Céline Dions Lieder sind weltweit bekannt und fallen trotzdem nicht zwangsläufig unter das Urteil des „guten Geschmacks“. Damit sind sie Ausgangspunkt der Überlegungen von Florian Klug, der über Scham und Selbstwerdung (und Theologie) nachdenkt.
Um Céline Dion mit der akademischen Theologie in Verbindung zu bringen, braucht es einen kleinen Umweg, welcher es aber wert ist, gegangen zu werden. Zwar stammt Céline Dion aus einem katholischen Elternhaus im frankophonen Kanada, aber ihre Verbindung zur wissenschaftlichen Diskussion führt nicht automatisch in die Theologie. Dies gilt selbst unter den Umständen, dass sie sich in besonderer Weise der Auf- und Umarbeitung zum Thema ‚Liebe‘ gewidmet hat.
Dass sich ihr ganzes Werk um die Inszenierung der Liebe dreht, sticht mit einer Vehemenz hervor, die schlicht beeindruckt. Leise Zwischentöne, die emotionale Komplexität oder Unbestimmtheit oder Uneindeutigkeit anzeigen würden, sind kein Charakteristikum ihrer Musik, sondern ihre Musik lebt und speist sich vom emotionalen Exzess: Geliebt, gelitten und geschmachtet wird bis in den Abgrund; und, wie wir seit dem Film ‚Titanic‘ wissen, auch über den Abgrund hinaus. Ihre Musik gleicht einer emotionalen Dampfwalze, so dass Carl Wilson über ihr musikalisches Konzept sagen kann, dass es „metal on estrogen“1 sei. Seine Untersuchung versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Céline Dion derartig für ihre Musik gering geschätzt wird und wie man sie und ihre Musik überhaupt mögen kann. Doch statt sich überhaupt einer virtuellen Objektivität verschreiben zu müssen, stellt Wilson eine gewisse Voreingenommenheit klar zur Schau:
Maybe if hating Céline Dion is wrong, I don’t want to be right.2
Von Geschmack und Geschmacksurteil
Nach seinen intensiven Recherchen, Hörerlebnissen und Konsultation von Pierre Bourdieu, dessen Einsichten in die Konstruktion eines Selbstbildes durch Abgrenzung zu anderen und deren Geschmack kann Wilson erkennen, dass sein eigener Geschmack und sein eigenes Selbstbild aufs Tiefste aneinander gekoppelt sind. Geschmack und Geschmacksurteil sind dabei völlig verschiedene Zugänge zu einem sinnlichen Phänomen wie Musik; während der Geschmack durchweg subjektiv bestimmt ist und nur ein Wohlgefallen gegenüber dem entsprechenden Phänomen anzeigt, möchte Immanuel Kant ein Geschmacksurteil als ‚interesselos‘ bestimmt wissen, um dadurch eine Allgemeingültigkeit des Schönen feststellen zu können, durch das sich die Menschen im Erfahren des Schönen (durch einen allgemeingültigen Gemeinsinn) verbunden fühlen und auch postulatorisch geeint sind.3
Nehmen wir also Abstand von unseren subjektiven Erfahrungen und interessegeleiteten Geschmäckern, wäre es postulatorisch möglich, zum gleichen Urteil über das Schöne zu gelangen. Da aber Raum und Zeit notwendige Bedingungen der menschlichen Erfahrung sind,4 ist dem Menschen ein solches Urteil im strengen Sinn nicht möglich. Unsere Urteile und (Geschmacks-)Erfahrungen sind untrennbar an Raum und Zeit gebunden. Anderenfalls wären wir keine Menschen, sondern hätten die Urteilsmöglichkeiten von Engeln im scholastischen bzw. neuzeitlichen Verständnis.5
Der Mensch entscheidet im Regelfall aber nicht interesselos, sondern ist in seinem Urteilsprozess vielmehr interessegeleitet. Statt sich objektiven Kriterien zu verpflichten, ist der Mensch geneigt, sein persönliches Wohlergehen in den Mittelpunkt zu stellen und danach zu entscheiden. Theologisch ausgedrückt können in ihm eine Neigung (inclinatio) zur Selbstverabsolutierung als Neigung zur Sünde festgestellt werden.6
Der tiefere Grund für Abneigung
Kommen wir aber auf Céline Dion zurück und auf die Frage, warum die Abneigung ihr und ihrer Musik gegenüber derart vehement ausfällt. Versuchen wir es mit einer Herleitung: Ihre Musik ist thematisch eher einseitig ausgerichtet und bildet auch nur einen Minimalausschnitt einer emotionalen Bandbreite ab – oder will man es überspitzt formulieren: Ihre Musik ist unterkomplex. Doch was hat dies mit den Menschen zu tun, die ihre Musik nicht hören wollen und damit auch nicht hören? Nun kommt dazu, dass niemand gerne (als Einzelner) als dumm, ungebildet und empfänglich für billige Emotionen erscheinen oder erachtet werden will. (Dies trifft natürlich auch nicht automatisch auf den einzelnen Hörer ihrer Musik zu und spricht vielmehr Bände darüber, wie sich die Nichthörer*innen ihrer Musik selbst gerne sehen wollen.) Deuten wir das Ganze eher in folgende Richtung: Die Ablehnung (vermeintlich) stumpfer Musik stärkt das eigene Selbstbild als intelligent, intellektuell und vor allem als geschmacklich gebildet. Fragt man nun nach dem Geschlechterbild, welches sich hinter einem solchen Urteil verbirgt, erhält man eine mögliche, aber gleichermaßen verstörend einsichtige Antwort:
Sentimentality is a womanish — and at the end of the day, a sluttish — attitude: indulgent, cheap, shallow, self-absorbed, excessive. Sentimentality is depicted as destructive of the finer and more noble aspects of the self. […] Sentimentality is a femme fatale, only she wields a contagion rather than a gun. Masquerading as an innocent, and working on the inside, it is the undoing of the rational self.7
Eine solch ‘weibische’ Gefühlsduselei soll nach Knight erst gar nicht zugelassen werden, weil die Moralität nur eine Liaison mit der Vernunft und damit mit der Gefühlskälte eingehen kann. Eine Verknüpfung von Moralität und Gefühlstiefe scheint vielmehr ausgeschlossen, weil Gefühlstiefe mit vorschnellen Urteilen und einer anstrengungslosen Vereinfachung in Passivität assoziiert wird.8 Statt zu tiefer Einsicht als ästhetische Erfahrung zu führen, nimmt die Sentimentalität die Abkürzung und verhindert damit die rationale Arbeit am Phänomen, was auf Dauer zur Abstumpfung führe:
sentimentality desensitizes: it transforms the aesthetic into the anesthetic.9
Ich will hier keinem verkürzenden und im Endeffekt vernunftbefreiten Schmachten das Wort reden – vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Es soll nun um die Meta-Ebene gehen. Es soll darum gehen, was passiert, wenn Sentimentalität schon im Vorfeld ausgeschlossen und nicht zugelassen wird, wenn das konstruierte Bild einer kalten Vernünftigkeit dazu führt, dass bestimmte Phänomene gar nicht erst in den Blick geraten können und die vermeintliche Vernunft zum Türhüter für die Realität wird. Es stellt sich hier die Frage nach der ästhetischen Haltung, mit der man einem Phänomen begegnet, denn Ästhetik weist sich etymologisch erstmal als (rezeptive) Grundhaltung gegenüber etwas Erfahrenem aus:
Was ist denn ‚wahrnehmen‘? Etwas-als-wahr-nehmen: Ja sagen zu Etwas.10
Scham als Paradigma der Selbsterfahrung
Kommen wir wieder auf Dion zurück: Wilson beschreibt seine eigene Auseinandersetzung mit Dions Musik als tiefgreifend von Scham durchzogen. Es ist nicht ihre Musik an sich, die zur Herausforderung für ihn wird. Viel stärker nagt an ihm die mögliche Wahrnehmung seiner Person und seines persönlichen Geschmacks von außen, denn er lebt in einer derart hellhörigen Wohnung, bei der klar ist, dass seine Nachbarn mitbekommen werden, wann, wie oft und wie laut er jene Musik hört. Diese mögliche Außenbetrachtung wirft ihn selbst auf sein eigenes Selbstbild zurück und bringt die Frage der Scham aufs Tableau:
Shame has a way of throwing you back upon your own existence, on the unbearable truth that you are identical with you, that you are your limits. Which immediately makes the self feel incomplete, unjustified, a chasm of lack. It’s the reverse of the sense of self-extension that having likes and dislikes usually provides.It is humbling.11
Scham wirft die eigene Person zurück auf ihre Unzulänglichkeiten und verdrängten bzw. unthematisierten Makel. Sie hat ein bloßstellendes Moment, indem sie das Trauma der eigenen Geworfenheit (im Sinne Heideggers) anzeigt und damit die Unmöglichkeit zur eigenen Souveränität präsent werden lässt. Um auf einen Weg der Psychoanalyse nach Jacques Lacan zu verweisen, sei mit ihm gesagt, dass ein Phantasma (z.B. des guten Geschmacks oder der eigenen Souveränität) durchquert werden müsse, um es zu verwinden.12 Das heißt, dass die eigene Geworfenheit, Unperfektheit und auch der eigene Geschmack nicht überwunden werden, aber in einem aufgearbeiteten Verhältnis zum eigenen Selbstbild stehen und dieses Selbstbild nicht von vornherein Erfahrungen ausschließt, weil sie dem eigenen imaginären Selbstverständnis zuwider sind.
