Alternative Geschichtsschreibung ist ein beliebtes literarisches Mittel, um unsere Fragen, Wünsche und historischen Ambivalenzen zum Ausdruck zu bringen. Wessen Lebensgeschichte eignet sich dafür besser als die von Hillary Clinton? Marlene Deibl nimmt „Rodham“ von Curtis Sittenfeld unter die Lupe.

„Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär“ – die rezente Zeitgeschichte hat gezeigt, dass es nicht unbedingt angenehm sein muss, wenn der Vater viel Geld hat, jedenfalls dann, wenn er spät im Leben beschließt, politisch aktiv zu werden. Das hat dann noch Erfolg. Unser aller Mitleid mit Ivanka Trump hält sich in Grenzen. Die alternative Lebenserzählung, in der uns wirklich alles in die Wiege gelegt wäre, verliert da stark an Glanz.

Die alternative Geschichte ist dennoch so alt wie das historische Erzählen. Was wäre gewesen, wenn? Was wäre gewesen, wenn 1929 ein Jahr mit prosperierender Wirtschaft gewesen wäre? Diese Spekulationen gelten als historiographisch müßig, aber wer verfiele ihnen nicht bisweilen?

Dasselbe Muster geht uns auch existentiell nahe, noch näher. Weil wir in Bezug auf unsere eigene Biographie alle bisweilen von unseren Phantasien einer alternativen Lebensgeschichte geplagt werden. Das gilt sowohl für Dinge, die wir nicht beeinflussen können, als auch für unsere bewussten Entscheidungen. Letztere sind beliebt, gerade wenn’s mal nicht gut läuft. „Was wäre gewesen, wenn?“, „Wenn ich doch…?“ Hinterher ist man klüger.

Wir spielen das einmal für Hillary Clinton durch

Es gibt einzelne Menschen, deren „Was wäre wenn“-Geschichten interessanter sind als die der meisten. Wenn ihre Geschichten anders verlaufen wären, dann wäre auch historisch einiges durcheinandergekommen. Zu diesen Menschen zählt die ehemalige amerikanische Außenministerin Hillary Rodham Clinton. Es ist zu ihren Lebzeiten viel weitergegangen. Fast alles, was die politische Aufwertung von Frauen, Kindern und weniger reichen, weniger weißen Männern betrifft, hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten ereignet. Gut fünfzig Jahre davon hat Hillary Rodham Clinton mitgeprägt. Bloß eher als Frau von (Bill Clinton, der von 1992 bis 2000 US-amerikanischer Präsident war und davor bereits Senator und Gouverneur) und Frau für (Kinderrechtsfragen, Gesundheitspolitik, Menschen- insbesondere Frauenrechte, Senatorin für New York) sowie als Frau neben (Barack Obama, für den HRC trotz seines Sieges im Vorwahlkampf vier Jahre lang als Außenministerin fungierte). Mit einer Sache hat es im regen politischen Leben der HRC nicht geklappt: der Präsidentschaft. Die Frau von, für und neben wurde nicht zur Madam President. Die Umstände kennen wir alle – gerade in den letzten Tagen haben sich bestimmt viele von uns die diesbezügliche „Was wäre wenn“-Frage gestellt.

Aber „Was wäre, wenn…?“ Die Prämisse des neuen Buches von Curtis Sittenfeld ist simpel: Hillary Rodham minus Bill Clinton als ihrem Ehemann. „Was wäre, wenn?“ Als Hillary Rodham im Jahr 1974 entschied – zu diesem Zeitpunkt galt sie als politische Zukunftshoffnung ihrer Generation – ins ländlich geprägte Arkansas zu ziehen, um dort First Lady of Arkansas zu werden, griffen sich viele in ihrem Umfeld, vor allem ihre weiblichen Mentorinnen, ans Hirn. Sie hätte auch gleich selber Karriere machen können. Sollen. Dürfen. Müssen. Wollte sie auch. Es hat auch funktioniert – bis zu einem gewissen Punkt.

