Im vergangenen Jahr erschien der Roman Hier sind Löwen der Berliner Schriftstellerin Katerina Poladjan. Jonatan Burger hat das Werk gelesen und staunt über die dortige Adaption und ironische Brechung christlicher Motive.

In Gebieten, die einst unbekannt waren, finden sich auf alten Landkarten allerlei Fabelwesen wie Seeungeheuer, Drachen und auch Löwen. Armenien, in der Antike Grenzgebiet zwischen dem Imperium Romanum und den persischen Parther- und Sassanidenreichen, war ein Ort, an dem sich die Löwen tummelten. Auch heute steht das Land nur selten im Fokus der medialen Aufmerksamkeit, zuletzt machte 2018 die „Samtene Revolution“ von sich reden. Dass das „Hic sunt leones“ auf unserer mentalen Landkarte nicht stehen bleiben muss, ist nun dem von Katerina Poladjan verfassten Roman Hier sind Löwen zu verdanken, der 2019 für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde. Genau wie die Ich-Erzählerin Helen führt er die Leser*innen auf den Spuren einer alten Handschrift durch das heutige Armenien, aber auch in die Abgründe von dessen Geschichte, den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915.

Eine Reise nach Armenien und dessen Geschichte

Helen ist Buchrestautorin und kommt für ein Praktikum nach Jerewan, um dort die Eigenheiten der armenischen Handschriften- und Buchbindetechnik zu studieren. Wie auch im Fall der Autorin selbst stammen einiger ihrer Vorfahren aus Armenien. Am Mesrop-Maschtoz-Institut restauriert die Protagonistin während ihres Aufenthalts eine alte Bibel. Dieses Heilevangeliar wurde über die Jahrhunderte hinweg in einer Familie verehrt, bei Krankheiten als magisches Heilmittel gebraucht und von Generation zu Generation weitergegeben. Weit weg von ihrem Alltag in Berlin taucht Helen in der armenischen Hauptstadt in eine bislang unbekannte Welt ein und spürt mit einem alten Foto vielleicht noch lebenden Verwandten nach. Trotz Freund Danil in Berlin beginnt sie eine Affäre mit dem Soldaten und Jazzmusiker Levon, dem Sohn ihrer Chefin am Institut. Je länger sie in Jerewan arbeitet, desto ferner rückt das Leben in Berlin; die Reise nach Armenien wird auch eine Suche nach sich selbst und den eigenen, bislang unbekannten Wurzeln. Helen restauriert das Buch akribisch und wird zugleich von dessen Geschichte in den Bann genommen. Schließlich bricht sie auf den Spuren des Werks in die Stadt Ordu an der türkischen Schwarzmeerküste auf und reist von dort auf die andere Seite des Ararat, nach Kars ins Niemandsland an der türkisch-armenischen Grenze, ein Schauplatz des Völkermords an den Armeniern 1915.

Katerina Poladjan verwebt die Erzählung Helens, die in der heutigen Zeit spielt, auf diese Weise mit einer weiteren Handlungsebene, die im Jahr 1915 angesiedelt ist und den Genozid im Osmanischen Reich aus der Sicht zweier Kinder aus Ordu, der 14-jährigen Anahid und des 7-jährigen Hrant schildert. Diese können als einzige aus ihrer Familie gemeinsam mit der Familienbibel den Mörder*innen entkommen und kämpfen fortan in den Bergen um ihr Überleben. Vor 1915 noch eine beinahe bukolische Idylle wird das Umland ihrer Heimat Ordu durch den Völkermord für sie zur gottverlassenen Einöde. Durch die Grausamkeit ihrer bisherigen Nachbar*innen bricht für Hrant und Anahid mit einem Mal ihre heile Welt zusammen.

Die unausweichliche Frage nach dem guten und gerechten Gott

Die Schilderungen Poladjans bestechen dabei nicht nur auf literarischer Ebene durch die Eindringlichkeit der kindlichen Perspektive, welche die Verlorenheit und Überforderung der Protagonist*innen in dieser apokalyptischen Szenerie zum Ausdruck bringt. Auch theologisch regt das Werk zu zahlreichen Anschlussgedanken an: Auf ihrer Flucht klammern sich die Kinder an das magische Heilevangeliar und ihren Glauben:

„Immer wieder betete Anahid zu Gott, er möge ihr den Weg zeigen. Gott hatte ihr die Ziege geschickt, und nun bereute sie, dass sie beim Abendgebet oft an andere Dinge gedacht hatte, an Dinge, die ihr damals näher waren als Gott. Dennoch half er ihr. Er versperrte Irrwege mit großen Steinen, beugte Bäume zu Wegweisern und schickte einen Wind in die richtige Richtung.“ (S. 144)

Dieser unschuldige Kinderglaube wird durch die grausame Situation indes auf eine harte Probe gestellt. In einer Szene, in der Hrant und Anahid auf ihrem Irrweg durchs Gebirge einer Hirtin begegnen, wird die den ganzen Erzählstrang überschattende Theodizee-Frage exemplarisch deutlich:

„Ihr glaubt doch an Gott, Armenierkinder, und wisst nicht, wo es langgeht? Sie lachte, aber es klang traurig. Sie setzte sich wieder auf den Stein und zeigte nach links. Geht in diese Richtung. Alles andere ist der Tod. Geht schon, und wenn der Kleine mit der Zahnlücke dir zu viel wird Mädchen, lauf ohne ihn weiter.“ (S. 174)

Beim Lesen drängen sich notwendigerweise Überlegungen auf, die in Deutschland vor allem im Zuge der Theologie nach Auschwitz im Angesicht der Shoah diskutiert wurden: Ist so etwas wie Glauben angesichts des Geschehenen und seiner unvorstellbaren Grausamkeit, angesichts der im Gebirge nach Deportation und Mord an ihrer Familie im Fieberwahn herumirrender Kinder, noch möglich? Kann man nach dem Geschehenen noch an einen guten, rettenden Gott glauben – diesen Glauben anderen als Perspektive für das eigene Leben anbieten? Wäre dies nicht zynisch gegenüber den Opfern der Geschichte, die dieser Gott nicht retten wollte? Aber auch – stockend: Oder ist der Glaube an Gott, an eine heilvolle Zukunft, nicht gerade in dieser Situation das einzige, was bleibt?

