Der Brand in Notre Dame macht Menschen weltweit fassungslos. Christoph Koller hat eine Zeit lang in Paris gelebt. Er erklärt die Bedeutung der Kirche für die Stadt und die Symbolkraft des brennenden Gotteshauses für den französischen Katholizismus.

Die Bilder sind jetzt schon ikonisch: Notre Dame brennt! Die gotische Kathedrale, Wahrzeichen der französischen Hauptstadt, steht in Flammen. Der mittelalterliche, hölzerne Dachstuhl lodert hell in den Abendhimmel, Rauchsäulen steigen auf, die Fensterrosetten erglühen gespenstisch im Feuerschein, der neugotische Dachreiter wird von den Flammen förmlich aufgefressen und stürzt schließlich krachend in sich zusammen.

Es ist nicht nur eine Kirche, die hier vor den Augen der schockierten Stadtbevölkerung und von Tausenden Besucher*innen aus aller Welt verbrennt, sondern ein Monument im wahrsten Sinne des Wortes: Der Brand trifft das Herz der französischen katholischen Kirche, die aufgerieben wird zwischen den Herausforderungen einer pluralistisch-laizistischen Gesellschaft und den Lasten ihrer Vergangenheit. Er trifft aber auch die Mitte eines zutiefst gespaltenen Landes, eine Nation, die nicht nur mit den Schwierigkeiten von Immigration und Integration kämpft, die seit dem Jahr 2015 den islamistischen Terror inmitten ihrer Hauptstadt weiß und die in gesellschaftlichen und politischen Spannungen lebt, für die die im vergangenen Jahr ausgebrochenen, zum Teil sehr gewalttätigen Proteste der Gelbwesten-Bewegung nur eine Art des Ausdrucks sind. All das manifestiert sich im Bild der brennenden Kathedrale, die nicht nur metaphorisch im Mittelpunkt von Paris und damit des ganzen Landes steht: Auf dem Platz direkt vor ihrer Fassade befindet sich der Nullpunkt, Berechnungsgrundlage des französischen Straßennetzes.

Die „größten Erzeugnisse der Baukunst (sind) weniger die Werke einzelner, als vielmehr solche der Gesellschaft“

Der Schriftsteller Victor Hugo veröffentlichte 1831 seinen Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ – für die heutige Generation Disney-Film ein lustiges Geschichtchen um den buckligen Quasimodo und seine exotische Freundin Esmeralda – in Wirklichkeit aber ein epochaler Roman über das Leben im Paris des ausgehenden Spätmittelalters. Im Zentrum der Handlung stehen dabei nicht einzelne Figuren, sondern ein Gebäude, die Kathedrale selbst. So heißt der Roman folgerichtig im Französischen auch einfach nur Notre Dame de Paris. Darin beschreibt er das Kirchengebäude als gemeinschaftliches Werk der Generationen: So sind die

„größten Erzeugnisse der Baukunst weniger die Werke einzelner, als vielmehr solche der Gesellschaft […]. Jede Zeitwoge deckt ihre Anspülung darüber, jede Generation legt ihre Schicht auf das Denkmal, jeder einzelne trägt seinen Stein herbei. Wie es die Biber, die Bienen machen, so machen es auch die Menschen.“1

Schon zu Zeiten Victor Hugos stand die Kathedrale kurz vor der Zerstörung, allerdings war es damals kein Brand, sondern der Zahn der Zeit, der ihr zu schaffen machte: In schlechtem baulichen Zustand, während der Revolution gar entweiht und als säkularer „Tempel der Vernunft“ zweckentfremdet, war es nicht zuletzt die Popularität des Romans, die zu einer ersten gründlichen Renovierung führten und Notre Dame in besonderer Weise im kulturellen Gedächtnis der Nation verankerte.

Notre Dame, das Herz des französischen Katholizismus

Wer wie ich eine Zeit lang in Paris gelebt und auch das katholische Leben vor Ort beobachtet hat, kommt an Notre Dame nicht vorbei. Doch die Türen des Gotteshauses öffnen sich nicht nur den jährlich etwa 13 Millionen Tourist*innen aus aller Welt, sondern auch dem*der Pariser Durchschnitts-Katholik*in auf der Suche nach Besinnung und Gebet: Die messe internationale, die am Sonntagmittag Gläubige verschiedener Sprachen und Kulturen vereint. Die messe des étudiants mit hunderten Student*innen auf dem Boden der leergeräumten Kathedrale. Das Weihnachtskonzert der Kathedralmusik: Formvollendeter gregorianischer Choral neben zeitgenössischer Orgel-Improvisation, die die Grenzen meiner akustischen Belastbarkeit austestet. Überhaupt, die Orgel: Ein imposantes Instrument, das mit seinen Basspfeifen noch den letzten Stein des gewaltigen Kirchenraums zum Beben bringt. Und, nicht zu vergessen: Die luzide Schönheit der Glasfenster früh an einem Sommermorgen, wenn die Tourist*innen noch in ihren Hotels beim Frühstück sitzen und das Aufsichtspersonal noch ein Lächeln für die Besucher*innen übrig hat. Der Aufstieg auf die Türme, für den man eine geschlagene Stunde in der Warteschlange ausgeharrt hat und der einen dann belohnt mit einem Ausblick auf die ganze Stadt, über die berühmten Wasserspeier hinweg, auf erstaunliche Weise mit den kitschigen Postkartenmotiven übereinstimmend.

