Ein Manifest zum Karfreitag 2019 von Marlene Deibl.

Ich klage mich an. Ich klage mich selbst an, weil es sonst niemand mehr tut. Ich klage mich selbst an. Auch dann, wenn Anklagen nicht mehr nötig zu sein scheinen. Wenn es schon egal zu sein scheint, was ich tue oder lasse. Auch dann, wenn ich vielleicht schon verurteilt bin. Ich klage uns alle an! Ich bin ein Mensch meiner Zeit. Ich bin eine Frau meiner Generation. Diese Generation ist eine, die es gelernt hat, alles, was sich im Alltag und im Leben an Herausforderungen stellt, von sich selbst her klarzustellen und zu verändern. Wir denken, wir könnten alles von uns aus leisten. Wir genügen uns immer selbst, weil wir gelernt haben, dass die Ursache für alle Probleme bei uns selbst liegt, wir immer zuerst bei uns ansetzen müssen und individuell Leistungen zu erbringen haben. Doch, wirklich, das ist unser tiefster Glaube. Selbstoptimierung? Selbsterniedrigung? Kann ich beides locker, was zuerst? Und gerade darin handeln wir, als wären wir uns selbst genug. Aber: Katholisch sein heißt, immer etwas falsch zu machen. Das ist gut.

Wir nehmen die Botschaft des Evangeliums nicht ernst, wenn wir uns in dieser Weise selbst genügen. Was das Christentum ausmacht, ist, dass es uns Raum gibt gegenüber dem Gesetz. Jedem Gesetz, gerade auch seinem eigenen Gesetz. Denn: Das Christentum sagt uns nicht einmal, was genau dieses Gesetz ist, an das wir uns nicht halten sollen. Vor diesem Gesetz, das mir nichts sagt, als dass ich es nicht halten werde können, klage ich mich an. Ich klage uns alle an. Wir sind ohnmächtig und wissen es. Aber wir tun so, als ob dieses Wissen reichen würde. Wir tun so, als würde uns die Klarheit angesichts dessen reichen. Und sie reicht uns auch.

Ich klage uns an! Uns alle öden die Forderungen an, die noch die Generationen vor uns gestellt haben. Wir fordern keine Revolutionen mehr und keinen Weltfrieden. Wir wissen eh wie das ausgeht, wenn man wild und gefährlich leben möchte. Oder wenn man in selbst gestrickten Pullovern an Bäumen hängt. Das kann man machen, sagen wir uns. Ändern tut es wenig. Das wissen wir. Das reicht aber nicht.

Ich klage mich an! Ich klage meine Ohnmacht an und meinen geringen Glauben an diese Ohnmacht! Unsere Ohnmacht ist unsere Stärke. Wir müssen eines fordern: Ohnmacht gegenüber der eigenen Ohnmacht! Da wir ohnehin nicht mehr fürchten, wir könnten etwas verlieren, dürfen wir uns auch so verhalten. Wir können handeln, gerade weil wir nicht mehr glauben, damit etwas Bestimmtes ausrichten zu können. Im schlimmsten Fall bestätigt sich das, was wir immer schon zu wissen geglaubt haben. Im besseren Fall werden wir uns selbst widerlegt haben. Darauf hoffe ich. Die Ohnmacht darf uns warnen, aber sie kann uns nicht lähmen. Sie ist unsere Macht.

Wir sind es gewohnt, so zu tun, als ob. Unsere ganze Generation und besonders unsere ganze Generation von Katholik*innen haben das verinnerlicht. Wir arbeiten, so, als ob wir wirkliche eine Chance hätten, gut zu verdienen und unseren Job zu behalten. Wir tun so, als gäbe es Gleichheit zwischen den Geschlechtern, weil die rechtlichen Bestimmungen das weitgehend sinnvoll regeln. Wir konsumieren bewusst und wir gehen wählen, so, als ob wir wirklich denken würden, dadurch sei etwas zu ändern oder gar als wäre dadurch etwas zu bewahren. Wir sind katholisch, so, als ob wir nicht wüssten, wie die katholische Kirche beschaffen ist und als ob wir gar nicht wüssten, dass sie sich in der Geschichte schon stark verändert hat. Schon in den letzten hundert Jahren ist mehr geschehen, als man sich davor erträumen konnte. Aber wir haben keine Träume mehr und Visionen bringen uns nicht einmal mehr zum Arzt. Aber wir dürfen darauf hoffen, dass uns diese Ohnmacht auch stärken kann, wenn wir sie anerkennen. Wir dürfen sogar dafür beten. Sogar gemeinsam. Was wäre unser Gebet, wenn nicht ein Eingestehen und Ausstellen auch unserer Hilflosigkeit? Was wäre unser Lobpreis, wenn nicht unsere Klage ihn stets begleitete?

Wir sind nicht in der Welt, um so zu tun, als seien wir Christ*innen. Wir müssen katholisch sein, so, als ob wir nicht katholisch wären. Uns „die Welt zunutze machen, so, als nutzten wir sie nicht“ (1 Kor 7,31). Wir sind Christ*innen, um so in der Welt zu sein, als seien wir es nicht. Was kann das für uns heißen? Wir müssen uns nicht vor unserer eigenen Ohnmacht fürchten. Sie ist die Chance, die wir sogar noch gegen uns selbst haben, gegen unseren Kleinglauben, gegen unsere Hoffnungslosigkeiten. Wenn uns Christ*in-Sein etwas bedeutet, wenn wir wirklich der christlichen Lehre dienen wollen, dann müssen wir ein größeres Risiko eingehen, als, möglichst auch uns selbst überzeugend, so zu tun, als wären wir katholisch. Gemeinsam. Wenn wir denken, dass die Kirche etwas wert ist, müssen wir ihr den Dienst erweisen, auch offen Widerspruch einzulegen. Auf unserer Schwäche zu bestehen. Wenn wir auf die Zukunft hoffen, müssen wir uns selbst glauben. An unsere Ohnmacht. Diese Ohnmacht anzunehmen ist unsere Form der Stellvertretung. Die Stelle, die wir vertreten müssen, ist immer unsere eigene, aber so, als wäre sie es nicht. Das ist Stellvertretung Christi. Das ist die Stärke, die wir haben. Nicht so als ob, sondern so als ob nicht. Die Zeit ist kurz.

Die Autorin dankt Anna Maria Kontriner. Dieser Text ist im gemeinsamen Gespräch entstanden.


(Beitragsbild: pixabay 445693)

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marlene deibl

arbeitet als Prae-doc-Assistentin am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie studierte in Wien und Tübingen Philosophie und Südasienkunde, kann schneller sprechen als denken, schießt aber wesentlich langsamer als ihr Schatten. Ihre weiteren Interessensgebiete sind Wissenschaftstheorie, Parfümgeschichte und Bier.

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