Ob Urban Gardening oder Schminktipps: Vlogs sind hip und ein mehr oder minder heimliches Vergnügen von Millionen von Menschen – so auch von Dr. des. Cornelia Dockter. Sie sieht eine Verbindung zwischen der Vloggerei und dem sakramentalen Leben der Kirche.

„Guilty Pleasure“ beschreibt laut urbandictionary.com eine Tätigkeit wie das genussvolle Hören einer bestimmten Musik oder das begeisterte Sehen einer bestimmten Serie sowie ein damit einhergehendes Gefühl der Scham darüber, dass man sich zu eben jener Musik oder eben jener Serie hingezogen fühlt. Diese Scham führt dann dazu, dass man seine Vorliebe vor Familien und im Freundeskreis verschweigt und nur in Momenten der absoluten Vertrauenswürdigkeit mit der zweifelhaften Vorliebe herausrückt. Vermutlich verfügt jeder Mensch über ein solches „Guilty Pleasure“. Im vorliegenden (meinem eigenen) Fall handelt es sich um die mir zunächst unerklärliche Vorliebe für die in Video-Form gebannte Lebensdokumentation von mir fremden Menschen – die so genannten Vlogs. 

Crashkurs „Vlogs“

Der Begriff des Vlog ist eine Zusammensetzung aus den Begriffen blog und video und kennzeichnet eine Form des autobiographischen Erzählens via kurzen (meist zwischen 5 bis 20 Minuten langen) Videos, in denen der*die Protagonist*in aus, von und über sein*ihr Leben berichtet. Diese Form von Videos bilden bei Weitem nicht den größten Anteil der auf dem bekanntesten Video-Portal, YouTube, hochgeladen Videos. Weitaus höhere Video- und Click-Zahlen werden im Bereich Musik, Entertainment und seit einigen Jahren vor allem im Bereich des Gaming verzeichnet. 

Im Bereich des Vlogging sind es vor allem die Beauty-Vlogger*innen, die das Feld anführen. Lange könnte man über sich hier manifestierende und perpetuierende Gender-Stereotypen schreiben, wenn das vornehmlich weibliche Feld der Beauty-Vlogger*innen Make-Up Produkte testet, empfiehlt, bemängelt oder schlicht und einfach zeigt, was man im vergangenen Monat so alles an Fläschchen, Tübchen und Spenderchen aufgebraucht hat (recherchierbar unter „Aufgebraucht-Videos“). Einer großen Beliebtheit erfreuen sich nun allerdings auch „follow-me-around“-Vlogs, die die Zuschauer*innen nicht nur zu Follower*innen eines bestimmten Kanals werden lassen, sondern ebenfalls zu Follower*innen der Reisen, Events und Shoppingtouren ausgewählter YouTuber*innen. 

Warum denn sowas?

Nun stellen sich die folgenden drängenden Fragen: Was bringt Menschen dazu, ihr Leben für die anonyme Öffentlichkeit zu dokumentieren? Und: Was bringt mich dazu, mir das auch noch anzusehen? Die Motivationen der vloggenden Zunft scheinen multidimensional zu sein. Hierbei sind finanzielle Gründe erst ab einer gewissen Zahl von Follower*innen entscheidend, wenn Werbung im Vorlauf oder während des Videos geschaltet wird oder Produktplatzierungen vorgenommen werden. Zunächst spielen sicherlich Gründe wie Zeitvertreib, Kommunikation und Selbstdarstellung eine Rolle. Das Filmen des eigenen Lebens wird zur unterhaltsamen Selbstinszenierung und Selbst-Formatierung, die nicht nur beobachtet, sondern auch aktiv kommentiert und beurteilt (Daumen hoch, Daumen runter) wird. 