Die katholische Tageszeitung La Croix übertreibt nicht, wenn sie am Tag nach der Brandkatastrophe titelt „Le cœur en cendres“: Es ist eben nicht nur der Chor („le choeur“) der Kathedrale, der „in Asche“ liegt, sondern auch das Herz („le coeur“) der katholischen Kirche in Frankreich.

Aber wo steht der französische Katholizismus im Jahr 2019?

Frankreichs Kirche, die sich einst mit dem ruhmreichen Titel der „ältesten Tochter Roms“ schmückte, ist unter den katholischen Nationen Europas in einer besonderen Lage. Auch wenn sich noch immer ein Großteil der Bevölkerung formal zum Katholizismus bekennt, sind die einschlägigen Zahlen der Kirchenstatistik seit Jahren rückläufig: Kirchenbesuch, Priesterweihen, Eintritte in Ordensgemeinschaften, Spenden an die Kirche – gerade der letzte Punkt ist wichtig angesichts der Tatsache, dass die französische Kirche ohne Kirchensteuer eine für westeuropäische Verhältnisse eher arme Kirche ist.

Dennoch blühen einzelne Pfarreien, ziehen durch ein lebendiges katechetisches und karitatives Engagement viele Menschen unterschiedlichen Alters an und begeistern viele Ehrenamtliche zur Mitarbeit. Anderswo aber verödet die kirchliche Landschaft, Pfarreien überaltern und sterben aus, Priester sind für dutzende Dorfkirchen zuständig, weiteres hauptamtliches Personal gibt es quasi nicht. Große Unterschiede von Stadt und Land, von Nord und Süd, von traditionell katholischen und längst nahezu entchristlichten Regionen prägen eine Kirche, deren Gräben nicht nur durch die demographische Verteilung geprägt sind.

Ehe für alle, Missbrauch, Islamismus – Frankreichs Katholizismus im Umbruch

Auch ideologisch bestehen große Differenzen, die zuletzt im Jahr 2013 anlässlich der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe (auf französisch mariage pour tous, „Ehe für alle“ genannt) augenscheinlich wurden. Nicht zuletzt katholische Verbände und die kirchliche Hierarchie mobilisierten hunderttausende Demonstrant*innen, die sich für ein traditionell-katholisches Familienbild einsetzten. Diese letztlich erfolglose manif pour tous (Demo für alle) genannte Gegenbewegung machte den Druck offenbar, unter dem traditionelle katholische Milieus angesichts zeitgenössischer gesellschaftlicher Veränderungen stehen. Denn während zwar einerseits eher konservativ geprägte, entschieden katholische Gruppierungen (wie etwa Pfadfinder*innen oder geistliche Gemeinschaften) florieren, erodiert das, was die breite Mitte, den in weiten Schichten der Bevölkerung verankerten Volkskatholizismus ausmacht.

Das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen und deren Vertuschung, prominent der Fall des Lyoner Kardinals Barbarin, trägt auch dazu bei, dass kirchliche Intuitionen und Hierarchien an Ansehen und Einfluss verlieren. Auch geistliche Gemeinschaften sind in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt.2

Von großer Bedeutung für den französischen Katholizismus ist die Auseinandersetzung mit dem Islam, allein schon durch den großen Anteil muslimischer Bürger*innen in Frankreich. Vor allem dessen gewaltbereite Ausprägungen in Form eines radikalisierten Islamismus beschäftigt die Menschen: Die Ermordung des Priester Jacques Hamel, der im Juli 2016 durch islamistische Täter regelrecht hingerichtet wurde, während er die Messe feierte, hat die katholische Welt nachhaltig geprägt und die Gewissheit einer kulturell-religiösen Vorrangstellung im eigenen Land zumindest emotional in Frage gestellt. Gerade vor einer Woche berichtete die FAZ über gehäufte Fälle von Vandalismus und Brandstiftung in Kirchen, die die Verantwortlichen zunächst nicht öffentlich thematisieren wollten, die aber in ihrer Häufung doch zum Zeichen einer tiefer greifenden Beunruhigung geworden sind.

