30 Jahre Wiedervereinigung! Dieses Jahr birgt viel Diskussionsstoff über Gewinne und unabgegoltenes Potential der deutschen Einheit – auch in der Theologie. Philomena Schnarrer hat in Frankfurt und Dresden Theologie studiert. Sie findet, dass in der ostdeutschen Theologie Pionierarbeit geleistet wird.
Eigentlich wollte ich immer von zu Hause, und das meint in diesem Fall das östliche Sachsen, weg. Schon während der Schulzeit hätte ich am liebsten die Welt bereist, wenn die nötigen Finanzen da gewesen wären. Alles außerhalb des mir Bekannten schien mir aufregend und unbedingt erforschenswert. Diese Möglichkeit hätte ich in der Theorie auch gehabt, war doch die DDR und ihr Korsett aus Grenzen jeder Art bereits fünf Jahre vor meiner Geburt offiziell nicht mehr existent. Daher habe ich eigentlich kein Recht über diese Zeit zu schreiben, daher darf ich eigentlich nur mit stummen „Oh!“ und „Ah!“ dem zuhören, was mir Eltern und Großeltern berichten können. Und dennoch tue ich es, ich schreibe, denn ich habe das getan, was Generationen vor mir gern getan hätten: Ich bin in den Westen Deutschlands gezogen.
Von Sachsen nach Frankfurt
2013, kurz nach dem Abitur, zog ich aus dem heimischen Elternhaus aus. Frankfurt am Main war das Ziel meiner Umzugskartons und sollte für drei Jahre mein Wohnort bleiben. Nicht anders als andere Student*innen wollte ich mich neu erfinden und verändern, kurzum: mich neu definieren. Da ich begann katholische Theologie zu studieren, um später an Gymnasien unterrichten zu können, ließ ich wohl doch nicht alles hinter mir, denn ich erfuhr in Kindheit und Jugend eine gut-katholische Erziehung und lebte ganz im Dunstkreis der kirchlichen Jugendgruppe. Trotzdem war der Wille da, mich selbst neu zu formen.
Doch niemals entwickelt sich ein Mensch frei vom Einfluss seiner Umwelt und meine neue Umwelt war zu diesem Zeitpunkt ein Pool verschiedener, vor allem junger Menschen, die zwar allesamt Auslandserfahrungen zu sammeln begonnen hatten, nie jedoch in den „neuen Bundesländern“ gewesen sind, geschweige denn von dort stammten. So war ich gewissermaßen der rare „Ossi“, der für alle Kommunisten- und Südfrüchte-Witze herhalten musste und ab und an wegen seiner Aussprache korrigiert wurde. Nie waren die Späße derart, dass es offensichtlich beleidigend sein könnte, doch immer so gestrickt, dass eine latent abwertende Meinung zu Tage trat. Nur sind es heute nicht mehr unbedingt SED und Montagsgebet, die Schlagzeilen machen, sondern insbesondere AfD und ganz andere berüchtigte Veranstaltungen am Montagabend in Dresden. Dass diese Generalisierung von Eindimensionalität nur so strotzt, muss ich nicht erwähnen und trotzdem gelangen immer – in meiner Frankfurt-Zeit – die gleichen Eindrücke in die Medien. Ich begann, meine Heimat zu verteidigen und mich gleichzeitig für brennende Asyl-Unterkünfte zu schämen.
Am Fachbereich der Katholischen Theologie in Hessen machte ich teilweise auch jene transformierenden Erfahrungen, wie ich sie mir gewünscht hatte. Zwar wurden nicht alle Disziplinen der Theologie einzeln angeboten, aber doch eine gute Bandbreite von ihnen. Als eine Studentin unter vielen fiel ich nicht weiter auf, weder aufgrund kluger Fragen noch wegen herausragender Leistungen, die ich allerdings auch nicht anstrebte, denn niemand der Dozierenden, die zu dieser Zeit überwiegend männlich waren, motivierte mich dazu, kannten sie doch kaum die Namen der von ihnen zu füllenden Gefäße, die vor ihnen saßen. Gleichzeitig bestätigen Ausnahmen die Regel.
