Die Welt sucht Held*innen. Doch manchmal verbirgt sich die wahre Heldin einer Saga hinter dem Posterboy. Ein Text von Hannah Morrison über Hermine Granger.

Dass J.K. Rowling mit Hermine Granger eine außergewöhnliche Figur erschaffen hat, die im Grunde die eigentliche Heldin der Harry Potter-Saga ist, wussten wir schon lange — klar, denn wenn man mal genauer hinschaut, funktioniert nichts ohne die kluge Hexe. Eine zu steile These? Natürlich ist diese Lesart von der ‚Wokeness der 2010er‘ informiert. Rowling vorzuwerfen, sie hätte keine starken Frauencharaktere entworfen, wäre natürlich unsinnig, und würde auch ganz sicher nicht ihrer Intention entsprechen. Hermine, Luna, Ginny: Das sind alles kick-ass Ladies, keine Frage. Allerdings ist die grobe Erzählstruktur doch so angelegt, dass Machtpositionen und Ruhm und Ehre meist eher an die männlichen Charaktere gehen. Da lohnt sich also das kritische Hinsehen vielleicht doch. Schauen wir uns Hermines Heldinnentum mal genauer an.

Die Ausnahmefigur

Bei genauerer Betrachtung ist Hermine nahezu immer dafür verantwortlich, dass das Dreiergespann aus Harry, Ron und ihr in ihren Abenteuern einen Schritt weiterkommt. Wer triezte die beiden Jungs so lange in die Bibliothek zu gehen und zu recherchieren, bis sie herausfanden, dass der Stein der Weisen in Hogwarts versteckt liegt? Wer war so fleißig, dass ihr ein Zeitumkehrer geliehen wurde, mit dem sie und Harry später Seidenschnabel und nicht zuletzt Harry selbst retten konnten? Wer gründete überhaupt Dumbledores Armee und wer lag eigentlich immer richtig mit ihren Vermutungen über die Machenschaften des Zaubereiministeriums? Natürlich Hermine.

Man könnte Seiten mit solchen Beispielen füllen. Aber nicht nur ihre Klugheit, ihre Handlungsentschlossenheit und Weitsicht machen Hermine zu einer Ausnahmefigur — es ist vor allem ihre Menschlichkeit, ihre Empathie, ihr Gerechtigkeitssinn. Hermine ist nämlich ein Charakter, der Stereotypen sprengt. Sie ist klug, ja manchmal auch altklug, randvoll mit Wissen, kompromisslos in ihrem Ehrgeiz und manchmal ziemlich rigide. Gleichzeitig ist sie sensibel, emotional intelligent und oftmals die weise, liebevolle Stimme, die Harry und Ron in ihren eitlen Streitereien versöhnt. Was ein Wunder, denkt man sich da gelegentlich, dass fiktionale weibliche Figuren so etwas können. 

Hermine akzeptiert im Lauf der Bücherreihe die verschiedenen Aspekte ihrer Persönlichkeit und beweist uns so, dass es kein entweder-oder bei der Typisierung weiblicher Rollenbilder geben muss.

Von Held*innen

Doch was stellt Hermines Heldinnentum letztendlich über Harrys? Das Zedler-Lexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts definiert das Heldentum so:

Held, lat. Heros, ist einer der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.

So alt und staubig diese Definition klingt, so sehr ist sie doch vor allem in unserer heißgeliebten Popkultur verankert. In feinster Marvel-Manier besiegen überdurchschnittlich gutaussehende Personen (und machen wir uns nichts vor, meistens handelt es sich dabei um Personen mit einem Y-Chromosom) einen bösen Tunichtgut, dem sie moralisch natürlich aber sowas von überlegen sind. Danach ist alles gut, Friedefreudeeierkuchen, und die geretteten Menschen können wieder in ihren Alltagstrott übergehen und sich sicher sein, dass, falls wieder etwas im Argen liegt, der Mann mit dem Spandex auftaucht. Und der Mann mit dem Spandex ist in unserem Szenario natürlich Harry.

