Der Synodale Weg offenbart die tiefe Spaltung der katholischen Kirche. In einem zweiten Teil überlegt Peter Hohler, wie auf der Grundlage der „Gewaltfreien Kommunikation“ weitere Schritte zu einer neuen Kultur des Verstehens möglich werden.

Ein Dialog, der einfordert, sich betreffen zu lassen, muss noch auf anderen Ebenen geführt werden: die grundsätzliche Analyse der Plausibilisierungsstrategien verbleibt ja auf der rationalen Ebene. Wer anders denkt, bleibt zunächst noch Gegner*in. Die eingeforderte und umstrittene Betroffenheit kann strukturiert werden, damit gerade die, die empathisch sind und sein wollen, nicht am Ende als noch mehr Enttäuschte und Verletzte nach Hause gehen. Viele kluge und empathische Menschen haben nämlich bei der ersten Plenarversammlung des Synodalen Weges schon ein weites Herz gezeigt – haben professionell, umsichtig und einfühlsam argumentiert. Ihnen kann es gelingen, bei den nächsten Synodalversammlungen auch die Verängstigten und Verletzten über die eigenen Vor-Urteile hinweg zu verstehen; wirklich zu hören, was sie*ihn innerlich bewegt, gerade wenn er*sie äußerlich grob oder gar verletzend wird.

„Gewaltfreie Kommunikation“ als Gesprächsgrundlage

Was gegen diese oft gewalttätigen Weisen der Auseinandersetzung, die aus der Entfremdung voneinander entstehen, helfen könnte, ist ein Gesprächskonzept, das der amerikanische Psychologe und Mediator Marshall B. Rosenberg entwickelte: die sogenannte „Gewaltfreie Kommunikation“ (GfK).1 Es klingt utopisch, mit der Weise den Dialog zu gestalten die Wirklichkeit tief zu verändern, aber Rosenberg hat damit in verschiedenen Konfliktregionen dieser Welt – etwa in Nordirland2 – mitgeholfen, dass sich Menschen gegenseitig wirklich verstehen konnten – und damit wohl auch Frieden finden. Grundsätzlich geht es darum, dem Gegenüber wieder erfahrbar zu machen, dass der*die jeweils andere nicht zuerst Gegner*in, sondern Mitmensch ist. Das lässt eine neue Kultur des Verstehens wachsen. Problematisch ist, dass es dazu wenigstens teilweise hierarchiefreie Räume braucht – die aber durch die GfK-Methode bis zu einem gewissen Maß auch erst eröffnet werden können. Nicht anzuwenden ist GfK in der direkten Konfrontation von Täter*innen und ihren Opfern. Hier geht der Schutz vor fortgesetzter psychischer Gewalt, vor der Gefahr der Retraumatisierung etc. vor! Was im Folgenden gesagt wird, gilt also für Dialogsituationen, in denen es Gegnerschaften gibt, beide Seiten aber ein gewisses Mindestmaß persönlicher Sicherheit haben.

Rosenbergs GfK-Ansatz besteht aus vier Schritten, vier Fokussierungen, die nicht sofort für die Äußerung gedacht sind, sondern zuerst einmal zur eigenen Bewusstwerdung: nach dem Beobachten, was hier und jetzt und konkret geschehen ist, wird im zweiten Schritt formuliert, was dieses Verhalten des*der andere*n ausgelöst hat: welche Gefühle sind in mir jetzt da? Ihren Grund haben diese Gefühle dabei nie im Verhalten des*der andere*n – sondern in meinen eigenen Bedürfnissen. Die sind es, die verletzt werden und in Mangel kommen. Und das spüre ich als Bedrohung, auf die ich mit Angst, Wut, Trauer, Ablehnung oder Verzweiflung reagiere. Wenn es gelingt, diese innere Wahrnehmung auch noch ins Wort zu bringen, ohne dem anderen damit „ein schlechtes Gewissen zu machen“, kann ich eine Bitte anhängen. Im besten Fall kann der*die andere sie hören. Und dann kann tatsächlich „die Magie passieren“ – meint Rosenberg und mit ihm viele andere – weil wir Menschen eigentlich ganz gerne hilfsbereit und sozial sind. Ich will ein Beispiel versuchen:

„Wenn ich höre, dass du nicht auf mein Argument eingehst, sondern mich als „unwissenschaftlich“ bezeichnest, merke ich, dass wir uns gar nicht mehr verstehen. Da werde ich traurig und ängstlich, aber auch zornig. Traurig, weil ich mir so sehr wünsche, dass wir gemeinsam glauben können, ängstlich, weil ich nicht mehr sehe, wie wir zukünftig miteinander Kirche sein sollen und zornig, weil ich gerne verstanden werden möchte. Kannst du dir bitte überlegen, was du an meinem Argument inhaltlich nicht nachvollziehen kannst und mir das sagen?“

