Abertausende Menschen singen in Kirchenchören. Annika Schmitz schreibt über ein Hobby, das viel mehr ist als schmückendes Beiwerk zur Liturgie, sondern in dem sich kirchliche Gemeinschaft konkretisiert.

Wenn Hammerschmidts Machet die Tore weit durch den Probensaal hallt, dann ist es bald Advent. Wenn das klagende Tenebrae factae sunt gesungen wird, dann geht es auf die Fastenzeit zu. Und ein getragenes Selig sind die Toten ist ein untrügliches Anzeichen für das nahende Allerseelenfest: Chorsänger*innen haben ihre ganz eigene Art, das (Kirchen-)Jahr zu bestimmen und befinden sich dabei in einer seltsamen eschatologischen Spannung. Denn während der Kirchenraum noch in tiefes Violett gehüllt ist, proben sie bereits die Halleluja-Rufe für das Osterfest. Im Hochsommer läuft draußen die Grillsaison auf Hochtouren, drinnen dringen bereits die ersten Takte von Bachs Weihnachtsoratorium durch den Raum. Jauchzet, frohlocket im August, die Passionen zu Beginn des neuen Jahres; und weil die Probenzeit nach Ostern kurz ist, gibt es ein Ascendit Deus bereits in den Fastentagen.

Participatio actuosa – nicht nur in der Liturgie

Der seit dem Zweiten Vaticanum beliebte Begriff der ‚tätigen Teilnahme‘ der Gemeinde an der Liturgie wird, und das unterstreicht nicht zuletzt Sacrosanctum Concilium, im liturgischen Gesang konkret.
Das ist ein wichtiger und richtiger Aspekt, doch er greift zu kurz. Kirchenchöre kommen ihrem Verkündigungsauftrag ja nicht lediglich im Rahmen der Liturgie nach, sondern sie gestalten aktiv das Leben ihrer Sänger*innen.

Und deren Engagement ist nicht zu unterschätzen. Unter ihnen sind junge Menschen, die abends zu Taylor Swift tanzen, nachdem sie sich am Nachmittag mit den Werken von Schütz, Rheinberger und Konsorten befasst haben. Sie leben nicht in verschiedenen Welten, sondern ihre Welt ist jene, die die säkulare genauso wie die religiöse Sphäre umfasst und in der ihre Stimme Gewicht hat. Sie lernen, dass sie Kirche aktiv mitgestalten. Sie lernen Tradition nicht nur kennen, sondern sie lernen vor allem auch sich zu ihr zu verhalten. Heraus kommen mündige Christ*innen, die sich frei und unbefangen im Kirchenraum bewegen, und die ganz selbstverständlich von „ihrer“ Kirche sprechen, sich als Teil von ihr verstehen, und bei der langatmigen Sonntagspredigt trotzdem lieber Bullshit-Bingo spielen, nur um anschließend das gregorianische Credo auswendig in die Kathedrale zu schmettern.

Es geht längst nicht nur ums Singen

Denn es geht nicht nur um den genuin liturgischen Inhalt, es geht nicht einmal nur ums Singen. Der erste Schritt zur gemeinsamen Musik ist nicht der gesungene Ton, sondern das Zuhören. Chormusik ist kein Individualsport. Hier geht es um eine Gemeinschaft, die trotzdem angewiesen ist auf die*den Einzelne*n.

Große Chorverbände wie die Pueri Cantores, die alleine in Deutschland mehr als 20.000 Sänger*innen umfassen, haben es sich zum Auftrag gemacht, in internationaler Kooperation ihre drei Säulen – Lob Gottes, Begegnung in Freundschaft und Einsatz für den Frieden – umzusetzen. Sie wollen

die kirchlichen Knabenchöre, Mädchenchöre, Kinderchöre und Scholen in Deutschland in ihrer musikalischen, kulturellen, erzieherischen und religiösen Arbeit […] unterstützen und ihre gegenseitige, freundschaftliche Verbundenheit, wie die mit den Pueri Cantores anderer Länder […] fördern, und die Gründung neuer Chöre und Scholen anregen.1

Denn ein Kirchenchor ist nicht nur Chor, sondern er ist Kirche. In diesem konkreten Fall heißt dies: Er ist Gemeinschaft; oftmals eine, die über Jahre hinweg das Leben der Einzelnen prägt. Die tausenden Kirchenchöre, sie sind das singende Gottesvolk, in dem sich die ökumenische Weite des Christentums im Spektrum musikalischer Genres abbildet.

Der Kirchenchor: Paradebeispiel für eine gelingende Ekklesiologie?

Die großen theologischen Fragen unserer Zeit werden auch und vor allem auf dem Gebiet der Ekklesiologie verhandelt. Was sind unsere Visionen von und für die Kirche? Wie wird Kirche vor Ort bereits gelebt – vielleicht sogar unabhängig von den Debatten, die theologisch und lehramtlich verhandelt werden? Wer hat die Deutehoheit über die Definition dessen, was Katholizismus bedeutet?

