütung durch das katholische Lehramt

„eine historisch zwar vielleicht zutreffende, aber geltungstheoretisch wenig ertragreiche Aussage.“ (85)

Immer wieder fließen deshalb auch kulturwissenschaftliche und historische Erkenntnisse ein, die den Wandel bestimmter Deutungskategorien mitbedingen. Die Erläuterung kirchenlehramtlicher Positionen erhält damit eine notwendige Kontextualisierung, welche die Entstehungszusammenhänge nicht allein narrativ von der Tradition her zu begründen sucht. Einschließlich der interdisziplinaren Aufarbeitung wird so der Grundstein für einen Neuansatz gelegt, der sich nicht länger an der Kontingenz tradierter Inhalte stößt, sondern sie als Anhaltspunkt für ethische Argumentation nutzt. Auf Basis dieser wissenschaftstheoretischen Grundlegung überzeugt die angezielte Neufundierung der katholischen Sexualmoral an den Prinzipien der Autonomie und Menschenwürde sowie der Liebe als Derivationsgrund für die ethische Beurteilung damit zusammenhängender Lebensentwürfe. Wenngleich die historische Aufarbeitung und die daran anschließende Analyse traditioneller Deutungsmuster vom Umfang her deutlich überwiegen, strömen bereits hier kontinuierlich Gedanken einer möglichen alternativen Herangehensweise an die Sexualmoral ein.

Wen es anspricht und was noch fehlt

Da die Einleitung dieses Werkes keine spezifische Zielgruppe nennt, ist zu überlegen, welcher Leser*innenschaft dieses Werk anzuempfehlen ist. Sowohl Theolog*innen als auch Theologieinteressierte finden hier eine gut strukturierte Zusammenfassung der im Lauf der Geschichte der katholischen Sexualmoral wichtigsten Streitpunkte. Die Differenziertheit der Argumentation geht dabei nicht auf Kosten der Verständlichkeit, sondern verbindet die wissenschaftliche Darstellung mit einem ansprechenden Leseerlebnis. Zusätzlich erweisen sich gerade die beiden abschließenden Kapitel für Personen als anregend, die moralisierender Anweisungen überdrüssig sind und Freude daran haben, ihre ethische Entscheidungsfindung autonom zu gestalten. Auf keine praktischen Handlungsorientierungen verwiesen zu werden, wird in jedem Fall auch herausfordernd sein, besonders wenn gerade die aktuellsten und heikelsten Fragen unthematisiert geblieben sind.

Das betrifft beispielsweise die Frage, wie sich die Institution Kirche der Sexualität ihrer Priester durch das Zölibat bemächtigt hat und welche Auswirkungen diese Missachtung individueller Selbstbestimmung im intimsten Bereich menschlichen Lebens mit sich bringt. Dieser Themenbereich wird nur beiläufig angedeutet (vgl. 123). Aber auch die Frage nach der Anerkennung geschlechtlicher Identitäten jenseits von heteronormativer Binarität, wie sie bei Transidentität, Intergeschlechtlichkeit und insgesamt im Gender-Diskurs auftreten, wird nicht aufgeworfen.

Einen neuen Anfang wagen

Bisweilen entsteht der Eindruck, die theologische Ethik müsse sich erst von der historischen Erblast katholischer Sexualmoral befreien, um überzeugend von der Freiheit reden und in der Praxis wirksam werden zu können. Die wiederholende Bezugnahme auf die augustinischen Ursprünge einer leibentfremdeten Sexualmoral dient offenbar der Rechtfertigung eines autonomen Ansatzes der Moral, welcher noch immer kirchlich wie theologisch massiven Widerstand erfährt. Eine systematisch breitere Entfaltung des Vorrangs der Liebe und Autonomie in der katholischen Moraltheologie bzw. theologischen Ethik steht also noch aus. Gleichwohl lassen sich in der von Breitsameter und Goertz angedeuteten Systematik vielversprechende Anknüpfungspunkte für eine neue Sexualmoral finden, die eine präferable Alternative zu naturrechtlichen oder lediglich aktzentrierten Ansätzen bieten. Welche fruchtbaren Gestaltungsmöglichkeiten hätten sich wohl ergeben, wenn nicht die traditionelle, sondern die neue Sexualmoral den Anfang und Ausgangspunkt des Buches gebildet hätten? Es wäre nicht verkehrt, die praktischen Konsequenzen gleich auch in der Wissenschaft selbst zu ziehen. Dem Einleitungssatz „Warum haben wir nicht den Mut, ganz neu anzusetzen und solche Überlegungen den tradierten Disputen auszusetzen?“ (11) ist daher in jedem Fall bestärkend zustimmen. Vielleicht ein guter Vorsatz für das neue Jahr?

Hashtag: #neuesexualmoral


(Beitragsbild: @anniespratt)

Der Redaktion wurde von Seiten des Verlags ein Exemplar des Buches zur Rezension zur Verfügung gestellt.

1Breitsameter, Christof / Goertz, Stephan: Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral. Freiburg i. B.: Herder 2020.

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katharina mairinger-immisch

studierte deutsche und französische Philologie sowie katholische Theologie in Wien und war eineinhalb Jahre als Gymnasiallehrerin in Oberösterreich tätig. Von 2018-2021 war sie Prae-doc-Assistentin und Doktorandin am Fachbereich Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, wo sie zum Thema Intergeschlechtlichkeit promoviert. Seit September 2021 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin in Baden-Württemberg. Seit 2020 ist sie Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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