Mit Blick auf Ideologie und Praxis von Rechtsevangelikalen in den USA hat die Journalistin Annika Brockschmidt kürzlich vor der Vorstellung gewarnt, „dass man ihnen gegenüber mit Bibelexegese argumentieren kann.“ Denn, so Brockschmidt, es gehe ihnen um „Identität und Kultur“, und das lasse sich „mit theologischen Argumenten nicht erschüttern.“ Jan Niklas Collet denkt in diesem Artikel darüber nach, ob man die Theologie also getrost in die Ecke stellen kann – interessant, aber nutzlos?
Am 28. August 2020 veröffentlichte die Gruppe „Christen in der AfD“ (ChrAfD) unter dem Titel „Gebet für Deutschland“ via facebook einen Text, an dem sich aufzeigen lässt, wozu es in der Auseinandersetzung mit neurechtem Christentum einer vertieften theologischen Auseinandersetzung bedarf, was diese leisten kann und was nicht. In dem Text heißt es etwa:
Wir möchten und brauchen die Hilfe Gottes für unser Land. Im Geist holen wir die christlichen Werte zurück in unsere Gesellschaft. Wir lehnen jede Unmoral und jeden falschen Gott ab.
Allein diese drei Sätze enthalten sowohl einen Versuch, gesellschaftliche Probleme zu erklären, als auch eine Vorstellung davon, wodurch ihnen begegnet werden soll. Impliziert wird, dass die Abwesenheit „christlicher Werte“ mit der gewünschten und als notwendig erachteten „Hilfe Gottes für unser Land“ zusammenhängt. Einerseits werden gesellschaftliche Probleme damit in einen direkten Zusammenhang mit göttlichen Interventionen gebracht, andererseits sind diese Interventionen über einen Tun-Ergehen-Zusammenhang vermittelt. Wenn die christlichen Werte wieder in die Gesellschaft zurückkehren, dann wird Gott auch wieder eingreifen und die Dinge zum Guten wenden. Darüber hinaus wird nun die Abwesenheit der christlichen Werte ethisch und theologisch als „Unmoral“ und Anbetung falscher Götter qualifiziert. Das wird verbunden mit dem eigenen Bekenntnis zum ‚wahren Gott‘: „Im Namen Jesus [sic] werden wir unser Land nicht dem Feind preisgeben!“
Zu den Wurzeln dieser Argumentation
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet das Motiv des Götzendienstes in dieser Weise herangezogen wird. Vielmehr stehen die ChrAfD damit in einer langen Tradition. Wie Enrique Dussel gezeigt hat, kam dem Motiv bereits 1550, im Zusammenhang des Disputs von Valladolid zwischen Bartolomé de Las Casas und Ginés de Sepulveda, eine wichtige Rolle zu.¹ Ginés verteidigte die Legitimität der spanischen Kolonialherrschaft in Lateinamerika angesichts der „Unzivilisiertheit“ der Indígenas als „gerechten Krieg“ (vgl. 40-44). Der Götzendienst hat dabei für ihn eine mediale Funktion: die Unzivilisiertheit kommt in der Anbetung der „falschen Götter“ zum Ausdruck. Las Casas Gegenargument setzt genau hier an:
Da sie darauf beharren […], dass sie, wenn sie ihre Götzen anbeten, zum wahren Gott beten […], sage ich trotz des Aberglaubens, der ihnen ein falsches Bewusstsein gibt: Solange ihnen der wahre Gott nicht mit besseren, glaubhafteren und überzeugenderen Argumenten und vor allem mit Vorbildern christlichen Verhaltens gepredigt wird, sind sie zweifellos gezwungen, die Kulte ihrer Götter und ihrer Religion zu verteidigen und mit den Streitkräften gegen all jene auszuziehen, die versuchen, sie dieses Kultes zu berauben. (60)
Auch einem irrigen Gewissen ist Folge zu leisten. Konversion darf daher nicht mit Gewalt erzwungen werden. Allein auf der Basis freier Anerkennung, vermittels überzeugender Argumente und angesichts moralischer Integrität, kann sie sich ereignen. Darum ist nicht nur die Kolonialherrschaft illegitim, sondern der bewaffnete Widerstand der Kolonisierten legitim.