Die Dynamik von Chören ist sicherlich nicht als umfassende ekklesiologische Skizze zu verstehen, aber in ihr lassen sich doch Aspekte finden, die als Ideen in die Debatten eingebracht werden können. Ein Kirchenchor ist, wie der Kölner Domkantor Oliver Sperling jüngst in einem Interview sagte, kein Selbstzweck, sondern seine Daseinsberechtigung resultiere aus dem Gefühl, etwas für andere zu tun. Das sei, so Sperling, der pastorale Auftrag und gelebte Nachfolge Christi, die nicht nur theoretisch ist.2
Zusammenfassen lässt sich dies wunderbar in folgender Liedstrophe aus dem Gotteslob:

Gottes Stern, weiche nicht aus dem All der Welten.
Der gold‘ne Schrein, der gold‘ne Stern, sie führen uns zu Gott, dem Herrn.
Gottes Volk, sei selbst der Stern, Zeichen Gottes nah und fern.
Wir haben seinen Stern gesehen und bringen die Freude.3

Es wird hier auf das Volk Gottes rekurriert, das selber zum Verheißungsträger wird und Freude bringt – und vielleicht ist dies die eigentliche Aufgabe von Musik.

Doch dabei bleibt es nicht. Chöre können zeigen, wie Gemeinschaft, die durchaus von verschiedenen Rollen geprägt ist, als Gemeinschaft funktionieren kann. Das spricht zum einen auf die Individuen mit ihren je eigenen – oftmals tiefen freundschaftlichen – Beziehungen untereinander an; aber auch auf das Verhältnis der Dirigent*innen als Leitungsperson zu den Sänger*innen. Fallen letztere aus, bleibt vom Chor eine einsame Person mit in der Luft wedelnden Armen übrig, deren Zeichen niemand mehr zur Kenntnis nimmt, umsetzt oder gar versteht. Ein Chor funktioniert nicht nur nicht ohne seine Sänger*innen, er existiert schlichtweg nicht. Ließen sich aus diesen voneinander abhängigen Beziehungen heraus nicht Ideen für eine wirklich gemeindeorientierte Ekklesiologie entwickeln?

Und zum Schluss: Lautes Singen ist einfach, leises Singen hingegen ist schwer und will geübt sein. Hinter einem lauten Brüllen verstecken sich oft die am wenigsten stichhaltigen Argumente. Vielleicht wäre man gut beraten, das Konzert der Brüller*innen zu verlassen und sich stattdessen auf diejenigen Stimmen zu konzentrieren, die die Polyphonie erlernt haben.

Zu guter Letzt: Ein Mädchenchor ist immer auch ein theologisches Statement

Meine Heimat sind die Dommusiken, und meine erste Liebe galt dem Mädchenchor am Kölner Dom. Dieser Chor war meine Gemeindepfarrei. Hier bin ich groß geworden, mit diesen Menschen habe ich die Sakramente empfangen, Höhen und Tiefen durchstanden, im Winter im Dom gefroren, so manche schiefe und noch mehr schöne Töne gesungen, fast meine gesamte Freizeit verbracht und die Feiertage und Ferien noch zudem; jener Chor, der mir gezeigt hat, wie Kirche (auch) sein kann, ist vielleicht der Grund, warum ich von ebendieser Kirche nicht lassen kann.

Unser Paradestück als Mädchenchor über die Generationen von Sängerinnen hinweg war das Laudi alla vergine Maria, das Lob an die Gottesmutter, das aus Verdis Quattro pezzi sacri stammt. Ihm liegt kein liturgischer Text, sondern ein Gebet aus Dante Aligheries Divina Comedia zugrunde, jenem der Theologie so zugewandten und zugleich so kritischen Werk.
Und während auch in Köln mitunter die Diskussionen aufkamen, wie viel Mädchenchor einer Kathedrale wohl guttut, singen in ebenjener Kathedrale junge Mädchen und Frauen das Lob auf die Frau in der Kirche. Sie stehen dabei aufrecht da und gucken nach vorne. Sie behaupten ihren Platz in dem großen Kirchenraum und setzen ihre Stimmen zur Verkündigung ein.
Und insofern ist ein Mädchenchor auch ein Statement. Er zeigt, dass das Ende vom Lied noch nicht gesungen ist: Denn wer singt, lässt sich nicht mundtot machen.

Hashtag der Woche: #singingchurch


(Beitragsbild @David Beale)

1 Aus der Satzung der Pueri Cantores, zitiert nach https://pueri-cantores.de/ueber-uns/leitbild-und-geschichte/

2 Vgl. Domkantor Oliver Sperling im Interview mit dem Domradio am 15.09.2019. Hier online abrufbar. 

3 „Gottes Stern, leuchte uns“, aus dem Gotteslob Nr. 259, Text und Musik: Oliver Sperling/Christoph Biskupek.

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

2 Replies to “Von Palestrina bis Pärt oder auch: Vom singenden Gottesvolk

  1. Sehr guter Beitrag! Spricht mir in vieler Hinsicht aus der Seele. Bei mir waren es verschiedene Posaunenchöre, die mich über Jahrzehnte und mehrere Umzüge hinweg bei und in der Kirche gehalten haben. Breit grinsen musste ich beim erwähnten Bullshit-Bingo während der Sonntagspredigt, weil ich mich auch darin wiederfinde, zumindest sinngemäß, wenn auch heute weniger als früher.

  2. Danke für diese wertvollen Beobachtungen! Nicht zu verachten ist auch der integrierende (missionarische?) Aspekt von Chören: Ich bin immer wieder fasziniert, wie kirchenferne Menschen, die gern singen, durch Chöre und Kirchenmusik Interesse an Kirche bekommen und gemeinschaftlich bereits eingebunden sind, obwohl sie sich inhaltlich von vielen Kirchendingen distanzieren und nie wegen einer Predigt oder sonstigen Veranstaltung in die Kirche gekommen wären.

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