Was aber, wenn das Problem gar nicht an dem einen Bösen liegt? Was, wenn das Problem tiefer greift, in der Gesellschaft verankert ist, und der Grund, warum ‚der Böse‘ sich so entwickeln konnte und so viel Anklang gefunden hat, darin liegt, dass er hervorragenden Nährboden dafür hatte?

Zauberei-Ideologien

Schauen wir dafür einmal in den fünften Band der Saga. Harry betritt zum ersten Mal das Zaubereiministerium und bekommt die ganze Portion Glanz und Gloria der Zaubergesellschaft zu spüren. Er sieht einen Brunnen in der Empfangshalle, auf dem riesige Figuren abgebildet sind, die die verschiedenen Wesen innerhalb der magischen Welt so darstellen, wie es sich Voldemort nicht schöner hätte erträumen können: Eine Hexe und ein Zauberer stehen überlebensgroß in der Mitte, natürlich edel und schön anzusehen, umringt von drei nicht-menschlichen magischen Wesen — einem Hauself, einem Kobold und einem Zentaur. Diese schauen in Bewunderung zu den beiden Menschen hoch, das Ganze nennt sich „Brunnen der magischen Geschwister“. Dieser Name suggeriert eine friedliche Einigkeit, die in der Zauberwelt allerdings nicht vorhanden ist. Es handelt sich um eine Art Propaganda, die die erwünschte Überlegenheit des Zauberers und der Hexe zeigt. Eine solche Darstellung mitten im Eingangsfoyer des Ministeriums spielt Ideologien wie denen von Voldemort und Grindelwald unmittelbar in die Hände, ist sie doch ein Anzeichen für ein tief im Zauber*innenbewusstsein verankertes Dominanzgefühl.

B.ELFE.R — Kampf gegen das System

Und wie kommt nun Hermine ins Spiel? Manch eine*r erinnert sich sicherlich an Hermines mehrere Bücher überdauernde, zeitweise scheinbar belächelnswerte Anstrengungen, mit ihrer selbstgegründeten Organisation B.ELFE.R das Leben der Hauselfen in Hogwarts zu verbessern — sehr zum Leidwesen von Ron, Harry und vor allem dem der Hauselfen selbst (Dobby natürlich ausgenommen). Penetrant versteckt sie ihre selbstgestrickten Mützen, die die Hauselfen von ihrer magischen Verpflichtung, den Zauber*innen zu dienen, befreit, in der Hoffnung, dass sie von ihnen gefunden werden. Sie ignoriert dabei die Stimmen nahezu aller ihrer Mitschüler*innen: Die wollen das doch so! Das ist schon immer so! So sind die Dinge einfach!

Aber Hermine lässt sich vor allem von einem leiten: ihrem moralischen Kompass. Und dieser, der sicherlich auch von ihrer Muggelherkunft geprägt ist, sagt ihr, dass es nicht gerecht ist, kleine knuffige Wesen mit langen Ohren und großen Äuglein unentgeltlich für sich schuften zu lassen, „weil das halt nunmal so ist“.

So ungewollt Hermines Hilfe in diesem Zusammenhang bei vielen sein mag, so sehr ist sie ein großer Aspekt von Hermines Persönlichkeit und dem, was ihr Heldinnentum ausmacht. Sie hinterfragt laufend bestehende Strukturen und ist damit diejenige, die das eigentliche Problem hinter Voldemort, Grindelwald und Konsort*innen angeht: fehlende Toleranz und Akzeptanz, ungleiche Rechte, Fremdenhass sowie extrem patriarchale und hierarchische Machtstrukturen.

Somit ist im Grunde Hermine die treibende Kraft hinter dem Kampf gegen das gute, alte Böse. Wie gut für die Zauberwelt also, dass Rowling sie in Harry Potter and the Cursed Child zur Zaubereiministerin macht und ihr damit endlich den Posten gibt, den sie verdient — als die wichtigste Figur in Harry Potter, die wahre Heldin.

Hashtag der Woche: #Hermineftw


(Beitragsbild: @fridoo)

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hannah morrison

studiert an der Pädagogischen Hochschule Freiburg Grundschullehramt für Musik und Deutsch.

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