Die Geschichte überliefert nur einen beschädigten Glauben.

Die Notizen, die sich Helen 100 Jahre später macht, als sie das Buch, das diese Odyssee auf unbekannten Pfaden überstanden hat, restauriert, sind deshalb nicht nur handwerklicher Natur. Vielmehr sind sie zweifelsohne auch als Metapher für die Leser*innen zu verstehen. In der Familienbibel gibt es beschädigte Passagen, die sich nicht mehr wiederherstellen lassen:

„In der Offenbarung hatte listig eine Raupe gewütet. […] Ich sichtete Johannes, dokumentierte die Miniaturen, Risse, Knicke, Verbräunungen.“ (S. 44)

„Ich notierte beginnenden Kupferfraß bei den farbigen Buchmalereien, Farben ausgeblutet, Titelarabesken und Kanontafeln teilweise stark verblasst, am Stammbaum Christi ausgeprägter inaktiver Schimmel.“ (S. 19)

Es wirkt so, als ob sich neben der Schrift auch die Freudenbotschaft und Verheißung, die im Evangelium zugesagt ist, unter dem Eindruck der leidvollen Geschichte der Besitzer*innen des Buches abgeschwächt hat. Gegenüber einem solchen Ausmaß an Leid in der Welt scheint auch die Heilszusage Gottes beschädigt und kaum mehr glaubwürdig zu sein.

Helen begegnet auf ihrer Reise in die Türkei nur noch fragmentarischen Zeugnissen armenischer Kultur in einer Region, die vor 1915 jahrhundertelang von Armenier*innen bewohnt wurde. Zerstörte Kirchen, geplünderte Gräber und türkische Geheimdienstkommandos, die des Nachts gegen die hier lebende kurdische Bevölkerung vorgehen, werden von einem Denkmal überragt, das in geschichtsfälscherischer Weise die türkischen Opfer der Verfolgung durch die Armenier beklagt und so einen Völkermord zynisch in sein Gegenteil zu verqueren versucht. Nach seinem Verschwinden 1915 scheint Gott seither nur flüchtig in diese von Gewalt geprägte Region zurückgekommen zu sein.

Erinnerung und Aufbruch ins Neue

Cover
© S. Fischer Verlag

Die Lektüre von „Hier sind Löwen“ lässt die Leser*innen fragend zurück: Wie lebt es sich in einem Land, in dem die Erinnerung an den Völkermord allgegenwärtig ist und in den Familien dennoch häufig geschwiegen wird, da die Traumata angesichts des Erlebten zu tief sitzen? Wie wirkt sich das damals Geschehene auf noch die junge Generation heute aus? Kann sich das Gefühl plötzlicher metaphysischer Heimatlosigkeit vererben und das Leben auch 100 Jahre später noch einem Taumel gleichen lassen, wie es etwa bei Levon zu sein scheint? Wie prägt dies die weitere Entwicklung eines Landes, das sich nun Hoffnungen auf einen tatsächlichen demokratischen Aufbruch machen darf? Von welchem Gott ist die Rede, wenn die armenischen Gastgeber von Helen einen Schöpfer preisen, der den Armeniern ein Land schenkte, das „er eigentlich für sich selbst vorgesehen hatte“ (S. 29)? Ist dies ein Glaube des „Trotzalledem“ – oder nur eine ironisch gebrochene Reminiszenz an eine vergangene, 1915 untergegangene Welt?

Am Ende des Romans stehen sich 1915 im Städtchen Ordu Tod und Weiterleben nahe und scharf gegenüber. In der Gegenwart ist die Familienbibel restauriert und gebunden und Helen bricht wohl wieder in ihr altes Leben nach Berlin auf, ohne dass klar ist, ob sie das gefunden hat, was sie suchte – und ob sie es überhaupt finden konnte. Der Zauber des Buchs hat sich erhalten, aber die Schrammen und Fehlstellen sind trotz der Restauration unübersehbar. Die Geschichte geht weiter – aber es bleiben Spuren von Tragödien zurück. Sensibel an diese zu erinnern, zu zeigen, was das damals Geschehene für die Menschen heute noch bedeutet und wie es ihre Biografien prägt, und dabei nicht zuletzt subtil und doch entschieden die Gottesfrage aufwerfen, ist der Verdienst dieses lesenswerten Romans von Katerina Poladjan.

Hashtag der Woche: #hicsuntleones


Beitragsbild: Artak Petrosyan

Katerina Poladjan: „Hier sind Löwen“. S. Fischer, 2019.

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jonatan burger (er/ihn)

studierte von 2012-2018 Katholische Theologie in Freiburg und promoviert nun im Fach Christliche Sozialethik. Er ist Referent an der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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