Wenn Frauen von Frauen schreiben

Noch ein Wort zur Autorin dieses Glanzstückes. Curtis Sittenfeld ist im deutschen Sprachraum kaum bekannt. In Amerika viel mehr; ihr Ruhm wurde aber seit je eher von den dort beliebten Lesezirkeln begründet als vom Feuilleton. Warum, das schreibt sie selber besser (ist ja auch ihr Beruf) und zwar auf Twitter:

Ja, das ist eine elegante Art und Weise, einen Begriff zu umschreiben, und der ist: Sexismus. Es fühlt sich halt einfach nicht richtig an, wenn eine Frau einen bedeutenden politischen Roman schreibt. Wenn eine Frau laut Wahlparolen schreit. Wenn eine Frau eine Meinung hat. Diesem Sexismus ist auch die Hillary Rodham ausgesetzt, die im Buch langwierige Kämpfe mit ihren meist männlichen Gegnern austrägt.

Ach ja, Sex. Wer noch immer nicht überzeugt ist, sei auf die Sexszenen verwiesen. Zu Eingang des Bandes kommen die häufiger vor, denn anders ist es wirklich nicht plausibel zu machen, warum Hillary Bill fast heiratet. Oder was das Problem ist, das sie dann doch davon abhält. Es wird jedenfalls nackt in einem Strandhaus Saxophon gespielt. Allein diese Szene lohnt die 12,99 für das E-Book. Aber ich möchte der Handlung nicht vorgreifen – möge die geneigte Leserin halt einfach lesen.

Politik. Feminismus. Race. Macht.

Der Roman hat, gerade in solchen Szenen, aber auch eine ganz reale kathartische und, ja, fast erlösende Funktion: Als Romanfigur ist Hillary Rodham mit einer neuen Würde ausgestattet. Die reale Hillary musste einen einzigartigen Spießrutenlauf durchmachen, der ihr Privatleben in einer historisch beispiellosen Weise zu ihren Lebzeiten öffentlich gemacht hat. Die fiktive Figur hat hingegen ein Eigenleben, das sie eigenständig macht, auch dem Publikum gegenüber. Fast atmet die Leserin auf, wenn Hillary Rodham ihren Weg geht, inklusive aller strategischer und emotionaler Tiefpunkte. Das gilt insbesondere für die Sexszenen, die den fiktiven Charakteren ein durchaus eigenwilliges Leben einhauchen. Ähnliches gilt übrigens für einen früheren Roman Sittenfelds, der die – diesmal grob den historischen Fakten folgende – Geschichte der Ehe zwischen George und Laura Bush thematisiert. Auch die Feinheiten von class und race kommen in ihren Werken immer wieder zum Tragen – etwa, wenn die fiktive Hillary die Wahl der (realen) ersten schwarzen Senatorin der Vereinigten Staaten, Carol Moseley Braun, verhindert und selbst in den Senat einzieht. Ganz nebenbei gelingt der Autorin eine Art von Trump-Exorzismus – naja, ich schweife schon wieder ab von meiner Absicht, ein nachdenkliches Essay zu verfassen.

Sittenfeld interessiert sich für die Mechaniken der Macht, und sie hat die Einsicht, dass das Private öffentlich ist, wirklich umgesetzt. Jene Darstellungen, die die Einheit von privater und öffentlicher Person ebenso wie die unüberwindliche Kluft zwischen beiden illustrieren, wirken oft schmerzhaft realistisch. Ein kleines Beispiel:

In 1957, my friend Maureen Gurski’s tenth birthday party took place at her house in Park Ridge, a block away from where my family lived. (…) The subject of baseball came up—I was an ardent Cubs fan, despite their terrible record that year—and I said, “Even if the White Sox are having a better season, Ernie Banks is clearly the best player on either team. If the Cubs build around him, they’ll be good in time. Maureen’s father smiled unpleasantly from across the table. He said, “You’re awfully opinionated for a girl.” (Rodham, S. 23)

Das macht gute Literatur aus. Wer sich für Politik interessiert, sollte das Buch lesen. Wer sich für Feminismus interessiert. Wer über problematische Machtstrukturen nachdenkt. Und wer einfach ein gutes Buch lesen will, die oder der ohnehin!

Hashtag der Woche: #rodham


(Beitragsbild @impatrickt)

Lesen: Sittenfeld, Curtis: Rodham. London 2020.
https://www.penguin.co.uk/books/108/1087187/rodham/9780857526120.html

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marlene deibl

arbeitet als Prae-doc-Assistentin am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie studierte in Wien und Tübingen Philosophie und Südasienkunde, kann schneller sprechen als denken, schießt aber wesentlich langsamer als ihr Schatten. Ihre weiteren Interessensgebiete sind Wissenschaftstheorie, Parfümgeschichte und Bier.

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