Mehr als nur eine Kirche: Die Symbolkraft der brennenden Notre Dame

Wenn nun am Abend des 15. April das Dach der Pariser Kathedrale in Flammen steht, dann ist das nicht nur ein Schockmoment für alle kulturbewussten Europäer*innen und für leidenschaftliche Paris-Liebhaber*innen, es ist das ikonographische Fanal einer französischen Zivilgesellschaft, die in den letzten Jahren mehr und mehr ihre Mitte zu verlieren drohte und die diesen Verlust nun im brennenden Kirchendach aufs Drastischste vor Augen geführt bekommt. Es ist auch das Fanal einer französischen Kirche, deren Mauern zwar noch stehen, die aber zunehmend nicht mehr weiß, wie und womit sie diese füllen möchte. Unter dem schützenden Dach der Notre Dame können sich beide, Kirche wie Gesellschaft, nun vorerst nicht mehr versammeln. Doch während der Wiederaufbau des mittelalterlichen Gemäuers in einer geeinten Kraftanstrengung sicherlich rasch und zielstrebig voran gehen wird – die Spendenkampagne startete schon am Tag nach dem Brand – bleibt offen, wann und wie die Spaltungen und die Zerrissenheit in Kirche und Gesellschaft Frankreichs repariert werden können. Denn dazu braucht es mehr als die rund 400 tapferen Feuerwehrleute, die Montagnacht Notre Dame vor der Zerstörung bewahrt haben.

Hashtag: #NotreDame


(Beitragsbild: @PetroLastra )

1 Vicor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame. Auf der Grundlage der Übertragung von Friedrich Bremer am Original überprüft und neu erarbeitet von Michaela Messner, München 2005, S. 155.

2 Siehe dazu die erschütternde arte-Dokumentation „Missbraucht im Namen des Herrn“, leider nicht mehr in der Mediathek online.

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christoph koller

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Kirchenrecht der Universität Freiburg. Dort arbeitet er an einer Dissertation zum Thema Barmherzigkeit und Kirchenrecht.

2 Replies to “Mehr als nur eine Kirche: Notre Dame in Flammen

  1. ‚Si Note-Dame peut disparaître , toute peut disparaître‘, so Catherine Kamelet-Périssol im ‚Le Parisien‘ von heute; weiter: der drohende Untergang der Kathedrale im Herzen der Stadt mache den
    Menschen deutlich, wie zerbrechlich die Basis ihres (zivilisierten) Lebens sei: Eltern, Demokratie, Erde; Für die Pariser*innen ist die aktuelle katholische Kirche also höchstens ein Teilproblem in diesem Drama …Die französische Kirche mag in einer schwierigen Lage sein, Frankreich und seine Hauptstadt sind es sicher auch – das ändert nichts daran, dass das aktuell bedrohte Symbol dieser Stadt für ‚Klarheit und Raffinesse‘ (DIE ZEIT) steht in einer Art und Weise, wie wir es in D kaum finden werden. Klarheit könnte für die Kirche womöglich heißen, dass ihre wirkliche / künftige Stellung in der Gesellschaft heute in F schon besser sichtbar ist als im Kirchensteuer-Land.
    Eine kritische Anmerkung zum Artikel sei dem ehemaligen DPSGler erlaubt: Pfadfinder als Ausbund festgefügt-konservativen Katholizismus findet man in F sicher bei den ’scoutes d’Europe“, der Partner-Organisation der konservativ-reaktionären KPE in D.
    Ordentlich verbandlich im Weltpfadfinderverband und der katholischen Kirche organisiert sind in F die ’scoutes de France‘, in D die DPSG. Schon traurig, dass dieser Unterschied nicht mal an der theologischen Fakultät in Freiburg gemacht wird.
    Ansonsten: ganz herzlichen Dank für den Beitrag,
    Hermann Schwörer, Stellv. Vors. Diöz.Rat Frbg.

  2. Vielen Dank für den Hinweis. In der Tat hatte ich die in den scouts d’Europe organisierten Pfadfindergruppierungen vor Augen, da ich diese in der Öffentlichkeit relativ präsent erlebt habe (z.B. durch gemeinsamen Messbesuch am Sonntag in Kluft, anschließend Aktionen in öffentlichen Parks etc.).
    Dass diese nicht die Gesamtheit der französischen Pfadfinderbewegung darstellen, ist mir durchaus bewusst; die unterschiedliche Ausrichtung der Verbände lese ich als ein Zeichen für die sehr heterogene Ausrichtung und die Spannungen innerhalb des französischen Katholizismus , die ich in meinem Artikel versucht habe aufzuzeigen.

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