Auf dem Weg zum Broterwerb, in unserer Lieblingskneipe, nicht einmal auf der Toilette haben wir Ruhe vor Stickern. Jung, hip und selbstklebend machen die kleinen Kunstwerke auf allerlei Dinge aufmerksam. Wie genau sie als Kommunikationsmittel funktionieren fragt sich Carina Krieger.

Susi (Name von der Künstlerin geändert) stand im weiß gekachelten Duschraum des Schwimmbads, als sie Zeugin einer Szene wurde, deren Ästhetik ihr lange im Gedächtnis bleiben sollte. Vor ihr standen vier nackte alte Damen in einer Reihe hintereinander und seiften sich gegenseitig ihre Rücken ein. Sie halfen einander aus an den Stellen ihrer Körper, an die sie selbst nicht mehr leichthin herankamen und formierten sich dazu als surreal gleichmäßige Menschenkette.
Susi beobachtete die Frauen und war kurz ganz paralysiert von der Optik dieser liebevollen Geste und davon, mit welcher selbstverständlichen Distanzlosigkeit die Freundinnen ohne falsche Scham ihre wunderbar anti-idealen Körper zeigten. Ihre Haut hatte an Straffheit verloren über die Jahre, aber nichtsdestoweniger offenbarte ihr Anblick eine eigene Schönheit in diesem Moment.

Selbstklebende Multiplikatoren

Das Bild der „Waschweiber“-Szene, wie sie es nennt, zeichnete sich Susi von der Seele, um diesen besonderen Augenblick der Nähe festzuhalten. Und um auch andere daran teilhaben zu lassen, ließ sie Sticker drucken mit diesem Motiv und klebte sie auf Flächen in der Öffentlichkeit oder verschenkte sie an Freunde und Bekannte. Warum als Sticker? Sie hatte auch überlegt, ob sie ein Bild der Frauen als Graffiti an eine Hauswand sprayen sollte. Oder vielleicht ein Poster im Schwimmbad des Geschehens anbringen? Aber sie entschied sich, das Motiv in selbstklebender Ausführung zu vervielfältigen und zu streuen, indem sie es nicht nur einmal, sondern an mehreren Orten veröffentlichte.

Ihre Sticker-Kunst ist nicht politisch und Susi sagt, sie fordert damit nichts. Sie fand es spannend, wie viele Interpretationen der Sticker hervorruft und wie positiv das Bild aufgenommen wurde, wenn sie es Freund*innen, Bekannten und ihrer Familie zeigte. „Jede*r, der*die es anguckt, muss lachen. Das fand ich super schön im Nachhinein“, sagt sie. Susi wollte eigentlich nur die Realität nachzeichnen, dieses schräge Bild. Ihre Oma sah darin dann aber „Nächstenliebe natürlich“. Und ich las darin ein Aufbrechen von Körperidealen bzw. eine Konfrontation mit tabuisierten Körperformen, die dem propagierten Schönheitsideal entgegenstehen. Gerade weil Susi keine klare Botschaft vermitteln will – denn das macht für sie Kunst aus: offen konzipiert und nicht auf einen klaren Sinn hin bestimmt zu sein, ohne richtig und falsch – entsteht mit ihrem Sticker ein großer Interpretationsspielraum, der sich kritisch oder hoffnungsvoll, humorig oder identifikatorisch füllen lässt. Dabei will Susi Betrachter*innen an dem Punkt abholen, wo sie sich gerade gedanklich befinden. Und nebenbei hinterlässt sie eine Spur in der Welt.

Mit Stickern Regeln brechen und Normen brechen

Sticker sind gewissermaßen streetart, sie sind aber nicht unbedingt angewiesen auf die Straße als Entfaltungsraum. Als Identifikationsmarker sind sie häufig auch auf Laptop-Deckeln oder in Privat-Haushalten zu sehen. Mit dem Stickern bewegt man sich in einem Graubereich der Legitimität. Man verändert das Erscheinungsbild einer fremden Sache vorübergehend und verstößt so gegen StGB § 303. Anders als bei Graffiti ist das aber ein geringfügiges Vergehen, insofern das Entfernen meist keines allzu großen Aufwands bedarf. Darum passiert es dann auch schnell, dass ein Sticker, kaum dass man ihn geklebt hat, auch schon wieder abgezogen ist. Sticker-Aktionen können also recht kurzlebig sein und gestalten sich so als sehr dynamisch. Susi klebt auch gerne in Toilettenkabinen oder an Bushaltestellen. „Da hat man nichts zu tun, da muss man gucken.“ Sticker kleben notwendig unkonventionell. Sie stören und infiltrieren bzw. torpedieren Sehordnungen und verwandeln funktionslose Flächen in Medien für Kunst und Gesellschaftskritik. Sie greifen ein in die Ordnung des urbanen Raumes. Soweit, so evident. Aber weiter wäre nun zu fragen: Beeinflussen sie auch die Ordnung unseres Denkens? Dass sie zumindest über Potential dazu verfügen, ist meine These.