Hinzu kommen die Vlogs, die einen ausdrücklichen Bildungs- bzw. Informationsauftrag verfolgen („Ich möchte meine Erfahrungen mit euch teilen und wenn es auch nur einer einzigen Person geholfen hat, dann hat es sich gelohnt!“ – bspw. hier). Da ich selbst weit davon entfernt bin, den eigenen digitalen Fußabdruck mit meinen nicht vorhandenen Frühstücksgewohnheiten zu kreieren, helfen mir diese Antworten zwar nicht weiter. 

Allerdings lassen sich die Gründe, Vlogs zu konsumieren, mit den Gründen, Vlogs zu produzieren, durchaus verknüpfen. An vorderster Stelle wird hierbei der Wunsch nach Unterhaltung, Zeitvertreib und einer ganz banalen Neugierde an den Lebensgewohnheiten anderer Menschen stehen. 

Der Vlog als Ort der Lernerfahrung rückt dann ins Zentrum, wenn ich versuche, durch das Sehen des Vlogs bestimmte Angewohnheiten abzuschaffen oder meinen Lebensstil zu verbessern. Morgen-, Abend- und Fitnessroutinen werden konsumiert und reproduziert, um die eigene Ausgeglichenheit, Gesundheit und Zufriedenheit zu steigern oder zu stabilisieren (bspw. hier). Das, was YouTube vom klassischen Fernseh- oder Buchratgeber unterscheidet, ist die hohe Kommunikations- und vor allem Identifikationsmöglichkeit. Da es kein besonderes Talent erfordert, seinen veganen Einkaufs-Haul vor der Kamera zu präsentieren, gibt es ein reiches Angebot an Vlogs, aus denen die heterogene Gruppe der potentiellen Follower*innen ihr Identifikationsobjekt frei wählen kann. 

Mini-Mes und Maxi-Mes

Eine Studie der Universität Lancaster aus dem Jahr 2017,1 die sich auf Max Webers soziologische Arbeiten bezieht, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der hierdurch neu entstandene Personenkult vornehmlich an der jeweiligen „charismatischen Herrschaft“ („charismatic authority“) der Vlogger*innen festzumachen ist. Entscheidend ist das Zusammenspiel von Identifikation und einer gleichzeitigen Überzeugung, dass die, denen ich folge, mir etwas zu sagen haben, etwas voraus haben, etwas Faszinierendes an sich haben, weshalb ich mir von ihnen eine Änderung bzw. Optimierung – nicht vielleicht der ganzen Gesellschaft – aber meines eigenen Lebens erhoffe. 

Die für YouTube charakteristische Form des Kommunizieren-Könnens führt dabei zur Etablierung einer Community, bestehend aus Follower*innen und Vlogger*innen, die sich gegenseitig stärken, kritisieren, pushen, unterstützen und absichern.  Dreh- und Angelpunkt ist hierbei die Authentizität derjenigen, denen man folgt. So wird es nicht nur toleriert, wenn Lidstrich und Make-Up Grundierung fehlen oder das Video in der Mitte abgebrochen wird, weil der*die Vlogger*in über die Fertigstellung eines DIY-Möbelstücks Geduld und Contenance verloren hat und inmitten von Kleister, Beton und Lichterkette tränenreich zusammengebrochen ist — je echter, desto besser, solange die Echtheit des Menschen vor (und gleichzeitig hinter) der Kamera den eigenen Identifikationswünschen noch entspricht. 

Den Alltag zelebrieren

Das alles sind plausible Gründe, warum auch ich diese Vlogs gucke. Allerdings fehlt mir in allen Studien rund die Beweggründe und Auswirkungen von Vlogs ein entscheidendes Kriterium: Vlogs sind Zelebrationen des Alltags! Natürlich gibt es Vlogs von Menschen mit außergewöhnlichen Reisezielen, Begabungen, Hobbies und Berufen, die mich aus meinem Alltag und dem Gewöhnlichen herausreißen. Doch gerade die kontinuierlich erscheinenden weekly vlogs präsentieren das Alltägliche  – den ersten morgendlichen Kaffee, den Schulweg, die Projektarbeit im Studium, Konzertbesuche, Joggen und Yoga, Shopping im Second-Hand-Laden, die tägliche Gassi-Route, Schrank ausmisten, Kaffee trinken, Burger essen, Witcher-Zocken, Serien bingen und Pflanzen umtopfen (rheinischer Tipp: considercologne). 