Das ist furchtbar leicht gesagt und es ist furchtbar schwer umgesetzt. Am Anfang klappt es fast gar nicht, weil es nicht bloß Wissen, sondern auch Einsicht und Übung braucht. Es ist ein Weg der Trippelschrittchen – wie der Senfkornpfad des Reiches Gottes. Und sicher ist es besser, das nicht erst in der aufgeheizten Stimmung einer theologischen Auseinandersetzung auszuprobieren, sondern vielleicht zuerst einmal unter Freund*innen. Auch da lässt sich oft genug merken, dass es uns schwerfällt, so gut zuzuhören, dass wir die*den andere*n wirklich verstehen – nicht bloß ihre*seine Worte hören, sondern auch die Anliegen dahinter mit-spüren. Rosenberg ist aber der festen Überzeugung, dass GfK auch einseitig begonnen werden kann. Es braucht nicht schon eine fertige empathisch-offene Kultur – die kann auch erst langsam wachsen, wenn sie vorgelebt wird und andere dann einsteigen, weil sie angesteckt werden, wenn eine*r sich als herzlich-naher Mitmensch zeigt.

Gefahren und Chancen der Vulnerabilität

Das heißt gerade nicht, dass die, die schon verletzt wurden, die Opfer kirchlichen Machtmissbrauchs geworden sind, die Pflicht hätten, sich weiter verletzen zu lassen. Nur, um hier nicht missverstanden zu werden: GfK ist keine Strategie, sexuellen oder geistlichen Missbrauch „wegzuerklären“ oder zu verharmlosen. Aufklärung und Aufarbeitung sind Pflicht der Verantwortungsträger, also im hierarchischen System zuerst der Bischöfe – Missbrauch ist ein Verbrechen! Die Motive von Täter*innen und Mitwisser*innen können bis zu einem gewissen Grad verstanden, nicht aber entschuldigt werden.

Für alle, die über genügend Energie zur Empathie verfügen, gibt GfK (wenn Obengenanntes beachtet ist) weitere Handlungsoptionen: sich die Frage stellen zu können, was im Gegenüber* abläuft, hilft, ihn*sie nicht mehr als Feind*in erleben zu müssen(!), sondern als Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen. Wohlgemerkt: diese Bedürfnisse werden oft genug auf falsche und auf aggressive Weise erfüllt – sie zu verstehen, entschuldigt sie nicht, ermöglicht aber, nicht weiter Opfer im Hass zu bleiben.3 Das nämlich ist ja gerade das perfide an asymmetrischen Machtverhältnissen und ihrer Ausnutzung: dass die Täter*innen ihr Leben ungestraft weiterleben können, während die Opfer sich oft noch selbst Vorwürfe machen, jedenfalls immer wieder gesagt bekommen, dass sie jetzt doch endlich einmal verzeihen sollten. Nochmal: es gibt keine Pflicht zur Versöhnung! Aber um ihrer selbst willen sollte Betroffenen Wege gezeigt werden, die eigene Ablehnung, den eigenen Hass auf die Täter*innen in irgendeiner Weise zu verändern.

Für den Dialog auf dem Synodalen Weg, der vor dem Hintergrund sexuellen Missbrauchs geführt wird, der aber viele andere Themen behandelt und doch meist auf der Voraussetzung asymmetrischer Machtverteilung stattfindet, gilt dann: Wer den*die andere versteht, muss ihm*ihr nicht Wissenschaftlichkeit, Vernunft oder politische Legitimität absprechen oder sie*ihn mit Argumenten ad personam beleidigen und mundtot machen.

Das Problem dabei ist, dass, wer auf diese Weise über die eigenen Gefühle spricht, sich unglaublich verletzlich macht. Es ist so leicht, jemanden zu demütigen, wenn er ein Stück seiner Intimität öffnet. Tatsächlich zeichnet sich da aber ein neuer Stil, eine zukünftige Art von Menschen ab, die – vielleicht zaghaft noch, aber doch nachhaltig – lernt, dass Verletzlichkeit eine unglaubliche Macht entfaltet.4 Diese Bewegung hat spätestens vor 2000 Jahren begonnen, als sich der Mann aus Nazareth bis ans äußerste vulnerabel zeigte – bis seine Wunden sein eigentliches Erkennungszeichen wurden.5 Nicht die Bischofspalais sind die Zeichen der wahren Macht des Christentums, sondern die Hoffnung, mit der die Glaubenden ihr Leben angehen. Wie viel Würde und Überzeugungskraft darin steckt, das haben die Held*innen der ersten Synodalversammlung gezeigt – und der lange (teils sogar stehende) Applaus, den sie bekommen haben. Die erschreckende Kaltschnäuzigkeit einiger weniger Synodenteilnehmer (!), die ihre Verachtung noch dadurch zeigen, dass sie statt zuzuhören – selbst bei geistlichen Impulsen – lieber ins Handy starren, ist umso mehr verletzend!