Geburt der europäischen Moderne und ihres Gegendiskurses
Dussel verortet in diesen Auseinandersetzungen nun – auf Wegen, die ich hier nicht im Einzelnen nachzeichnen kann – die Geburt der europäischen Moderne. Entscheidend ist dabei, dass sich Las Casas‘ eigentlich überlegene Argumentation dabei bekanntlich nicht durchgesetzt hat. Gegenüber der de facto wirkmächtigeren Argumentation Ginés‘ stellt Las Casas‘ Verteidigung der Rechte der Indígenas aber, so Dussel, immerhin den „ersten Gegendiskurs der Moderne“ (64) dar. Anders gesagt: in der Geburtsstunde der europäischen Moderne stehen Ginés und Las Casas für zwei mögliche Wege, die der christliche Glaube in der Moderne nehmen kann. Beide knüpfen dabei an klassische Motive und Traditionen christlichen Glaubens – wie die Götzenkritik – an. Aber die Art und Weise, in der diese unter modernen Bedingungen theologisch durchgearbeitet werden, ergibt sich nicht per se aus den Motiven selbst. Sie ist vielmehr zutiefst umstritten und den Motiven gegenüber relativ unabhängig.
Hinsichtlich des „Gebets für Deutschland“ erlauben es die Überlegungen nun, das in diesem sich manifestierende neurechte Christentum weder als ausschließlich christliches, noch als ausschließlich modernes Phänomen zu verstehen. Das „Gebet für Deutschland“ erscheint als theologischer Text, d. h. als ein Text, der gesellschaftliche Verhältnisse theologisch zu deuten beansprucht. Er steht in der Tradition eines möglichen Weges des Christentums in der Moderne. Die in ihm vorgetragene Interpretation des Christentums hat also weder nichts mit diesem selbst zu tun, noch muss der christliche Glaube in der Moderne notwendigerweise diesen Weg nehmen.
Die Pat*innenschaft Las Casas: wozu braucht es und was kann die Theologie?
Das ist der Grund, weshalb sich die theologische Reflexion angesichts neurechten Christentums keinesfalls erübrigt. Denn sie ist erstens in besonderer Weise in der Lage, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen (u. a. theologisch legitimiertem) Kolonialrassismus und neurechtem Christentum zu verstehen. Sie ist zweitens in der Lage, die dabei vorgetragene Theologie und ihr erkenntnisleitendes Interesse zu dekonstruieren. Drittens vermag sie alternative Wege der Interpretation zentraler Motive der Schrift und der christlichen Tradition in der Moderne aufzuzeigen. Las Casas mag dafür Pate stehen.
Allerdings – auch dies zeigt der Disput von Valladolid – folgt aus einer überlegenen Argumentation keineswegs ihre historische Prädominanz. Wesentlich ist das Verhältnis von theoretischer Theologie und theologischer Praxis. D. h., die theologische Beschäftigung mit neurechtem Christentum ist wichtig, um ihm in der kritischen Praxis effektiv etwas entgegenzusetzen. Brockschmidt hat daher Recht, dass sich die drei herausgearbeiteten Funktionen der Theologie – verstehen, dekonstruieren, interpretieren – nicht in erster Linie auf rechtsextreme Christ:innen beziehen können, die sich in der Regel wohl tatsächlich auch von der brillantesten Theologie kaum beeindrucken lassen dürften. Für diejenigen Christ:innen aber, die in kritischer kirchlicher Praxis weiterhin um den Weg des Christentums in der Moderne streiten – manchmal eine Frage von Leben und Tod!² –, ist der Beitrag der Theologie in diesem Sinne von grundlegender Bedeutung.
Hashtag der Woche: #noafd
(Beitragsbild: @sammisreachers)
1 Vgl. Enrique Dussel (2013), Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Aus dem Spanischen von Christoph Dittrich, Wien, 40-44. 50-65. Im Folgenden mit Seitenzahl in Klammern im Text zitiert.
2 Der rechtsterroristische norwegische Attentäter Anders Breivik führte in seinem „Manifest“ und einem wenige Stunden vor Tat veröffentlichten Video auch seine gewaltverherrlichende Interpretation des Christentums als Legitimation und Motivation seiner Taten an.