Auch die jüngst veröffentlichte Studie zu Missbrauch im Bistum Limburg hat ergeben, dass die kirchliche Aufarbeitung erst begonnen hat. Wie steht es um die päpstlichen Äußerungen zum sexuellen Missbrauch? Moritz Bauer hat kritisch untersucht, welche Rolle die Rede von Vergebung und Versöhnung darin spielen.

Die Aufarbeitungsarbeiten im Zuge des sog. „Missbrauchskandals“ in der katholischen Kirche gehen nur langsam voran. Hierbei ergibt sich für die Kirche eine für sie ungewohnte Rolle: Ausgerechnet diejenige Institution, welche über Jahrhunderte hinweg als die „Expertin der Vergebung“ galt, muss nun selbst um Vergebung bitten. Doch zugleich fordert so mancher Geistlicher1 immer wieder eine Vergebung auch für die Täter ein, ganz so, als sei dies aus christlicher Perspektive zwingend logisch. Mir ist im Zuge meiner Beschäftigung mit der Thematik immer wieder die Vorstellung begegnet, man wisse nun als Kirche um die Fehler der Vergangenheit, man dürfe nicht alle Priester pauschal als Täter stilisieren und es sei doch jetzt an der Zeit der Nächstenliebe und der Vergebung für die Täter, manche Betroffene würden dies schließlich vorleben.2 Diese Äußerungen kamen zumeist aus dem Mund stark institutionell eingebundener, beziehungsweise geweihter Männer. Und solche „Argumente“ fielen oftmals ausgerechnet dann, wenn über missbrauchsbegünstigende Faktoren oder über Missstände in der bisherigen Aufarbeitungsarbeit gesprochen wurde. Die Kirche, deren Priester und die Angestellten erscheinen in dieser Argumentation als die eigentlich Leidtragenden. Anstatt über die Betroffenen und die Taten zu sprechen, spricht man lieber über sich selbst. Daher stellt sich für mich die Frage: Hat die Kirche/haben die Täter überhaupt ein Recht auf eine Vergebung? Um dies beantworten zu können, lohnt sich ein Blick auf die offiziellen päpstlichen Vergebungsbitten sowie auf die bisherige kirchliche Praxis der Aufarbeitungsarbeit.

Vergebung und Versöhnung

Zu Beginn eine kleine terminologische Unterscheidung. Zwischen dem Begriff der Vergebung und dem der Versöhnung muss unterschieden werden. Ein Vergebungsgeschehen geht immer von Betroffenen aus. Sie vergeben zunächst die Tat. Im Anschluss hieran ist es möglich, nicht jedoch zwingend, auch dem/der Täter*in zu vergeben. Der/die Täter*in kann nur versuchen, das Vergebungsgeschehen zu ermöglichen. Ein Recht hierauf gibt es nicht.3 Dies kann helfen, den Täter*innen-Opfer-Kreislauf zu überwinden. Die Betroffenen werden nicht mehr nur auf deren erlittenes Leid reduziert und erlangen ein Stück ihrer Autonomie zurück. Gleiches gilt für den/die Täter*in. Auch sie werden nicht mehr nur ausschließlich durch die Tat charakterisiert. Die Versöhnung hingegen geht dialogisch von beiden Parteien aus. Sie ist erst nach einer Vergebung möglich, bezieht sich über die Tat hinaus auf das gesamte menschliche Miteinander und intendiert eine positive Beziehungs(wieder)aufnahme.4

Schlaglichter lehramtlicher Äußerungen

Nun zu den hochoffiziellen kirchlichen Vergebungsbitten. Zunächst gilt zu fragen, ob sich in den lehramtlichen Aussagen von Papst Franziskus und Papst Benedikt XVI. ein explizites Schuldeingeständnis oder eine Verantwortungsübernahme findet, die einem Vergebungsgeschehen überhaupt erst den Weg ebnen könnte? Die Antwort hierauf lautet „Jein“; es gilt auf die Details und Nuancierungen zu achten. Gemeinsam ist beiden, dass sie von einem kollektiven Versagen innerhalb der Kirche sprechen. Ein persönliches und explizites Schuldeingeständnis findet sich jedoch nicht. In der Redeweise Papst Benedikts XVI. dominiert stets eine kollektive Pluralformulierung. Als Schuldige macht er „nur“ die jeweiligen Täter aus. Bei sich selbst scheint er keine Verfehlungen auszumachen – jedenfalls sucht man diesbezüglich vergebens nach detaillierten (!) Ausführungen.5 Anders ist dies unter Papst Franziskus. Bei ihm begegnen unterschiedliche Varianten. Er bittet einerseits persönlich um Vergebung und Verzeihung für die Geschehnisse,6 andererseits spricht er auch eine kollektive Vergebungsbitte aus. Allgemein entsteht durch sein häufiges Sprechen in der ersten Person Singular bei ihm der Eindruck, dass er sich stärker als noch sein Vorgänger mit den Betroffenen solidarisiert. Betont werden muss, beide Päpste müssen sich letztlich ihrer Verantwortung stellen. Ihre Leitungsverantwortung ist aus institutioneller Perspektive nicht delegierbar.7