Aber der Alltag wird nicht einfach nur dokumentiert, er wird zelebriert. Den Routinen, Gewohnheiten und Vorlieben wird eine eigene Dignität zugesprochen, da der Alltag es wert ist, festgehalten und beobachtet zu werden. Diese Achtsamkeit für das eigene Normale wirkt nicht nur stabilisierend auf die Person, um die es geht, sondern auch auf die Person, die zusieht und sich identifiziert. Die Zurschaustellung und Nachahmung des bewusst gelebten Normalen führt dazu, nicht nur von Event zu Event und von Urlaub zu Urlaub zu leben, sondern in dem, was immer wieder ist, etwas Besonderes zu finden. 

Und die Kirche so: Was hat das mit mir zu tun?

Der erwartete theologische Ausblick setzt genau hier ein. Denn auch Religion hat die Möglichkeit, ganz konkret Identitätsformung zu begleiten, Gemeinschaft zu stiften und das Normale zu feiern – die Sakramente. Entgegen einer etwaigen ersten Intuition sind Sakramente nicht nur (aber auch) punktuelle Ereignisse im Leben eines Menschen, um bestimmte bedeutende Momente des Neuanfangs und des Übergangs zu begleiten, zu interpretieren und feiernd herauszuheben. Obwohl Sakramente oftmals zu besonderen Anlässen wie Geburt und Heirat oder in Ausnahmesituationen wie schwerer Krankheit und Schuld ins Leben der Menschen treten, verschwinden sie nicht im Alltagsgeschehen. Sakramente sprechen mir zu, sie verdichten und sie lassen erfahrbar werden, was grundsätzlich und für mein alltägliches Leben gilt – die Gegenwart und den Heilswillen Gottes. 

So ist der Moment, in dem beispielsweise der Bund der Ehe geschlossen wird, ein punktuelles Ereignis. Doch wird mit diesem Ereignis eröffnet, dass die oft zitierten guten wie schlechten Zeiten, die da kommen mögen, niemals vollständig in das Gewöhnliche abgleiten werden, da die Ehe bleibend unter einem besonderen Vorzeichen steht. Die Taufe selbst ist ein Geschehen von wenigen Minuten, aber sie spricht dem Täufling ein für allemal zu, dass sein und ihr Leben gewollt ist und einen eigenen, nicht-verzweckbaren und an Vorbedingungen geknüpften Wert hat. In dem Sinne könnte man aus christlicher Sicht sagen, dass jedes einzelne Leben und jeder Alltag filmreif sind, allerdings ohne Abhängigkeit von Click-Zahlen und der perfekten Kameraauflösung. Wenn Vlogs einem helfen, diesen Gedanken wieder stärker in den Vordergrund zu rücken, dann habe ich meine persönliche Absolution in Sachen YouTube-Konsum gefunden. 

Hashtag der Woche: #celebratedailyroutine


(Beitragsbild: @harrycunningham1)

1 Hayley L. Cocker / James Cronin, Charismatic authority and the YouTuber: Unpacking the new cults of personality, in: Marketing Theory 17 (2017), 455-472.

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dr. cornelia dockter

ist Rheinländerin (Studium der Katholischen Religionslehre, Spanisch und Erziehungswissenschaften an der Universität zu Köln) im ostwestfälischen Ausnahmezustand (Promotionsstudium an der Theologischen Fakultät Paderborn, derzeit Postdoc an der Universität Paderborn).

2 Replies to “Von der Smoothie-Bowl zum Sakrament – Eine Zelebration des Alltags!

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