Die Scham eines früheren Christenverfolgers
Der Sprung in die Theologie scheint auf den ersten Blick nicht als offensichtlich, dennoch glaube ich, dass uns Paulus in Sachen Scham ein exzellentes Beispiel geben kann: Wenn er von sich selbst als „Missgeburt“ spricht (1 Kor 15,8), sollte dies keineswegs als Koketterie oder literarischer Topos beiseite gestellt werden. Das Format des Briefs erlaubt es Paulus, sich an eine ihm gut bekannte Gemeinde zu werden und gegenüber einer Gemeinde mit eigenen Unzulänglichkeiten seine eigenen Makel therapeutisch in den Raum zu stellen. Im darauffolgenden Brief an die gleiche Gemeinde kann Paulus seine Makel in ein geordnetes Verhältnis zu seinem Selbstbild und zum Herren bringen, indem er nicht sich selbst vervollkommnen muss und sich auch nicht für seine Scham schämen muss, weil er von anderer Seite in Schwachheit und trotz Schwachheit sich bereits getragen wissen kann:
Er [Christus] antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. (2 Kor 12,9f.)
Scham kann daher eine sehr klärende Perspektive auf das eigene Selbstbild mit sich bringen und, sobald sie zugelassen wird, auch zu einer neuen Freiheit im Handeln führen, die jenseits einer Leistungsfokussierung steht (wenn man sich vom Herrn unbedingt getragen weiß). Eine Freiheit, die so weit gehen kann, die eigene Liebe zu Céline Dion öffentlich zu machen. So weit würde ich persönlich nicht gehen. Mein Musikgeschmack ist dann doch anders.
Hashtag der Woche: #ThePowerOfLove
(Beitragsbild @alexagorn)
1 Carl Wilson: Let’s Talk About Love. A journey to the end of taste (33⅓; 52). New York/London 2007, S. 68. Ich verdanke dem Buch den gesamten Anstoß zu diesem Artikel, deshalb kann ich auch die gesamte Lektüre des Buches empfehlen, weil es unfassbar lustig und einsichtig ist. Vielen Dank an Adam Kotsko für die Empfehlung.
2 Wilson, Let’s Talk, S. 21.
3 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. V. Darmstadt 72011, S. 388-392 (B155-162, A153-160).
4 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. II. Darmstadt 72011, S. 71 (A 22-23, B 37).
5 Vgl. Adam Kotsko: Prince of this world. Stanford 2017, S. 125. 133-137.
6 Vgl. DH 1515.
7 Deborah Knight: Why We Enjoy Condemning Sentimentality. A Meta-Aesthetic Perspective, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism (54/4; 1999), S. 411-420; hier: S. 418.
8 Vgl. Knight, Why We Enjoy, S. 417.
9 Knight, Why We Enjoy, S. 417.
10 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. 1884-1885 (KSA; 11). München 1999, S. 464 (34 [132]).
11 Wilson, Let’s Talk, S. 150.
12 Vgl. Jacques Lacan: Namen-des-Vaters. Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek (Lacans Paradoxa). Wien 2013, S. 34f.Vgl. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Gilma, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heiden. Frankfurt 2001, S. 363-369.