Das Vermeiden einer direkten und persönlichen Verantwortungsübernahme ist im Übrigen keinesfalls auf den gesamtkirchlichen Kontext beschränkt, sondern kann auch bei den deutschen Bischöfen festgestellt werden.8 Häufig begegnet hier die im Plural formulierte Redeweise von einer empfundenen Scham. Das handelnde Subjekt ist folglich die gesamte Kirche, die faktischen Verantwortungsträger bleiben hingegen hinter dieser zurück und somit passiv. Sie nutzen die Scham als eine Art „Immunisierungsstrategie“ (Rita Werden), um die Frage nach ihrer persönlichen Schuld und Verantwortung zu umgehen.9

Weiters sind auch Schuldexternalisierungsstrategien zu beobachten, wenn Papst Benedikt XVI. mehrfach die aufgeklärte Moderne und die katholische Moraltheologie seit den 60er Jahren als Mitschuldige ausmacht oder Papst Franziskus auf eine nebulöse „Macht des Bösen“ verweist, welcher die Täter in ihrer Schwäche unterliegen würden.10

Diskrepanz in der Praxisarbeit

Auch der Blick auf die bisherige kirchliche Praxis im Umgang mit den Anschuldigungen und Taten zeichnet ein eher düsteres Bild. Die sog. „MHG-Studie“ hat empirisch nachgewiesen, dass viele Betroffene das Verhalten der Kirche als unzureichend einstufen, sei dies in Bezug auf offene Gesprächsangebote, eine Entschuldigung und Verantwortungsübernahme oder adäquate materielle Hilfeleistungen – wenngleich sich gerade bei letztgenanntem Punkt in den vergangenen Monaten Änderungen ergeben haben.11

Um das kirchliche Handlungsversagen zu explizieren, noch ein Beispiel aus der Zeit Papst Benedikts XVI. Zu der bereits oben ausgemachten Marginalisierung seiner Leitungsverantwortung und zur externalisierenden Schuldzuweisung, zeigt sich zusätzlich, dass er bezüglich konkreter Handlungsmaßnahmen in Folge der Missbräuche nur äußerst dürftige Aussagen vorlegt.12 Statt konkrete wissenschaftliche Erkenntnisse zu integrieren, über Machtmissbrauch in der Kirche zu sprechen oder die Praxis der Auswahl und Begleitung der Priesteramtskandidaten ernsthaft (!) in Frage zu stellen, schlägt er vor, eine veränderte Bußhaltung oder die Praxis der eucharistischen Anbetung könne gegen diese Missstände eine Abhilfe leisten. Hier zeigt sich eindrücklich, dass das Missbrauchsgeschehen in seinem Denken wohl eine Folge der „Abkehr von der Wahrheit“ darstellt. Das „Heilmittel“ kann hier nur die Kirche sein, denn „nur die Wahrheit rettet“13. Was eine solcher Vorschlag bei den Betroffenen auslöst, kann ich hier nur offenlassen; eine adäquate Aufarbeitung sieht jedoch anders aus!

Vergebung für die Kirche?

Die lehramtlichen Positionen und die bisherige kirchliche Aufarbeitungspraxis haben gezeigt, dass die Kirche alles andere als ein Paradebeispiel im Umgang mit den Betroffenen und dem Missbrauchsgeschehen ist. Daher erscheint es verständlich, wenn Betroffene wie Doris Reisinger eben jene kirchlichen Forderungen nach einer Vergebung entschieden ablehnen. Es drohe somit eine Durchbrechung des Opfer-Täter*innen-Kreislaufes, ohne dass die Betroffenen ausreichend in den Blick genommen werden. Die katholische Kirche – so Reisinger – versucht mit einer solchen Redeweise faktisch eine Erlösung für sich selbst herbeizuführen. Ohne die ernsthafte Anerkennung persönlicher Schuld, eine subjektive Verantwortungsübernahme14 und (wissenschaftlich fundierte) ernsthafte Aufräumarbeiten scheint für die Betroffenen eine Vergebung unmöglich. Abschließend bleibt zu bemerken, dass die Kirche unter keinen Umständen ein Recht auf Vergebung einfordern kann. Ob eine solche überhaupt jemals gewährt werden kann – von einer Versöhnung ganz zu schweigen – können nur die Betroffenen beantworten. Die Initiative liegt bei den Betroffenen, solange hat die Kirche zu warten und von selbstzweckgeleiteten Vergebungsforderungen abzusehen! Ihre eigenen Aufräumarbeiten haben schließlich gerade erst begonnen.

Die Reflexionen beruhen vorwiegend auf der Magisterarbeit „Die Päpste und der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche – Lehramtliche Positionen auf dem Prüfstand“ (2020) sowie auf der Seminararbeit „Vergebung und Versöhnung angesichts des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche? – Pastoraltheologische Impulse zur gegenwärtigen Krise“ (2020) des Verfassers.