Ich nehme die Sticker-Kultur als einen Teil des Diskurses wahr, in dem Randpositionen vertreten werden können und vom massenmedialen Norm-Diskurs (etwa durch Radikalität oder schlechte Anschlussfähigkeit) abweichende Haltungen ihren Platz finden. Das Verhältnis, in dem einige dieser Haltungen zu im Dispositiv (also in der Wissens- und Handlungsmatrix, die bestimmt, was sinnhaft und damit legitim ist) gefestigten Denk- und Handlungsmustern stehen, ist ein störendes. Sticker können intervenieren und installieren Brüche im Denken. Wer sich z.B. weitestgehend unkritisch in der Ernährungswelt bewegt, für den ist Fleischkonsum etwas ganz Normales. Macht man halt so, das Tiere essen. Mit diesem dogmatischen und kulturell eingeübten Gedanken brechen die Sticker der vegan/vegetarisch-Community. Auf vielen Stop-Schildern hat sich der „Stop eating animals“-Aufkleber eingeschlichen, der trickreich und effektiv Aufmerksamkeit generiert. Ziel des Störens ist es zu irritieren und damit eine gedankliche Rekapitulation dessen hervorzurufen, was als normal gilt, obwohl es klare Anlässe gibt, es anzuzweifeln.

Nicht alle Sticker sind also Kunst in dem Sinne, in dem Susi sie versteht (und okay, sehr viele, viel zu viele, sind Werbung – denn alle unsere Lebensbereiche sind durchzogen von Konsum, let’s face it). Und viele Sticker sind lang nicht so ‚bekömmlich‘ wie der von Susi. Sticker können Kritik sein, die uns mit der Nase auf die Unangemessenheit oder Überdenkenswürdigkeit von (teils überkommenen, teils ‚modernen‘) Handlungsnormen drückt, die wir unreflektiert im Alltag reproduzieren.

manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen

Kritik ist dabei nicht gleich Kritik. Ich will hier die urteilende Kritik von der hinterfragenden Kritik unterscheiden. Urteilende Kritik tritt klassischerweise in Form von Ablehnungshandlungen auf bzw. wird ausgedrückt über Diesdas-ist-schlecht-Aussagen. Eine klare Ablehnung drückt so etwa das Akronym acab aus (das in Insiderkreisen ausbuchstabiert wird zu all cops are bastards) oder wird auch getragen von der Konstruktion Kannste schon machen, aber dann [Kopula] [Subj] halt [negativ besetztes Adjektiv], z.B.: AfD wählen? Kannste schon machen, aber dann biste halt unsozial. Als semiotischer Klassiker der Ablehnung wäre außerdem die häufig rote Durchstreichung zu nennen.

Die hinterfragenden Sticker bedienen sich nicht der Urteilsform des Das-ist-schlecht, sondern zielen mit ihrem fragenden Duktus darauf ab, Nicht-Offensichtliches an die Oberfläche zu befördern. Statt der Ablehnung eines bestehenden Elements in der Welt wird hier erst die Problemhaftigkeit von bestimmten Zusammenhängen oder Gewohnheiten überhaupt zugänglich gemacht. Dass diese Zugänglich-Machung die eigentliche Funktion von Kritik sein soll, stellt Franziska Brückner1 heraus (und folgt darin dem Kritik-Begriff nach Foucault2 und Butler3), wenn sie schreibt:

„Das Fragenstellen, etwas in Frage zu stellen, um damit auf das Nicht-Gesagte, auf das Nicht-Sichtbare, vielleicht auch auf das Noch-Nicht-Hergestellte zu verweisen – nur das ist Sinn und Zweck von Kritik. Kritik gibt dem Noch-Nicht der Welt Raum.“

Das soll nicht bedeuten, dass alles Hinterfragende auch im Frageformat auftritt. Das Ins-Wanken-Bringen von Gefestigtem kann in diversen sprachlichen Formen auftreten. Ein Sticker, der aus der Plakatkunst-Aktion Mut zur Wut4 hervorging, reflektiert so zum Beispiel das Handy-Verhalten der Passant*innen und bedient sich dabei ironisch-hyberbolisch stilisierter Behauptungen:

