In der Rubrik Spoiler Alert liefern wir kurze und knackige Texte über (pop)kulturelle Niceigkeiten. Neue Platten, Video-Spiele, Essaysammlungen und Romane, Theaterstücke — nichts ist vor uns sicher. Über die aktuelle Fortsetzung der Netflixserie Black Mirror berichtet Max Tretter und deutet sie als digitale Adaption klassischer dystopischer Erzählungen.

Seit 2011 überrascht und verstört die (ehemals HBO, jetzt) Netflixserie Black Mirror regelmäßig mit ihren dystopischen Technikszenarien und beklemmenden Gesellschaftsprognosen. Ihr Erfolgsrezept besteht darin, gesellschaftliche Trends und sich noch in den Kinderschuhen befindliche technische Entwicklungen weiterzudenken und deren Auswirkungen auf Individuen und Gesellschaften bild- und emotionsstark durchzuspielen. Damit eröffnet sie einen düsteren Blick in andere, mal futuristischere, mal wirklichkeitsnähere Welten, die (erschreckend) möglich erscheinen – eben einen Blick durch den Black Mirror. Am 05. Juni gewährte die Serie durch die Veröffentlichung ihrer mittlerweile fünften Staffel Einblicke in drei weitere solcher Szenarien.

Striking Vipers: virtuelle (Selbst-)Zerrüttung

Bei Striking Vipers handelt es sich um ein totalimmersives VR-Kampfspiel, das es den Spielenden erlaubt, die Wahrnehmungen ihrer Spielcharaktere im Real-Life nach- bzw. mitzuempfinden. Mithilfe dieses Spiels finden auch die sich mittlerweile in ihren Spätdreißigern befindenden Jugendfreunde Danny und Karl wieder zusammen; doch anstatt sich gegenseitig spielgemäß zu verprügeln, treffen sie sich regelmäßig, um in den Personen ihrer Charaktere virtuell miteinander zu schlafen. Diese Erfahrung erleben beide derart eindrücklich, dass sie nicht nur ihre Sexualität hinterfragen, sondern auch ihre Persönlichkeiten umstrukturieren und sich aus ihrem gewohnten Umfeld und von ihren Partnerinnen entfremden…

Smithereens: der Fluch des Social Web

Smithereens inszeniert ein Geiseldrama, in welchem der Protagonist Chris einen Mitarbeiter der namensgebenden Social Media Firma Smithereens entführt, um im Tausch für dessen Leben ein persönliches Telefonat mit dem Firmengründer Billy zu erpressen. Als es schließlich zur Aushandlungssituation kommt – Chris und sein Opfer James stecken in einem Fluchtauto im Acker fest, umgeben von Polizist*innen und Spezialkräften und per Smartphone mit der obersten Smithereens-Führungsebene verbunden – entpuppen sich die Ablaufstrukturen des Social Web nicht nur als großes Vermittlungshindernis sowie als tragische Ursache für das Geschehen, sondern offenbaren auch ihre unkontrollierbare, machtvolle Eigenlogik…

Rachel, Jack and Ashley Too: Identitätsdramen und kreative Ausbeutung im KI-Zeitalter

Die dritte Episode verbindet die Lebensgeschichten der sozial wenig integrierten Teenagerschwestern Rachel und Jack mit dem Schicksal der Popikone Ashley O. Bei einem (miss-)glückten Reparaturversuch hacken die beiden Teenies versehentlich ihre Ashley Too – eine dem Popstar nachempfundene KI-Puppe, von der sie nicht nur regelmäßig Styling- und Verhaltenstipps bekommen, sondern die sie auch als seelsorgerliche Gesprächspartnerin heranziehen. Durch diesen Hack gelangen sie an Informationen über ein Komplott um die reale Ashley O: diese wurde von ihrer Managerin vorsätzlich in ein künstliches Koma versetzt, um mittels Brain-Computer-Interface-Technologie ihre komatöse Kreativität anzuzapfen, in Musik zu verwandeln und abschließend zu monetisieren…

Fazit: klassische Dystopie, digital aktualisiert

Drei Blicke durch den geschwärzten Spiegel, drei alternative Realitäten, drei warnende Ausrufezeichen. Doch was bleibt hängen von der dreimal 50 Minuten andauernden Konfrontationstherapie?

Ob nun Striking Vipers die neuen Herausforderungen eines virtuellen Eintauchens in digitale Welten für persönliche (Selbst-)Beziehungen erfragt … Ob Smithereens die Abwege der Omnipräsenz und des Dauergebrauchs von Social Web inszeniert … Oder ob Rachel, Jack and Ashley Too die Themen Identitätsentwicklung und (kreative) Ausbeutung vermittels sprachassistierter Roboter und Gehirn-Computer-Schnittstellen neu durchdenkt…

Stets folgen die Episoden der pragmatischen Struktur klassischer Dystopien und zielen auf themenspezifische Cave– und Memento-Momente: sie durchbrechen den unhinterfragten Gebrauch bestimmter Technologien oder die unkritische Akzeptanz gesellschaftlicher wie technischer Entwicklung, indem sie diese zu einem schlechtmöglichsten Ausgang fort-inszenieren. Damit bewirken sie auf unterhaltende Weise ein einhaltendes Stocken, stoßen (idealerweise) weitere (Selbst-)Reflexionsprozesse bzgl. der Gegenwart wie der erhofften Zukunft an und bieten einen Appell zum präventiven Handeln.

Als quasiprophetischer Ruf stilisieren die Episoden die Gegenwart (manchmal implizit, manchmal sehr explizit) als entscheidenden, zukunftsweisenden Krisismoment, durch den trotz aller unhappy endings ein Hoffnungsschimmer – ein „noch ist es nicht zu spät“, „noch ist Zeit zu handeln“ – auf das reale Hier und Jetzt fällt. Damit folgt die fünfte Staffel nicht nur dem Erfolgsrezept der vorangegangenen viereinhalb Staffeln – auch wenn sie (leider) an deren gestalterische Genialität nicht heranreicht –, sondern erweist sich geradezu als digitale Adaption der „klassischen dystopischen Erzählung“.


(Beitragsbild: @michaelmroczek)

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max tretter

ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie II (Ethik) in Erlangen. Er begeistert sich für Hip Hop, Pop- und Internetkultur sowie Digitales.

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