Hashtag der Woche: #meaculpa


(Beitragsbild @ele1010)

1 An dieser Stelle verwende ich bewusst nur die männliche Forme. Keinesfalls sollen hiermit die verantwortungstragenden Rollen von Frauen im kirchlichen Dienst übergangen werden. Die faktische Kopplung von Weihe- und Leitungsgewalt bedingt jedoch, dass die Letztverantwortung in der Hand von geweihten Männern liegt. Weiters sprechen wir in der katholischen Kirche faktisch von männlichen Tätern. Über die weiblichen Orden sowie Übergriffe durch weitere Angestellt ist noch zu wenig (empirisch) bekannt.

2 Als Beispiel ließen sich die Berichte von Daniel Pittet nenne, vgl. Pittet, Daniel, Pater, ich vergebe euch! Missbraucht, aber nicht zerbrochen, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2016.

3 Vgl. Herzog, Andrea, Was ist Versöhnung, was nicht? Ein Überblick. In: Von Tiedemann, Friederike (Hg.), Versöhnungsprozesse in der Paartherapie. Ein Handbuch für die paartherapeutische Praxis, Paderborn 2017, 21f. und 34–37 sowie Van de Loo, Stephanie, Versöhnungsarbeit. Kriterien – theologischer Rahmen – Praxisperspektiven (= Theologie und Frieden 38), Stuttgart 2009, 14–18.

4 Vgl. Kohlgraf, Peter, Vergeben und versöhnen. Erfahrungen des Glaubens – Felder des Handelns, Ostfildern 2018, 59.

5 Vgl. Benedikt XVI., Hirtenbrief des Heiligen Vaters an die Katholiken in Irland vom 19.03.2010. In: AAS 102 (2010), 209–219, Nr. 7; Benedikt XVI., Predigt zur Heiligen Messe zum Abschluss des Priesterjahres vom 11.06.2010. In: AAS 102 (2010), 376–382; Benedikt XVI., Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie sowie des Governatorats vom 20.12.2010. In: AAS 103 (2011), 33–41.

6 Vgl. Franziskus, Predigt während einer Messe mit Missbrauchsopfern im Vatikan vom 07.07.2014. Dt. Üb. in: OR 44 (28/2014), 12.

7 Vgl. Mertes, Klaus, Sprechen über den Skandal. Missbrauch institutionell aufarbeiten, in: StdZ 143 (09/2018), 627–638, 635.

8 Siehe hierzu die Frage bzgl. einer persönlichen Verantwortungsübernahme der Bischöfe von Christian Florin (Deutschlandfunk) während der Pressekonferenz der Vorstellung der MHG-Studie, vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Pressekonferenz zur Vorstellung der Missbrauchsstudie der katholischen Kirche vom 25.09.18, Minute 100.

9 Werden, Rita, Systemische Vertuschung. Zur Rede von Scham in den Stellungnahmen von Bischöfen im Kontext der Veröffentlichung der MHG-Studie, in: Striet, Magnus/Dies. (Hg.), Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (= Katholizismus im Umbruch 9), Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2019, 41–77, 50–61.

10Vgl. Bauer, Moritz, Die Päpste und der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche – Lehramtliche Positionen auf dem Prüfstand. Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz, Mainz 2020, 52–77. Detaillierter Einblicke in die Ergebnisse der Arbeit stelle ich regelmäßig in meinem Blog „Theo-logisch?“ vor.

11Vgl. Dreßing Harald u. a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (MHG-Studie), u. a. 55–102, 163–166, 188–190, 309f.; exemplarisch Eckiger Tisch, Erklärung zur Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Lingen. Pressemitteilung vom 11. März 2019.

12Vgl. exemplarisch Benedikt XVI., Predigt zur Heiligen Messe zum Abschluss des Priesterjahres vom 11.06.2010. In: AAS 102 (2010), 376–382. Die kirchenrechtliche Diskussion klammere ich bewusst aus. Diese nachzuzeichnen wäre ein eigenes Unterfangen.

13 Benedikt XVI., Hirtenbrief des Heiligen Vaters an die Katholiken in Irland vom 19.03.2010. In: AAS 102 (2010), 209–219, Nr. 14. Weitere Andeutungen finden sich in den anderen bereits genannten Dokumenten.

14 Vgl. Reisinger, Doris, Von der Last ein Opfer zu sein oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben. In: LS 70 (03/2019), 162–166.

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moritz bauer

hat kath. Theologie in Mainz studiert und ist seit Juli 2020 Doktorand im SNF-Projekt "Komparative Theologie im Schweizer Kontext" am Lehrstuhl für Vergleichende Religionsgeschichte und interreligiösen Dialog an der Universität Fribourg. Seit neustem betreibt er außerdem den Blog "Theo-logisch?". Abseits der Theologie ist er begeisterter Mealhead und liest eindeutig zu viele Mangas.

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