Gewaltfreier und paradox-emphatischer Widerstand

Hat also eine solche Kultur der Vulnerabilität, eine solche Art zu sprechen, sich mit Emotionen und Bedürfnissen zu zeigen, überhaupt eine Chance in einem Format wie dem Synodalen Weg? Braucht nicht ein Gespräch von Herz zu Herz einen viel geschützteren, intimen Raum – und nicht ein Plenum, in dem per Geschäftsordnung die Dialogregeln festgelegt werden müssen, damit die bischöfliche Diskurshoheit einer mächtigen Minderheit – die etwa den strategischen Vorteil einer notwendigen 2/3-Zustimmung hat – wenigstens etwas eingehegt wird? Wie gesagt: die Übe-Orte dieser anderen Kultur werden wohl zuerst in den Kaffeepausen sein. Wenn wir als Kirche aber wirklich weiterkommen wollen, darf es nicht bloß Gewinner und Verlierer an den Frontstellungen des Diskurses geben. Stattdessen müssen diese Frontstellungen überwunden werden: den*die andere*n mit ihren*seinen Bedürfnissen zu verstehen, ihn*sie wieder als Mensch zu erleben, ist ein erster Schritt dahin.

Der Traum der Christ*innen, „ein Herz und eine Seele“ (Apg. 4,32) zu sein, ist noch nicht ausgeträumt. Gewaltfreier, paradox-empathischer Widerstand gegen klerikale Machtentfaltung funktioniert und steckt an, das konnte man in Frankfurt beobachten. Langsam zwar, aber nur scheinbar schwach. Ich bin gespannt, welcher Bischof sich als erster trauen wird, die (teils gönnerhaft zur Schau gestellte) Haltung des Zuhörens zu verlassen und selbst authentisch vom eigenen Glauben und Zweifeln gegenüber der realen Situation des Katholizismus erzählt. Echte Gleichrangigkeit herzustellen, bleibt auch in einer empathischen Kultur die Aufgabe derer, die die mächtigeren Positionen im Diskurs einnehmen. Sie zu überzeugen ist aber auch aus anderen Richtungen als von oben her möglich. Konkrete Schritte, wie etwa eine bischöfliche Selbstverpflichtung zur Umsetzung synodaler Voten soweit diözesan möglich, könnten jetzt schon kommen – gerade als Konsequenz des gewachsenen Bewusstseins für das Leiden und Hoffen der anderen*.

Was wäre, wenn alle miteinander spüren würden, dass es jeder und jedem darum geht, „den Seelen zu helfen“? Das würde zuerst einmal den Stil ändern, eine neue Kultur etablieren. Und dann wachsen aus den Verwundungen – aber das ist immer die überraschende Gnade des Heiligen Geistes – auch die konkreten Lösungen, von denen Paulus meint, dass sie „in der Schwachheit vollendet“ werden (2 Kor 12,9).

Hashtag: #SynodalerWeg


(Beitragsbild @Raka Rachgo)

1 Vgl. Marshall B. Rosenberg, Das Herz gesellschaftlicher Veränderung. Wie Sie Ihre Welt entscheidend umgestalten können : gewaltfreie Kommunikation: die Ideen & ihre Anwendung, 2. Auflage, Paderborn, 2016.

2 Vgl. Center for Nonviolent Communication, Marshall B. Rosenberg, PhD. 1934 – 2015. Our Founder, https://cnvc.org/about/marshall, [Rev: 1.2.2020].

3 Vgl. Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden (Herder-Spektrum; Bd. Band 6823), Neuausgabe, Freiburg – Basel – Wien, 2017, 24-25. 45-47.

4 Vgl. Brené Brown, The power of vulnerability, TEDxHouston, 2010, [Rev: 17.01.2020].

5 Vgl. Hildegund Keul, Macht ausüben, aber nicht missbrauchen., futur2, 2019, [Rev: 26.01.2020].

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peter hohler

ist Priester der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Nach Studien in Tübingen, Jerusalem und Rom arbeitet er derzeit als Bischofssekretär und schreibt seine Dissertation in Pastoralpsychologie.

One Reply to “Synodengänger*innen: Kultur der Vulnerabilität”

  1. Vielen Dank für diese tollen Gedanken, Peter! Bin im Kleinen immer wieder am Entdecken, wie gut und wichtig GfK und Glaubenskommunikation zusammengehen. Deine Ausführungen im Kontext des Synodalen Wegs sind hier eine große Bereicherung!

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