Er macht zwei konstative Aussagen: Das von Weitem lesbare you are your phone fungiert als aufmerksamkeitssichernde Provokation und erscheint als eine Art Vorwurf. Die Gleichsetzung von Mensch und Maschine deutet das überspitzte Szenario an, der Mensch könne völlig in seinem Smartphone aufgehen. Darin ist eine Kritik am exzessiven Nutzungsverhalten von Handys angelegt. Auf den zweiten Blick ist dann zu lesen: Congratulations your are not looking at your phone. Durch diese Modifikation wird der Vorwurf umgekehrt in eine außerordentlich positive Rückmeldung – eine Gratulation. Der kritische Effekt bleibt aber derselbe. Denn weiterhin stellt sich die Frage: Was ist das für eine Welt, in der das Nicht-aufs-Handy-Schauen ein so besonderer Moment ist, dass dafür Glückwünsche relevant werden? Aber dass wir uns im ersten Moment gut fühlen dabei, für unser vermeintlich unabhängiges Verhalten auf die Schulter geklopft zu bekommen, verrät uns, dass der Sticker irgendwie einen Punkt hat. Der Sticker hat uns ertappt (bzw. wir selbst haben uns beim Lesen des Stickers ertappt), aber statt zu erklären, dass da etwas falsch liegt, ruft er Fragen in uns wach.

Bitte nicht stören!

Dieser Ertappungseffekt vollzieht sich in einem Zweischritt. Zunächst wird ein Gegenstand bestimmt und als gedankliche oder als Verhaltens-Norm aufgezeigt. Dabei handelt es sich um vermeintliche Selbstverständlichkeiten, innerhalb derer wir uns stets unkritisch bewegen. Dies kann das Aufs-Handy-Schauen betreffen, aber auch z.B. Fleisch-Konsum, oder Sprachgebräuche wie die Rede von „illegalen Menschen“, gegen die sich sprachkritisch der Slogan kein mensch ist illegal einsetzt. Um die Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren, wird dann im zweiten Schritt die Norm performativ gebrochen. Der Sticker installiert ein Anders-Denken. Er baut einen Verständniskontext auf, in dem ein generelles Hinterfragen stattfinden kann. Auch hier gibt es, wie Susi es von ihrer Kunst auch erwartet, kein ganz klares Richtig oder Falsch. Sondern eigentlich sollen die Betrachter*innen auf sich selbst zurückgeworfen werden – auf sich und ihre Gewohnheiten und ihr Beherrscht-Sein durch Handlungsroutinen des Alltags. So vollziehen die Sticker ein Undoing-Norm5.

Ein Sticker ist eine sich aufdrängende Botschaft. Wir können damit etwas an die urbane Öffentlichkeit kommunizieren – und das heißt auch an Menschen, die sich zuvor nicht bewusst dafür entschieden haben, unserer Botschaft zu begegnen. Einerseits können wir das aktiv tun, indem wir Sticker herstellen und uns darin entweder künstlerisch oder kritisch ausdrücken. Andererseits rezipierend, indem wir auf die Sticker achten und uns die Mühe machen, die nicht-kommerziellen, persönlichen und gesellschafts-relevanten Sticker von dem, was Werbung ist, zu sondieren. So verschaffen wir denen Gehör und Aufmerksamkeit, die womöglich etwas Kreatives, Kritisches, Innovatives zu sagen haben. Die Straße wird so zu einer Art Galerie von Ansichten: in Form von Kunst und Schönem einerseits, aber auch von (kritischen oder ungewöhnlichen) Perspektiven und Meinungen andererseits. Auf dieses Potential wollte ich hinweisen und hoffe, damit den ein oder die andere ermutigen zu können, die Stadt nicht den Werbe-Tigern zu überlassen, sondern sie auch als Meinungsraum wahrzunehmen und womöglich aktiv-kreativ mitzugestalten. Denn man kann die diskursiven Ordnungen stören, die einen stören.

Hashtag der Woche: #gestört


(Beitragsbild: @timoun; Bilder im Text: Carina Krieger)

1 https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/18546/mira.pdf

2 Michel Foucault: Was ist Kritik, Berlin: Merve Verlag 1992.

5 Hier lehne ich mich terminologisch an das Konzept des Doing Gender an. Diesem Ansatz zufolge wird Geschlecht als kulturelle oder soziale Kategorie, die normativ verankert ist, über performative und interaktive Vollzüge hergestellt. Daran anknüpfend will ich die Handlungsform des Störens als Umkehr-Bewegung dieser normativen Festschreibung (als Verqueerung?) verstehen.

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carina krieger

arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim und studiert germanistische Linguistik und Philosophie in Heidelberg. Weis- und Wahrheiten isst sie sezierend mit Messer und Gabel. Neben Sprachlichem und abstrakten Denk-Dingen liebt sie ihr Pony.

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