Auch mein Glaubensleben fiel nach meinem Umzug in ein Loch, das Frankfurt nicht stopfen konnte. Viele der Studierenden, die ich traf, hatten mit der Kirche ‚nichts am Hut‘, waren vor allem auf dem Papier ‚römisch-katholisch‘ und kamen ja auch ohne Gemeindeleben wunderbar klar. Natürlich trifft das nicht auf alle zu, doch schien es mir zu diesem Zeitpunkt genauso zu sein. Ich war noch davon geprägt, dass viele Menschen in meinem Umfeld evangelisch getauft waren oder sich keiner Religion zugehörig fühlten; Religion begriff ich noch als Phänomen, dem nur wenige angehören, sozusagen eine Randerscheinung, in der ich als Katholikin, die nachmittags beim Pfarrer den Religionsunterricht besuchte, gar einen Sonderling darstelle. In Hessen traf ich auf das genaue Gegenteil: Hier waren so viele Menschen so selbstverständlich katholisch oder evangelisch, dass es sich gar nicht mehr auf ihren Alltag auszuwirken schien, weder in positiver noch negativer Weise.
Und zurück: von Frankfurt nach Dresden
Wie das Leben so spielt, zog ich nach drei Jahren wieder zurück nach Sachsen. Mein Studium führte ich an der Technischen Universität Dresden an dem geradezu winzigen Institut für Katholische Theologie fort. Auf einmal war die Anzahl der Seminarteilnehmer*innen an einer Hand abzuzählen, ebenso die Anzahl der Lehrstühle, denn es gibt hier lediglich drei Professorinnen und eine Mitarbeiter*innenstelle für die Kirchengeschichte. Selten kommt es vor, dass sich ein*e westdeutsche*r Student*in hierhin verirrt. Schon nach wenigen Wochen kennt jede*r jeden und jede*n der Dozierenden. Hier könnte man einen Schlussstrich ziehen und meinen, unbedeutender, weil nahezu ausgelöscht, könnte Theologie doch kaum noch werden.
Paradoxerweise änderten diese Gegebenheiten mein Studierverhalten um 180 Grad. Die beschauliche Größe der Seminare ergab intensive Gespräche und ausgiebige Einzelbetreuung für die Studierenden. Das wiederum führte zu einer familiären Atmosphäre, die Student*innen immer wieder in die Räumlichkeiten des Instituts zurückzieht. Die übermäßige weibliche Präsenz, führte zu ganz anderen Schwerpunktsetzungen, die in Frankfurt – weil vermeintlich als unwichtiger eingestuft – schlicht nie Erwähnung fanden, wie z. B. Frauen in Kirchengeschichte, Bibel und Theologie. Fatal ist gerade deswegen, dass Dresden nicht als prestigeträchtig (genug) eingeschätzt zu werden scheint, sodass das Institut als nicht sonderlich förderungswert betrachtet wird.
Katholische Theologie im Osten
Die katholische Theologie im Osten steht nicht im luftleeren Raum oder in einer Art Filterblase, in der, durch ein ohnehin christliches bzw. katholisches Umfeld, immer wieder nur dieselben Thesen als Echo zurückhallen. Die DDR hat ihre Spuren hinterlassen und auch als jemand, der nie in ihr leben musste, spüre ich die Folgen der Unterdrückung von Religiosität noch heute. Diaspora ist ein Stichwort, das in den „neuen Bundesländern“ nicht im Lexikon nachgeschlagen werden muss. Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass ebendiese Phänomene von Minderheitserfahrungen, die durchaus einen Mehrwert darstellen können, im Osten bereits geschehen, während sie dem Westen möglicherweise noch bevorstehen. Diese Erfahrungen sind von Rechtfertigung aber auch von Austausch und Zusammenarbeit geprägt. Dialog ist hier das Gebot der Stunde. Zwar wurden manche Erkenntnisse auch in der Not geboren, aber umso relevanter sind sie langfristig für Theologie im deutschsprachigen Raum.
Kann man Theologie im Osten also abschreiben? Hat sie noch irgendeine Bedeutung? Das hängt von der Betrachtungsperspektive ab. Man wird sich wohl entscheiden müssen: Soll Theologie im Osten nur die Feldforschung des Untergangs beschreiben oder geschieht hier – seit Jahren – Pionierarbeit im Diskurs der Diaspora?
Ich für meinen Teil bin rückblickend für beide Erfahrungen in Ost und West dankbar, denn ich konnte Vor- und Nachteile erleben. Die Sprachfähigkeit meines Glaubens folgte erst, angereichert durch Blickfelder außerhalb meines Dunstkreises, als ich zurück nach Sachsen kam und mich neu mit der Situation hier auseinandersetzen konnte. Und dieses Zurückkehren funktioniert in beide Richtungen. Es ist jedem zu wünschen, der sich in der Zukunft ein dialogfähiges Christentum erhofft.
Hashtag: #30JahreEins
(Beitragsbild: @ansgarscheffold)